Pianist Herbert Schuch im Gespräch mit klassik.com
"„Bei der großen Musik ist es eine Frage auf Leben und Tod.“"
Im Esszimmer des Hauses, in dem Herbert Schuch zusammen mit seiner Frau Gülru Ensari und der gemeinsamen Tochter lebt, steht ein großer, hölzerner Esstisch. Von den vielen Besuchern, die mit der Familie bereits an diesem Tisch gesessen haben, zeugen die mit dickem Edding auf der Tischplatte hinterlassenen Unterschriften. An diesem Tisch entstand auch das Interview, in dem Herbert Schuch über seine aktuelle CD „Soulmates“ spricht, die beim Label Avi music herausgekommen ist. Auf ihr kombiniert der Pianist Franz Schuberts „Impromptus“ und seine „Moments Musicaux“ mit einer Auswahl aus Leoš Janáčeks Klavierstücken „Auf verwachsenem Pfade“. Ein Gespräch über Schubert und Janáček, aber auch über das Verhältnis zu den eigenen Aufnahmen, Kollegen, Erwartungshaltungen und falsche Noten.
Herbert Schuch, auf Ihrer CD „Soulmates“ lassen Sie Musik von Franz Schubert und Leoš Janáček einen Dialog führen. András Schiff hat es vorgemacht.
Ja, erst kürzlich. Aber ich habe auch schon vor sieben oder acht Jahren einen kompletten Zyklus mit Werken von Schubert und Janáček gespielt. Damals wurde ich gefragt, ob ich nicht eine zyklische Idee zu einem Komponisten hätte. Mir war klar, dass es Schubert sein müsse, denn seine Musik spielt für mich eine zentrale Rolle. Ich wollte aber nicht einen Komponisten alleine präsentieren. Ich finde es spannend, Musik in andere Kontexte zu stellen. Für mich hat sich herauskristallisiert, dass sich beim Publikum – und ich nehme mich da nicht heraus – ansonsten sehr leicht eine Erwartungshaltung einstellt, die einfach nur bestätigt werden will. Wenn man diese ein wenig aufbricht und manches offen lässt, wenn man gewissermaßen aus der Komfortzone herausgeholt wird, dann ist man als Zuhörer viel wacher. Wenn so ein Programm ohne Pause gespielt wird, verschwimmt idealerweise auch die Wahrnehmung, wo man sich gerade befindet. Dann muss man sich bewusster vergegenwärtigen, was gerade passiert. Ich mag das.
Janáček wurde über ein Vierteljahrhundert nach Schubert geboren und starb ein Jahrhundert nach ihm. Was haben die beiden für Sie gemein?
Mich hat interessiert, dass beide Komponisten mit diesen Werken nach draußen gehen. Es ist Musik, die nicht am Schreibtisch entworfen wurde, sondern in Bewegung ist. In dieser Bewegung lassen sich die beiden Komponisten von ihren Emotionen und Wahrnehmungen in der Natur treiben. Beiden gemein ist auch, dass diese Schilderung der Natur sich dreht und zur Seelenschau wird, zum Spiegel.
Bei Janáčeks Zyklus, der ursprünglich aus fünf Stücken für Harmonium bestand, begibt sich der Komponist auch in die Natur, um den Tod seiner Tochter zu verarbeiten.
Und bei Schubert ist die Natur gewissermaßen immer präsent. Als Pianist ist einem das übrigens nicht unbedingt bewusst, bevor man nicht anfängt, sich mit Schuberts Liedern auseinanderzusetzen, den Komponisten wirklich kennenzulernen und zu merken, wie dieses Unterwegssein seine Kunst prägt.
Der Topos des Wanderers...
Exakt. Da gibt es in seiner Kunst etwas, was ihn immer umtreibt. Sobald man das begreift, versteht man vieles anders. Natürlich gibt es in der Klaviermusik keinen Text. Das Interessante ist jedoch, dass Schubert und Janáček sich beide in besonderer Weise mit dem Thema Sprache auseinandersetzen.
Schubert als Liederkomponist, Janáček insbesondere in seinen Opern, die den Tonfall, den Klang des Tschechischen in Musik übertragen.
Dieser sprachliche Aspekt macht die Auseinandersetzung mit der Klaviermusik der beiden so spannend. Da muss man sich überlegen, wie sehr man mit dem Klavier sprechen oder singen möchte, wobei man natürlich weiterhin Pianist bleibt.
Die menschliche Stimme war lange das Ideal jeder instrumentalen Interpretation.
Das stimmt. Bei Schubert stellt sich aber die Frage, was für ein Singen das eigentlich ist. Es ist eher nicht das opernhafte Singen, sondern das liedhafte Singen mit sehr viel Text. Für mich ist das ein wichtiger Zugang. Ich versuche gewissermaßen ein Liedsänger zu sein, der sich selbst auf dem Klavier begleitet – vielleicht eine etwas schizophrene Idee, aber man muss bei Schubert am Klavier eben auch mal Streichquartett sein oder orchestral denken.
Bei Schubert gehen Sie also klanglich über die Ebene des Klaviers hinaus.
Das muss man! Vielleicht hat Schubert ja auch gerade keinen guten Text zur Hand gehabt, als er die Stücke komponiert hat und sich gedacht: Ich mache es mal so. Ich finde es spannend, mir zu der Musik einen Text zu überlegen und mir vorzustellen, was die Geschichte dahinter sein könnte. Das verändert auch den Ansatz.
Wie sieht es in dieser Hinsicht bei Janáček aus?
Da ist es letztlich ähnlich. Wenn ich mir ihre Musik ansehe, kann ich mir vorstellen, dass sich die beiden Komponisten gut verstanden hätten. Dabei geht es auch um Bauchgefühl. Ich muss das Gefühl haben, dass es funktionieren könnte, dass es stimmungsvoll wäre. Ich möchte, dass man beim Hören etwas fühlt oder versteht, was sich vielleicht gar nicht in Worte fassen lässt. Wenn ich merke, dass ich im Konzertsaal eine besondere Aufmerksamkeit bekomme, dass es still wird, wenn ich danach auch Reaktionen erhalte, die mir verdeutlichen, dass ich dem einen oder anderen etwas ohne Worte aufgeschlüsselt habe, dann bin ich schon zufrieden.
Musik drückt also das aus, was Worte nicht sagen können?
Da wären wir wieder beim nicht vorhandenen Text! Vielleicht ist es ja so, dass man den Text gar nicht braucht, wenn man so spielt, dass man es gut versteht.
Versuchen wir es trotzdem etwas konkreter: Was sprechen Schubert und Janáček in den von Ihnen ausgesuchten Werken ohne Worte an?
Vielleicht kann man es am besten als die Position des Beobachters beschreiben. Bei Schuberts „Moments musicaux“ finde ich das vierte Stück in cis-Moll sehr interessant. Da erklingt im Mittelteil auf einmal ein Tanz, der ganz offensichtlich nicht in der Nähe stattfindet, sondern wie von Ferne heranweht. Da hat man das Gefühl, das ist der Ort, an dem Schubert gerne wäre. Er gehört aber nicht dazu. Dieses Außenseitertum schwingt bei Schubert immer mit. Wenn ich mir im Gegenzug dazu ansehe, wie Janáček für das Klavier komponiert hat, dann wirkt das fast ein wenig unbeholfen, insbesondere wenn man sich überlegt, was es vorher schon alles an Musik gab. Im 19. Jahrhundert findet ja geradezu eine virtuose Explosion statt – nicht nur mit Liszt. Und demgegenüber stehen dann diese kargen Kompositionen, die aus ganz wenig Material bestehen und einen förmlich auf die Essenz zurückwerfen.
Woher kommt das?
Da kann ich nur spekulieren. Ich könnte mir vorstellen, dass er einfach nicht so ein guter Pianist war. Diese Reduktion hat aber auch Vorteile, weil sie dafür geschmacklich intensiver ist. In jedem Fall steht Janáček in der Geschichte der Klaviermusik ein wenig am Rand. Er war für seine Zeit ja auch sehr progressiv. Da bricht etwas durch, das einen fragen lässt, was eigentlich gerade passiert. Es gibt diese Melodienseligkeit noch, es kündet sich aber etwas Neues an.
Hören Sie sich Ihre eigenen Aufnahmen eigentlich an?
Hin und wieder. Es ist immer gut, ab und zu mal in den Rückspiegel zu schauen und zu sehen, wie man einmal geklungen hat. Bisweilen entwickelt man sich unwillkürlich in eine Richtung, ohne es zu merken. Das passiert vor allem, wenn man ständig unterwegs ist, spielt und nicht die Zeit hat, zur Ruhe zu kommen und zu reflektieren. Ich finde es auch interessant darüber nachzudenken, wie ich Dinge früher einmal gesehen habe und wie ich jetzt dazu stehe. Daraus kann dann eine Spannung entstehen, die mich weiterbringt. Da komme ich auch oft an den Punkt, wo ich sagen kann: Schön, dass diese Musik nicht mit 25 Jahren vollgültig dargestellt werden kann.
Das klingt nach Selbstkritik.
Definitiv. Ich bin eher ein kritischer Zeitgenosse, sowohl in Bezug auf das, was ich von anderen höre, als auch in Bezug auf meine eigenen Aufnahmen.
Haben Sie, wenn Sie eine Ihrer CDs anhören, auch mal schlechte Laune?
Manchmal ja (lacht). Aber das ist auch wichtig. Alles gut zu finden, ist zu einfach.
Es hilft zumindest nicht dabei, zu erkennen, was wirklich gut ist. Apropos: Gibt es Pianisten, die Ihnen etwas zu sagen haben?
Ich habe im Mai zum ersten Mal Lars Vogt live gehört, es war eines seiner letzten Konzerte, was zu dem Zeitpunkt keiner ahnen konnte…
Lars Vogt war wie Sie ein Schüler Karl-Heinz Kämmerlings.
Ja, genau! Er war ein Stückchen älter als ich und ich hatte ihn bislang noch nie gehört. Ich fand sein Konzert wirklich bemerkenswert. Er hat starke Prioritäten in seinem Spiel gesetzt und ist ein großes Risiko eingegangen, sodass er mit großer Klarheit zum Ausdruck gebracht hat, was er eigentlich sagen wollte. Das hat für mich großen Seltenheitswert. Es ist heute eher die Norm, dass alles sehr perfektionistisch gemacht wird.
Und zu glatt? Woher kommt diese Norm, hat sie mit den oft makellos im Studio aufpolierten Aufnahmen zu tun?
Das kann schon sein. Bei Aufnahmen kann man jede winzigste Kleinigkeit noch korrigieren. Auch mir fällt es beim Aufnahmeprozess manchmal schwer, die eine oder andere Stelle so zu belassen, wie sie ist. Man denkt dann: Vielleicht könnte ich doch noch eine etwas bessere oder perfektere Version finden. Aber ich versuche mich mittlerweile da zurückzuhalten und sage mir, dass es wichtiger ist, Material zu finden, das vielleicht nicht ganz perfekt, dafür aber in seiner Aussage eindeutiger ist. Auch bei meinen alten Aufnahmen interessiert mich die Perfektion eigentlich gar nicht. Natürlich ist es immer nett, wenn man Perfektion erreicht. Aber im Studio kann man letztlich alles mit einer Aufnahme machen.
Worauf kommt es Ihnen stattdessen bei Aufnahmen an?
Ich habe mir vor Kurzem meinen „Carnaval“ angehört, den ich 2010 zum Schumann-Jahr aufgenommen hatte. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie sehr ich mich in die Details der Musik eingearbeitet und wie ich genauestens überlegt hatte, wie ich die einzelnen Stücke charakterisieren wollte. Das würde ich heute ganz anders machen! Da müsste mehr Commedia dell’arte, mehr Stand-up-Comedy hörbar werden. Man muss bei diesen Stücken viel direkter dahin, wo die Musik eigentlich herkommt. Aber um das zu verstehen, muss man eben als Pianist auch ein wenig älter sein. Man muss eine Idee entwickelt haben, ob diese oder jene Passage jetzt pianistisch, instrumental oder vokal gemeint ist. Diese Fragen stellen sich einem leider meistens erst, wenn man mit dem Studium fertig ist.
Welche Quellen ziehen Sie zurate, wenn Sie sich mit einem Werk auseinandersetzen?
Ich gehe erst einmal vom Notentext aus, weil der schon unglaublich reichhaltig ist. Mit der Zeit merkt man, wie sich das Textlesen verändert, dass einem Dinge darin auffallen, auf die man früher nicht gekommen wäre. Es ist erstaunlich zu sehen, wie oberflächlich man den Text zu Anfang oft liest. Vielleicht sage ich das auch als eine kleine Spitze gegen die Lehrer, die einen nicht unbedingt darauf aufmerksam machen, denn das gehört dazu. Und dann gibt es solche Leute wie Brendel, die sich ein halbes Jahrhundert mit dem Text auseinandergesetzt und immer wieder versucht haben, darin einen Sinn zu finden.
Alfred Brendel wäre also ein weiterer Pianist, der für Sie etwas aussagt.
Seine Aufnahmen sind schon großartig, weil man sie teilweise beim ersten Hören gar nicht versteht. Erst beim zweiten, dritten Mal geht es los, wenn man wie ein Archäologe die Oberschicht abgetragen hat. Brendels Mehrdimensionalität erinnert an Pablo Picasso, der versucht hat, Gesichter aus drei Perspektiven gleichzeitig zu zeigen. Da denkt man sich am Anfang ja auch: Muss das sein? Aber dann versteht man es. Brendel geht ähnlich vor. Er sucht nicht den billigen Effekt durch zu große Eindeutigkeit.
Was bedeutet zu große Eindeutigkeit für Sie?
Wenn jemand am allerschnellsten spielt, die Akzente am allerlautesten und allerbohrendsten spielt, dann muss das in den Augen vieler ganz großartig sein. Wir sind in der Hinsicht oberflächlich, reagieren auf Reize und brauchen immer wieder neue Reize. Ich schließe mich da durchaus mit ein. Nehmen wir als Beispiel Beethoven. Aber bei Beethoven sind das doch nicht die entscheidenden Dinge der Interpretation. Denn er ist ein Komponist, der wie kein anderer in seiner Musik sagt: Okay, ich habe hier zwei komplett unterschiedliche Ideen und Themen in einem Satz. Passt überhaupt nicht, ich bringe es aber zusammen! Und dann sehen wir, wie von Takt zu Takt dieser Widerspruch bearbeitet und in eine Einheit gebracht wird. Das erfahrbar zu machen, das habe ich bei ganz wenigen Musikern live erlebt. Brendel ist einer, bei dem ich es erlebt habe.
Und Lars Vogt?
Ich fand es toll, wie Lars bei dem Konzert auf Teufel komm raus in das Innerste des Stücks vordringen wollte, mit klarer Zielsetzung – und das, was links und rechts dabei passiert, passiert halt!
Das heißt, es kann auch eine falsche Note geben…
Ja, und mich stört das überhaupt nicht. Ich weiß auch nicht, warum wir uns diesen Druck machen, während wahrscheinlich die wenigsten Leute im Publikum jede falsche Note bemerken. Es geht doch um etwas anderes als um korrekte Noten.
Worum geht es?
Wenn ich selbst im Konzert sitze, versuche ich offen zu sein und keine Erwartungen zu stellen. Wenn ich dann aber nicht mitgenommen werde und sich der Sinn der Musik für mich nicht erschließt, dann fällt es mir sehr schwer, etwas Gutes oder Interessantes zu finden. Für mich ist das schon eindeutig: ja oder nein, hopp oder top. Manchmal habe ich das Gefühl, Menschen meinen, eine musikalische Interpretation sei ein Glasperlenspiel. Der eine macht es so, der andere so und alles hat seine Berechtigung. Das Gefühl habe ich nicht. Gerade bei der großen Musik, mit der wir uns beschäftigen, ist es schon eine Frage auf Leben und Tod.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(01/2023)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Portrait

"Auf der Klarinette den Sänger spielen, das ist einfach cool!"
Der Klarinettist Nicolai Pfeffer im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen