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Sonntag, 2. April 2023

Der große Schatten des John Neschling

Brasilianer verehren Klassik nicht, sie lieben sie!


Menschen in Ekstase - feuchte Augen, rhythmisches Klatschen, stehende Ovationen - geradezu südamerikanische Ausgelassenheit. So das Bild, das sich den Musikern des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo nach ihrem Konzert in der proppevollen Kölner Philharmonie Ende März bot. Dabei wussten die Besucher zu Beginn des Abends nicht so recht, was sie erwarten würde. Kaum einer der Gäste dürfte zuvor ein Sinfonieorchester aus Brasilien live gehört haben. Nun werden viele auf Wiederholung dieses Erlebnisses hoffen. Lateinamerikas Vorzeigeklangkörper befand sich jüngst auf Europa-Tournee durch sechzehn Musikmetropolen und die Reaktionen fielen an jedem Abend identisch aus. Der künstlerische Leiter des Orchesters John Neschling traf sich mit den klassik.com Redakteuren Miguel Cabruja und Felix Hilse im Anschluss an das Konzert und betrieb notwendige, höchst spannende Aufklärungsarbeit über seinen persönlichen Werdegang, das brasilianische Musikleben und das Potential südamerikanischer Musik.

Herr Neschling, lassen Sie uns mit einem aus unserer Sicht kleinem Kuriosum beginnen: Sie sind künstlerischer Leiter des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo, dem wohl besten Orchester Lateinamerikas und nehmen seit langem CDs für das schwedische Label BIS auf. Die lokalen Gegensätze könnten größer wohl kaum sein. Ist die Zusammenarbeit trotzdem erfolgreich für beide Seiten?

Bis jetzt absolut. Wir arbeiten sehr gut mit BIS zusammen und haben sehr viel aufnehmen dürfen. Alle Bachianas von Villa-Lobos, die Sinfonien von Guarnieri, eine Platte mit einer einaktigen Oper und einer Tondichtung von Francisco Braga, 2 Sinfonien von Santoro, eine Platte mit Musik von Francisco Mignone und eine ganze Reihe von Begleitplatten mit Solisten wie Sharon Bezaly, Christian Lindberg oder Vadim Gutman. Jetzt steht ein neues Projekt mit jüdischer Musik ins Haus: Arnold Schönbergs ‚Kol nidre’, Ernest Blochs ‚Baal schem’, Leonard Bernsteins ‚Halil’ und das ‚Requiem Ebraico’ von Erich Zeisel. Es folgen weitere Produktionen brasilianischer Musik, aber auch Aufnahmen der sinfonischen Werke Ottorino Respighis, und der komplette Hindemith - das ist einer meiner Lieblingskomponisten. Ich bin ganz großer Hindemith Fan.

Und ein solches Repertoire weckt das Interesse der Klassikfreunde in aller Welt?

Wir haben einfach großen Erfolg mit den Platten. Obwohl es ja scheinbar unbekanntes Repertoire ist, verkauft es sich fantastisch. Auch in Brasilien selbst haben wir ein Label, mit dem wir Aufnahmen machen. Bis zur Zusammenarbeit mit uns haben die damals nur Popmusik produziert. Meist sind das dann live-Mitschnitte, primär vom klassischen Repertoire, also Sinfonien von Beethoven, Brahms, Tschaikowski. Wir machen diese Produktionen ja für unser Publikum in Brasilien, da steht das nicht, brasilianische Musik also, im Mittelpunkt.

Das wirkt ein wenig so, als wenn Sie im Bereich der Klassischen Musik in Brasilien noch Pionierarbeit leisten können und ganz am Anfang beginnen durften.

Es liegt dem Orchester viel daran, dass die Menschen uns hören können. Auf CDs ebenso wie live bei Konzerten. Wir reisen sehr viel, machen jetzt gerade unsere zweite große Europa-Tournee, eine dritte ist bereits in Planung. Wir waren zweimal in den USA, im nächsten Jahr geht es nach Fernost. Wenn Sie mich nach dem CD-Markt in Brasilien fragen, dann müsste man sagen, dass es ihn nicht gibt - außer eben für uns. Wir sind das beste Orchester in Lateinamerika, wir haben einen großen Namen dort und die Menschen wollen uns hören. Wir sind ein reisendes Orchester und haben uns so ein Publikum selbst erschaffen, das unsere CDs kaufen möchte.

Diese exponierte Stellung des Ensembles hat zweifellos viel mit der Person John Neschling zu tun. Ihre Eltern stammen aus Österreich und flohen 1938 vor den Nazis. Sie selbst wurden in Brasilien geboren…

... ich bin zufälligerweise in Brasilien geboren worden, weil meine Eltern gerade nach Brasilien auswandern konnten. Meine Eltern haben in Wien geheiratet, das heißt, ich wäre eigentlich in Wien auf die Welt gekommen. Das war im August 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Sie hatten einfach das Glück, überhaupt noch auswandern zu können. Ich hätte ebenso gut in Bolivien oder Australien zur Welt kommen können. Unsere ganze Familie war sehr künstlerisch geprägt - nicht nur Musik, auch Bildende Kunst, Malerei, Literatur…

... Sie sind der Großneffe von Arnold Schönberg und von Artur Bodansky…

Richtig, übrigens von beiden Bodanskys: Artur und Robert. Ersterer war ein berühmter Geiger und Dirigent, und der zweite ein nicht minder bekannter Librettist und Regisseur. Meine Mutter ist die Tochter von Robert Bodansky, die Nichte von Arnold Schönberg und die Nichte von Artur Bodansky. Der eine Onkel war also Dirigent, der andere Maler und der dritte war Rabbiner. Mein beruflicher Werdegang scheint da wohl etwas vorherbestimmt. (lacht herzlich) Ich bin so also auf einem natürlichen Weg zur Musik gekommen. In Brasilien habe ich zuerst Unterricht bei einem Lehrer gehabt, im Übrigen auch einem Immigranten, dem Sohn des Schriftstellers Jacob Wassermann. Er selbst hatte bei Heinrich Schenker in Wien studiert und ich lernte bei ihm. In gewisser Weise bin ich also ein Schenkerischer Schüler - und das mitten in Rio de Janeiro. Erst später bin ich zurück nach Wien und habe dort meine Studien fortgesetzt bei Hans Swarowski und Bruno Maderna.

Copyright Joao Musa

Hatten Sie bei Maderna auch Kompositionsunterricht?

Nein, nur Dirigieren. Komposition leider nicht. Aber die Dirigierstudien bei Bruno Maderna und auch bei Leonard Bernstein waren eher Ausbildungserweiterungen. Ich bin eigentlich ein echter Swarowski-Schüler, der auch bei anderen Dirigenten hat arbeiten können. Danach folgten noch gut zehn Jahre in Europa, von 1964 bis 1974. In dieser Zeit habe ich etwas dirigiert, ein paar Wettbewerbe gewonnen und bin dann wieder zurück nach Brasilien, weil ich meine brasilianischen Wurzeln gesucht habe. Ich hatte mein Heimatland ja mit siebzehn Jahren schon sehr früh verlassen. Und ließ nun 10 Jahre in Brasilien folgen, in denen ich vor allem unterrichtete und komponierte.

Sie haben also kaum dirigiert und viel komponiert? Das wirkt wie eine Verdrehung Ihrer ursprünglichen Berufsausrichtung.

Nun, es war einfach eine Frage des Überlebens. Ich habe eigentlich nur komponiert, weil ich überleben musste - nicht weil ich eigentlich ein Komponist bin. Ich fühle mich auch ganz und gar nicht wie einer. Trotzdem habe ich ja viel Musik in meinem Leben geschrieben. Mir fehlt dieses innere Verpflichtungsgefühl zum Komponieren. Ich würde mich auch nie an den Flügel setzen und sagen: So, jetzt komponiere ich mal eine Oper. Wenn man mich beauftragte, habe ich etwas geschrieben. Aber sonst nicht. Deshalb finden Sie aus dieser Zeit auch sehr viel Filmmusik aus meiner Hand. Ich habe das durchaus gerne gemacht, es ist aber nicht das, worauf ich mich wirklich freue. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich lieber wieder dirigieren möchte.

Sie spürten also den starken Wunsch, wieder vor einem Orchester zu stehen und dort gestalten zu können.

Ja, absolut. Ich fühle mich der Musik anderer viel näher als meiner eigenen. Ich fühle mich auch viel besser, wenn ich die Musik der Anderen interpretiere, als wenn ich meine eigene Musik schreibe. Und so bin ich 1982 zurück nach Europa und wurde dort auch schnell Chef am Teatro Nacional de São Carlos in Lissabon. Der damalige Intendant erinnerte sich an mich durch eine Aufführung der ‚Madama Butterfly’, die ich am Teatro da Trindade in Lissabon fünf Jahre zuvor einmal geleitet hatte. Als der damalige Chef des Teatro Nacional Garcia Navarro zurückgetreten war, erhielt ich plötzlich und unerwartet eine Einladung zur Übernahme des ‚Ödipus Rex’ und ‚Mavra’ von Igor Strawinsky. Ein unglaubliches Glück, diese Einladung genau dann zu erhalten, als ich gerade wieder zurück nach Europa kam und als Dirigent Fuß fassen wollte. Und das Projekt war solch ein Riesenerfolg, dass man mich sofort als Chef berufen hat.

Sie waren dort sieben Jahre lang Chefdirigent.

In diesen Jahren habe ich ein sehr großes Opernrepertoire dirigieren können. Und nach sieben Jahren - ein Zeitraum, der sich für mich fast zu einer Art immer wiederkehrenden Arbeitszyklus im Leben entwickelt hat - habe ich mich auf die vakante Chefposition des Theaters in St. Gallen beworben, habe ein Probedirigat mit Donizettis ‚Lucia di Lammermoor’ gemacht und wurde ebenfalls sofort zum Chef berufen. Dort war ich ebenfalls sieben Jahre tätig - 2 Jahre als Generalmusikdirektor und fünf Jahre noch zusätzlich als Operndirektor. In diese Zeit fiel auch der Weggang Alain Lombards als Chefdirigent des Orchesters der Stadt Bordeaux und man lud mich ein, einen Zyklus aller Beethoven Sinfonien und Klavierkonzerte zu dirigieren. Es folgte auch hierauf meine Berufung zum Chefdirigenten.

Und so hatten Sie Ihre erste Chefposition eines reinen Sinfonieorchesters.

Richtig, mein erster Posten als Chef eines symphonischen Ensembles. In der Zwischenzeit war ich auch fester Gastdirigent an der Wiener Staatsoper. Dann habe ich eine ‚Cavalleria rusticana’ in Palermo dirigiert und wurde auch dort zum Chef berufen. Plötzlich hatte ich auf einmal drei Chefpositionen - in St. Gallen, Bordeaux und Palermo - und die Gastposition in Wien inne, musste mich eigentlich um meine Zukunft nicht mehr sorgen. Und genau in diesem Moment kam der Ruf aus Brasilien, das Orchester in Sao Paulo zu übernehmen.

Wie kam man auf Sie?

Man hatte in Sao Paulo die Wahl, das Orchester entweder untergehen zu lassen, oder es von Grund auf zu renovieren. Das Ensemble war in einem sehr schlechten Zustand. Der damalige Chef war gestorben und man überlegt nun, was man tun wolle - sterben lassen oder von Grund auf sanieren. Man entschied sich für den Neuanfang und suchte zu diesem Zwecke einen international erfahrenen Dirigenten.

Und Sie haben in Europa sofort alles stehen und liegen lassen und sind nach Brasilien zurückgestürmt?

Nun, zunächst einmal habe ich in Sao Paulo einige absolut unerfüllbare Bedingungen gestellt. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass die Verantwortlichen auf diese eingehen könnten. Meine berufliche Heimat war Europa geworden; hier war ich ansässig und auch erfolgreich. Hinzu kam, dass ich in Brasilien mit Theatern bis dahin wenig gute Erfahrungen gemacht hatte.

War es also eine politische Entscheidung, Sie für den Posten in Sao Paulo anzufragen?

Natürlich spielte es eine Rolle, dass ich Brasilianer war - das war sogar maßgeblich. Aber eine rein politische Entscheidung war es nicht, sondern eine vornehmlich künstlerische. Ich war ein Dirigent, der in Europa Erfolg hatte. Man wollte meinen Namen für das Projekt, suchte einen Brasilianer, der Karriere gemacht hatte.

Welches waren denn diese „unerfüllbaren Bedingungen“, die Sie stellten?

Ich wollte eine eigene Konzerthalle für das Orchester. Es sollte neue Probespiele für alle Musiker des Orchesters geben, d.h. alle Orchestermitglieder mussten sich noch einmal einem Probespiel stellen. Nicht um diese ggf. aus Qualitätsgründen zu entlassen, sondern um zwei Orchester zu gründen. Das eine sollte das neue Orchester werden, wie Sie es heute Abend hier in Köln erleben konnten. Und das andere wäre ein B-Orchester, das mit den Musikern weiter arbeiten kann, die qualitativ nicht unseren neuen Ansprüchen genügten, und wir niemanden nach 25 Jahren im Dienst auf die Straße setzen müssten.

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Und hat dieser Plan funktioniert?

Er hat mit sehr viel Geld funktioniert. Man musste zwei Orchester bezahlen. Ich habe zwar das B-Orchester nicht dirigiert, aber wollte die Kollegen, die für ein neues Orchester, das international wettbewerbsfähig sein sollte, nicht gut genug waren, nicht im Stich lassen. Wir haben also einen Dirigenten engagiert, der mit diesem Ensemble gearbeitet hat. Zu seinen neuen Aufgaben gehört heute viel Filmmusik, Produktionen für das Radio und Volkskonzerte. Das Geld kam vom Staat Sao Paolo, der ja wahnsinnig reich ist. Überhaupt hat der Staat uns wirklich alle Wünsche und Bedingungen erfüllt. Dazu gehörte neben der fantastischen neuen Konzerthalle auch, dass das Einkommen der Musiker verdreifacht wurde. Wenn Sie ausgezeichnete Qualität haben wollen, müssen Sie auch ausgezeichnet bezahlen. Das neue Orchester hat dann den Namen des alten übernommen - Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo.

Der Musikerschwund nach diesen Probespielen war sicher recht groß.

Zu Beginn hatten wir nicht mehr als 40, vielleicht 45 Musiker - also die Größe eines klassischen Orchesters, jedoch in einer ganz merkwürdigen, unhomogenen Zusammensetzung. So waren die Kontrabässe beispielsweise sehr gut und ich hatte sieben Bässe, aber nur fünf erste Geigen, kein einziges Fagott, nur eine Flöte, dafür aber vier Klarinetten.

Wie haben Sie es geschafft, die Lücken zu füllen? Gibt es ausreichend guten Musikernachwuchs in Brasilien?

Wir haben weltweit gesucht. Als sich herumsprach, dass wir ein komplett neues Orchester aufbauen, mit guter Bezahlung und einem neuen Konzerthaus und guten Dirigenten, haben sich die besten Musiker Brasiliens gemeldet. Viele Brasilianer, die in ausgezeichneten Orchestern in Europa gespielt haben, kamen dann zu uns, nachdem sie merkten, dass es sich um ein seriöses und hoch ambitioniertes Projekt handelt. Heute besteht das Ensemble zu mehr als drei Vierteln aus Brasilianern.

Wie multinational ist die Zusammensetzung?

Von den 110 Musikern sind 80 Brasilianer und 30 Ausländer aus 13 verschiedenen Ländern. Die Konzertmeisterpositionen teilen sich beispielsweise ein Brasilianer und ein Italiener. In den Streichern finden Sie Russen, Rumänen, eine Koreanerin, einen US-Amerikaner, der Solo-Cellist ist Deutscher. Wir sind also recht multinational, die Mehrzahl der Musiker kommt jedoch aus Brasilien.

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Hat sich dann auch so etwas wie ein typischer, vielleicht auch typisch südamerikanischer Klang des Orchesters entwickelt?

Es gibt ganz sicher einen charakteristischen Klang des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo, der sich vor allem durch mein intensives Arbeiten mit dem Ensemble gebildet hat. Ich denke nicht, dass dies ein typisch südamerikanischer Klang ist - so etwas gibt es wohl nicht. Aber ich verbringe seit zehn Jahren gut 90 Prozent meiner Zeit mit diesem Orchester. Und wir arbeiten alle sehr fleißig an Verbesserungen. Da entwickelt sich selbstverständlich ein Klangbild, das von meinen Vorstellungen stark geprägt ist. So haben unsere Streicher zum Beispiel einen wie ich finde osteuropäischen, sehr dunklen Sound. Seit zwei Jahren haben wir auch eine eigene Orchesterakademie, um unsere Klang- und Spielideale an junge Talente weiterzugeben. Wir suchen auch noch einige Musiker für exponierte Positionen: einen Solobassisten, eine Harfe und ein Solocello. Die jetzige Europatournee werden wir auch nutzen, um in Paris Probespiele durchzuführen. Man verdient bei uns genauso gut wie bspw. in Orchestern in Frankfurt. Und da die Lebensqualität in Sao Paulo höher ist als an manch anderen Orten in Europa, fällt es vielen ausgezeichneten Musikern leicht, sich bei uns zu bewerben.

Sehen Sie sich ob Ihrer Familiengeschichte als Vertreter einer osteuropäisch-jüdischen Musiziertradition?

Ich sehe mich eher in der Tradition der zentraleuropäisch geprägten jüdischen Schule, folge eher den Idealen eines Fritz Reiner, Eugene Ormandy oder George Szell. Ich bin ungarisch-österreichisch geprägt.

Die Orchestermitglieder sind alle auffallend jung. Sicher hat das geringe Alter der Musiker es für Sie leichter gemacht, einen Neuanfang zu realisieren.

Absolut. Ich habe gerade mit den älteren Kollegen zu Beginn große Probleme gehabt. Sie haben zwar sehr gut gespielt, brachten jedoch auch die ganzen schlechten Angewohnheiten des alten Orchesters mit. Da war große Strenge vonnöten. Doch natürlich brauche ich auch ältere Musiker im Orchester mit Erfahrung, die die vielen jungen Kollegen führen und leiten können. Auch bei der Suche nach neuen Mitgliedern sind wir gegenüber erfahrenen Musikern absolut offen. Bei unseren Probespielen haben wir keine Altersbeschränkung, da sind wir ganz vorurteilsfrei. Ich habe genug junge Genies im Ensemble, suche aber immer erfahrene Kollegen, die Orchesterkultur mitbringen.

Lassen Sie uns kurz über Ihr Publikum sprechen. Haben Sie sich diesen enorm großen Stamm von Hörern hart erarbeiten müssen, oder sind Sie mit Ihrem Ensemble und Programmen offene Türen eingerannt?

Beides. Das erste, was man braucht, ist Qualität. Fehlt diese, kommt niemand. Brasilien ist wahrlich kein von der Kultur verlassenes Land. Es hat eine wahnsinnige musikalische Tradition. Alle großen Orchester der Welt spielen auch regelmäßig hier. Wenn wir heute 11.200 Abonnenten haben, dann sind das Menschen, die vorher nicht zu einem brasilianischen Orchester gegangen sind. Auch unsere Programme haben entscheidend dazu beigetragen, dass wir heute einen so großen Hörerstamm haben. Da sich das Orchester zu 75 Prozent aus Geldern der öffentlichen Hand und nur zu einem Viertel über private Förderer trägt, muss ich auch nicht so sehr auf die Programmwünsche dieser privaten Förderer Rücksicht nehmen. So habe ich in den vergangenen Jahren in meinen Programmen über 60 Prozent Musik aus dem 20. Jahrhundert gespielt. Und der große Erfolg gibt uns Recht.

Sind Ihre CD-Aufnahmen ein wichtiges Werkzeug, um ein Publikum für sich zu gewinnen?

Nicht so sehr. Die Platten sind eher für die Reisen und die internationale Vermarktung des Orchesters hilfreich. Sie sind jedoch sehr wichtig, um das Ensemble zu drillen. Die Präzision, die uns heute auszeichnet, ist ganz wesentlich auch den Tonträgeraufnahmen zu verdanken, weil man dafür absolut perfekt vorbereitet sein muss. Es ist doch so: Man reist nur, wenn man CDs macht, und man macht nur CDs, wenn man reist. Dass wir heute fest in diesem Kreislauf integriert sind, ist nicht zuletzt Ausdruck der hohen Qualität und der hohen Professionalität des Orchesters. Wenn wir, wie gerade jetzt eine 16 Konzerte umfassende Tournee machen und am zwölften Tag noch immer so frisch und spritzig klingen wie heute Abend, dann ist das das Ergebnis harter Arbeit und macht mich sehr, sehr stolz.

Wenn Sie so gut durch den Staat Sao Paulo gefördert werden, haben Sie sicher auch eine große bildungspolitische Verantwortung.

Ja, unbedingt! Wir spielen im Jahr für 40.000 Kinder Konzerte in unserem Saal. Wir haben ein separates Bildungsprogramm für Lehrer - also keine Musiklehrer sondern normale Schullehrer, die kommen und mit uns gemeinsam arbeiten, bevor sie dann in den Schulen die Kinder auf unsere Konzerte vorbereiten. Das kommt wahnsinnig gut an bei allen. Und die Kinder kommen wirklich für Musik aus allen erdenklichen Epochen: für eine Beethoven Sinfonie ebenso, wie für ein Stück von Alberto Ginastera oder Ligeti.

Das heißt, dass Klassik nicht mit einer negativen Konnotation belegt ist…

... ganz im Gegenteil. In Brasilien ist die Grenze zwischen Klassik und Pop viel verwaschener als hier in Europa. Die Abgrenzungen sind kaum existent. Man weiß ja teilweise nicht einmal ob Heitor Villa-Lobos nun ein klassischer oder ein populärer Komponist ist. Nehmen Sie die beiden Gitarristen Sergio und Odair Assad. Die spielen Piazolla genau so, wie sie Rameau spielen. Auch cross-over-Programme gehören bei uns fest ins Repertoire, es wird viel Jazz gespielt. So ist unser erster Fagottist ein begnadeter Jazzer, der Duke Ellington auf dem Fagott phänomenal spielen kann. Mein Klarinettist ist ein fantastischer Klezmer-Spieler. Überhaupt sind alle im Orchester sehr vielseitige Musiker. Die Menschen hier in Brasilien haben diese sympathische Einstellung klassischer Musik gegenüber, die Leonard Bernstein immer predigte: Sie verehren Klassik nicht, sie lieben sie. Ich glaube, dass das der größte Unterschied zu den Europäern ist. Es gibt eine größere Freiheit der Interpretation.

Copyright Ding Musa

Sehen Sie sich alle auch als Botschafter Brasiliens und brasilianischer Musik?

Das Orchester ganz bestimmt. Ich persönlich: Jein. Wenn ich brasilianische Musik spiele, dann habe ich eine solche Botschafterrolle inne. Nicht weil ich das so will, sondern weil wir wohl die Einzigen sind, die diese tolle Musik spielen. Mein Antrieb ist jedoch nicht die Herkunft der Musik, sondern ihre Qualität. Ich mache Guarnieri genauso gerne wie Beethoven oder Mozart. Im Falle Mozarts bin ich kein Botschafter österreichischer Musik, weil ja alle Welt Mozart spielt. Bei Guarnieri, habe ich diese Vermittlerrolle vor allem deshalb, weil niemand sonst sich diesem Komponisten widmet.

Haben Sie eigentlich damals nach dem Studium ihre brasilianischen Wurzeln gefunden?

Ja, ja ... ganz sicher. Diese zehn Jahre dort waren eine sehr spannende Zeit. Ich habe viel Politik gemacht, bin Mitbegründer der Grünen Partei Brasiliens, habe sehr viel im sozialen Bereich gearbeitet und auch viel weniger Musik gemacht als ich vorher dachte. Heutzutage arbeite ich mit Musik, weil ich eben diese Wurzeln damals gefunden habe und mich als hundertprozentiger Brasilianer empfinde. Obwohl ich, wenn ich in Zentraleuropa bin, mich absolut nicht als Fremder fühle. Ich bin zweisprachig aufgewachsen; mit den Eltern sprach ich Deutsch und auf der Straße Portugiesisch. Auch Englisch gehörte zum täglichen Leben dazu. Und wenn ich heute Richard Strauss oder Gustav Mahler dirigiere, ist das für mich absolut keine fremde Musik. Ganz im Gegenteil. Bei Strauss habe ich einen solch hohen Grad an Identifikation erreicht, dass ich meistens denke, das ist meine eigene Musik.

Das soziale Engagement ist Ihnen also immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Trifft man in Ihrem Publikum auch einen repräsentativen Querschnitt durch die brasilianische Gesellschaft?

Immer! Ich bin übrigens der Meinung, dass ein Orchester wie unseres in einem Land wie Brasilien ohne soziales Engagement absolut keinen Sinn hat. Wir machen wirklich Konzerte für alle Schichten. Es sind wirklich preiswerte, ja gar billige Konzerte, vom Staat stark subventioniert und von daher sehr erschwinglich. Und ich erreiche so auf jeden Fall mehr Menschen aus den armen Bevölkerungsschichten als normalerweise. Natürlich ist Beethoven auch bei uns kein Komponist für die große Masse. Nur weil wir billige Tickets anbieten, kommen nicht alle Menschen aus der Favela und hören unsere Konzerte. Meiner Meinung nach muss man erstklassige Musik und erstklassige Kunst einer so breiten Schicht der Gesellschaft wie möglich in Brasilien offerieren. Ob sie nun kommen oder nicht, ist eine zweite Sache.

Copyright Ding Musa

Gibt es in Brasilien weniger Berührungsängste gegenüber der klassischen Konzertform als hierzulande?

Nein, das glaube ich nicht. Aber wir versuchen, dem entgegen zu wirken. Die billigen Tickets habe ich erwähnt. Ich rede auch viel mit dem Publikum in den Konzerten. Unterhalte mich mit den Besuchern und erhalte da auch ein großes Feedback. Das erreicht fast schon fanatische Züge bei einigen. Auf unserer Europa-Tournee jetzt sind beispielsweise 15 Abonnenten mitgereist, weil sie das Orchester so lieben. Wir haben zahlreiche Busse, die unsere Abonnenten für sich chartern, wenn wir nach Rio zu Konzerten fahren. Genauso kommen ganz viele Hörer aus dem ganzen brasilianischen Raum zu unseren Konzerten nach Sao Paulo. Und es muss auch so sein. Es hätte sonst keinen Sinn so viel Geld in einem Land wie Brasilien, das nun wahrlich auch andere Probleme hat, für ein Orchester auszugeben, wenn es nicht diese Form der Identifikation und des Stolzes auf das Ensemble und den Konzertsaal gäbe. Wenn wir nur für reiche Hörer spielen würden, wäre unsere Existenz absolut unberechtigt. Ich sage deshalb auch immer: Unser Konzertsaal ist der demokratischste Ort in Sao Paulo. Hier sitzt der Bankier neben dem Bankangestellten. Unser Orchester ist schwarz, weiß, gelb; es ist kein Orchester für die Elite, aber es spielt Musik der Elite.

Und Sie können längst mit allen großen Künstlernamen der internationalen Szene aufwarten…

Wir haben jedes Jahr einen ‚composer in residence’: Segerstam war da, Penderecki war da, Heinz Holliger war da und John Corigliano kommt in dieser Spielzeit. Und die Namen unserer Gastdirigenten und Solisten sind von gleicher Qualität. Das Niveau des Ensembles und des Publikums hat sich längst in den Künstlerkreisen herumgesprochen.

Inwieweit ist diese fantastische Entwicklung an die Person John Neschling gebunden - oder anders gefragt: Was wird passieren, wenn Sie eines Tages etwas anderes machen wollen und ihr Nachfolger ihrem Orchester gegenübersteht?

Ich werde im Mai sechzig Jahre alt und kann mir absolut nicht vorstellen, dass ich etwas anderes als die Arbeit mit diesem Orchester machen möchte. Die nächsten zehn Jahre würde ich hier auf alle Fälle gerne weiterarbeiten, es weiter entwickeln. Es gibt noch so viel Musik gemeinsam zu entdecken. Und die Infrastruktur steht mittlerweile auf eigenen Füßen, funktioniert von meiner Person absolut autark. Ich kann mir aber nicht vorstellen, noch einmal eine andere Chefposition anzunehmen - dazu hätte ich einfach keine Lust mehr. Dieses Orchester ist nicht nur mein Baby, es ist meine Schöpfung und ich habe eine so besondere Beziehung zu den Musikern, dass es mir schwer fiele, sie zu verlassen. Mein Nachfolger wird es sicher sehr schwer haben. Nicht unbedingt aus musikalischer Sicht, doch vor allem auf menschlicher Ebene. Ich kenne hier alle Musiker, ihre Familien und Kinder. Wir leben fast wie eine große Familie zusammen. Sicher bin ich die zentrale Vaterfigur, die sich auch sehr viel erlauben kann. Doch die Musiker nehmen meine gelegentlichen Zornesausbrüche widerstandslos hin, weil sie wissen, alles geschieht aus wirklicher Liebe zu ihnen. Von daher wird mein Schatten für einen künstlerischen Leiter nach mir sicher groß ausfallen. Aber auch meine Zeit wird einmal zu Ende gehen. (herzlich lachend) Dann heiratet meine Tochter eben und ich muss meinen Schwiegersohn akzeptieren.

Das Gespräch führte Frank Bayer.
(04/2007)

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