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Sonntag, 2. April 2023

Photo: Fran Kaufman

Marc-André Hamelin über Facetten der Virtuosität

"Das Ziel ist, eine musikalische Botschaft freizusetzen"


Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin erweist sich als ein besonnener, eleganter Herr. Seine Stimme geht ruhig und klar durch die Sätze – so durchdacht wie humorvoll. Das mag auf den ersten Blick nicht so recht zu dem donnernden Bild passen, das man sich aus der Ferne oder durch die Ohren von einem Tastenlöwen, einem „Supervirtuosen“ macht. Das tut es auch auf den zweiten Blick nicht: Der Eindruck eines besonnenen, ernsten Musikers ist der richtige. Marc-André Hamelin, 1961 in Montreal geboren, wurde 2003 zum Officer of the Order of Canada und 2004 zum Chevalier de l’Ordre du Québec ernannt. Unter zahlreichen Preisen wurde er nicht weniger als zehn Mal mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet – eine Anerkennung, die wohl gleichermaßen seiner technischen und musikalischen Brillanz als auch seinem Engagement für entlegenes, wenig bekanntes Repertoire gilt. Sein intelligenter Humor lässt sich auch in seinen eigenen Kompositionen erleben, etwa in dem Zyklus „12 Études in all the minor keys“ (1986-2009) und den Variationen über ein Paganini-Thema aus dem Jahr 2011. Mit klassik.com-Autor Tobias Roth sprach Marc-André Hamelin über Virtuosität im Allgemeinen, im Besonderen und bei Joseph Haydn.

Herr Hamelin, worin besteht für Sie die oft genannte, aber doch so schwer zu fassende Qualität des Virtuosen?

Zuerst muss gesagt werden, dass ein Konzert an keiner Olympiade teilnimmt. (lacht) Virtuosität kann sich also nicht im Begriffsfeld „höher, schneller, weiter“ abspielen, obwohl man oft den Eindruck bekommt, dass es hauptsächlich um Schnelligkeit geht, wenn von Virtuosität gesprochen wird. Als Virtuosen werden, ob sie wollen oder nicht, Musiker bezeichnet, die außergewöhnliche technische Fähigkeiten auf ihrem Instrument zeigen. Dabei kann die Musik ins Hintertreffen geraten. Für mich besteht Virtuosität in etwas sehr viel Grundsätzlicherem, nämlich eine überlegene, gesteigerte Verfügungsgewalt über alle Gestaltungsmöglichkeiten, die einem Künstler zur Verfügung stehen, sei es körperlich oder geistig. Es geht um einen hoch entwickelten Sinn für Spielräume. Wenn diese Fähigkeit ganz ausgeschöpft wird und mit dem Ziel verbunden ist, eine musikalische Botschaft zu verwirklichen und freizusetzen, ist das für mich Virtuosität. Die Zurschaustellung von technischen Fähigkeiten, von Geschwindigkeit, all das interessiert mich überhaupt nicht.

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Zumal die Geschwindigkeit zumeist in Noten pro Sekunde und nicht in Information pro Augenblick gezählt wird.

Ja, da herrscht ein starker Zug in die Statistik. Das ist, wie gesagt, eine Sportveranstaltung. Aber: Wer will so etwas denn wirklich? Man sollte in ein Konzert gehen, um bewegt und ergriffen zu sein, um emotional erschüttert zu werden, um hoffentlich in irgendeiner Art und Weise verändert zu werden. Sich einfach nur besonders schnelle Finger anzusehen, hat nichts mit dem zu tun, was Musik bieten kann.

Verwandt mit Sport und Statistik ist ja auch die Gier nach Superlativen, die immer superlativischer werden, sich gegenseitig übertreffen. Gibt es diese Form des körperlichen, sportlichen Fortschritts auch in der Musik, unter Virtuosen? Man könnte ja zuweilen den Eindruck bekommen, dass jede Generation noch flinkere Pianisten hervorbringt.

Meine ganz persönliche These, von der ich natürlich nicht weiß, wie stichhaltig sie ist, wäre, dass der tägliche Umgang mit Computern in unserem Leben uns befähigt, schneller und schärfer zu reagieren. Man denke nur an Computerspiele. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es keine vergleichbaren Reize. Vielleicht ist es auch nicht so. Aber mir scheint, dass das eine wichtige Rolle spielt. Die Art und Weise, mit der unsere Sinne heute Informationen verarbeiten, ist etwas Neues. Das hat sicherlich Areale im Gehirn geweckt, die bis dahin schliefen. In diesem Sinne kann die manuelle Präzision davon profitieren. Aber gewiss ist das alles bedeutungslos, wenn es nicht zu einer zutiefst künstlerischen Anwendung kommt. Wenn man nur versucht, Rekorde zu brechen, dann tut man auch tatsächlich nichts anderes: einfach nur Rekorde brechen. Mehr ist da nicht.

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Andererseits aber gibt es doch dezidierte Kunstwerke in der Musik, die eine Art superlativischen Anspruch haben, die ausreizen wollen, was manuell auf einem Instrument möglich ist. Das wäre die andere Seite der Medaille, dass virtuose Musik oft von oben herab betrachtet wird, zugunsten etwa der Tiefe von Musik.

Sicherlich gibt es Komponisten wie Franz Liszt, der einerseits fähig war, großartige und auch tiefe Dinge zu schreiben, und sich andererseits nicht zu schade war, ein Publikum zu erfreuen und zu unterhalten. Er konnte es und tat es. Im Alter hat er sich, wie ich finde, mehr der reinen Musik zugewandt und über die Jahre wurde sein Stil sparsamer, konzentrierter. Aber da ist immer diese Versuchung – ein Publikum nicht nur zu gewinnen, sondern wirklich zu überwältigen durch schiere Fähigkeit. Dieser Versuchung bin ich, unbewusst oder bewusst, in vergangenen Jahren vielleicht auch erlegen. Aber jetzt möchte ich es nicht mehr. Für mich ist der einzige Grund, eine Bühne zu betreten, das Wunder der menschlichen Kreativität zu feiern. Ich möchte meine musikalischen Leidenschaften teilen und die Liebe erwecken, die ich selbst fühle. Nach den Reaktionen zu urteilen, gelingt mir das zuweilen einigermaßen; ich fühle mich verstanden. Aber natürlich gibt es auch die andere Seite und ich kann mir vorstellen, was sich Leute denken, die einen Videoclip im Internet sehen: Ah, schau dir den an, der spielt so schnell er kann.

Oft ist das ja auch beeindruckend…

…allerdings sind sehr schnelle Tempi auf der Bühne manchmal oder sogar oft schlichtweg auf die Nerven zurückzuführen. Es passiert mir häufig, dass ich schneller spiele, als ich geplant hatte. Das ist eine Frage der Erfahrung. Dieses Problem begleitet mich schon mein Leben lang und ich versuche, dagegen vorzugehen. Das gelingt in letzter Zeit immer besser. Wenn dann ein Clip im Internet erscheint – was soll ich machen? Das bedeutet ja nicht, dass ich mit dieser speziellen Aufführung besonders zufrieden bin. Ich denke, viele meiner Kollegen würden mir da zustimmen. Oft denkt man sich ganz im Gegenteil, dass gerade diese Aufführung nicht gelungen ist. Ich habe eine Zeit lang erwogen, solche Videos irgendwie aus Internet-Plattformen wegzubekommen, das aufzuhalten – aber der Aufwand wäre zu groß. Das erfordert eine ganz spezielle Energie, die ich nicht habe. (lacht) Um aber wieder zu Ihrer Frage zurückzukommen, muss ich sagen, dass es mich schon lange erstaunt und mir unerklärlich geblieben ist, warum Liszt häufig übertriebene, oberflächliche Virtuosität vorgeworfen wird – aber Paganini, soweit ich sehen kann, so gut wie nie. Das mag daran liegen, dass die Violine einen natürlicheren Zug zur Virtuosität hat als das Klavier. Vielleicht auch daran, dass das Repertoire der Violine doch kleiner ist als das des Klaviers. Wie dem auch sei: Paganini wird nie für exzessive Virtuosität kritisiert und Gott weiß, wie exzessiv er ist.

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Vielleicht liegt es auch daran, dass sich mit der Gestalt Paganinis das Urbild des Übervirtuosen verbindet. Er ist eine Art Gründervater, ihm ist es erlaubt, Virtuosität als Selbstzweck und Irrsinn zu komponieren.

An dieser Stelle würde ich gerne eine kleine Abschweifung zum Begriff des Über- oder Supervirtuosen machen. Diesen Begriff habe ich einige Jahre lang in meiner offiziellen Biographie benutzt. Das kam daher, dass der Begriff von einem Kritiker in der Besprechung einer meiner ersten CDs verwendet wurde. Mit diesem Begriff konnte ich sehr viel mediale Aufmerksamkeit binden, aber inzwischen benutze ich ihn nicht mehr, weil mir aufgegangen ist, dass das Wort „Supervirtuose“ meinem eigentlichen Anliegen entgegenarbeitet. Natürlich hängt mir das noch nach; ich werde zuweilen noch so bezeichnet, und deshalb will ich hier deutlich sagen, dass mir diese Bezeichnung völlig widerstrebt. Es gibt so viele verschiedene Zugangsweisen zur Virtuosität. Ein wichtiger Aspekt von Virtuosität ist gerade das sehr langsame und sehr leise Spiel, die Kunst, eine Linie aufrecht zu erhalten, eine große Struktur zu tragen.

Sie haben vor Kurzem auch Haydn eingespielt – ist auch da der „stille“ Aspekt der Virtuosität am Werk, um die Klugheit der Struktur, die Sparsamkeit der Mittel und die Spannung der Linien zur Geltung zu bringen?

Diese Musik stellt vieldimensionale Ansprüche. Für viele Musiker gibt es nichts Schwereres, als einen langsamen Satz von Haydn oder Mozart – wirklich überzeugend in der Darstellung, als ein geschlossenes Wesen, das bei aller Langsamkeit einen ganz bestimmten Zweck verfolgt. Hier muss der Musiker wirklich über alle Farben seiner Palette verfügen, eine Unendlichkeit von Farben unter Kontrolle halten. Das ist eine größere Schwierigkeit als so manche physische Herausforderung. Während Liszt dem Klavier orchestrale Dimensionen entlockt, ist es bei Haydn gerade die Sparsamkeit, die Phantasie freisetzen kann. Ich könnte nicht sagen, welcher Ansatz „pianistischer“ ist. Auch versuche ich nie, etwa bestimmte Instrumente auf dem Klavier nachzuahmen, sondern so viele Farben wie möglich zu entfalten, deren Vielfalt jeder Hörer für sich interpretieren kann. Das Klavier hat so unheimliche viele Möglichkeiten. Das Schöne ist, dass man als Musiker die Möglichkeiten des Instruments immer besser kennenlernt; man entdeckt immer mehr mit den Jahren. Es gibt ja diese alte Diskussion, dass es keinen Unterschied mache, ob ein Finger oder die Spitze eines Regenschirms die Taste des Klaviers drückt. Mit Verlaub – wer das wirklich glaubt, tut mir leid. Man denke zudem an all die Magie, die man mit dem Pedal entfesseln kann! Das wird oft unterschätzt oder gleich unterschlagen. Das Pedal ist ja nicht an oder aus, es geht um die Zwischenräume. Und natürlich klingt jedes Instrument anders, auch das macht viel von der Schönheit aus.

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Haben Sie sich je vom Hammerklavier angezogen gefühlt?

Sagen wir so: Ich weiß, ich sollte. Auch bin ich vertraut genug mit der Materie, um ausgesprochen wertzuschätzen und zu respektieren, wie diese Stücke geklungen haben würden, wie sie auf einem alten Instrument klingen. Aber andererseits fühle ich mich so einheimisch in der klaren Attacke und dem langklingenden Ton eines modernen Flügels, dass ich mich im Klangbild eines Hammerklaviers nie ganz wohl fühle. Das ist, denke ich, ganz einfach eine Geschmacksfrage. Für mich ist es der moderne Flügel: Das ist der Klang, den ich im Kopf habe, wenn ich an diesen Stücken arbeite. Die spezielle Freude, die die Arbeit mit Haydn für mich bedeutet, liegt vor allem in der Lektüre: Es ist eine nicht enden wollende Reihe großartiger Einfälle. Es ist ein Füllhorn, das nie versiegt, da ist immer noch eine Überraschung im Hinterhalt. Haydn überrascht uns auch in einer konventionellen musikalischen Form, er geht an Grenzen, er riskiert immer viel. Oft lese ich eine Sonate und traue meinen Augen nicht – und kurz darauf traue ich meinen Ohren ebenso wenig. Aber Haydn gibt uns zugleich immer das Gefühl von Schlüssigkeit, Klugheit. Mozart beispielsweise ist die meiste Zeit nicht die Risiken eingegangen, an die sich Haydn gewagt hat. Haydn sollte mehr gespielt werden und gerade die Pianisten sollten ihm sehr dankbar sein.

Es ist seltsam, wie das Bewusstsein für die Experimentierfreude Haydns verschwinden und dem Image des braven „Papa Haydn“ Platz machen konnte.

Ich habe ihn auch erst spät wirklich kennengelernt. Ich kannte lange Zeit nur einige wenige Sonaten und habe dann recht langsam zu ihm gefunden. Obwohl ich mir die Wiener Urtextausgabe der sämtlichen Sonaten bereits recht früh gekauft hatte, habe ich sie lange nicht benutzt. Eines Tages habe ich plötzlich angefangen zu lesen und machte schnell große Augen. Das war eine echte Offenbarung.

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Wir sprachen ja zuvor schon von Computern und Video-Plattformen im Speziellen. Wie stehen Sie zu Musikjournalismus im Internet? Die Printmedien haben ja nach wie vor das Prestige gepachtet, arbeiten aber gleichzeitig an der Abschaffung echten Feuilletons.

Ich muss sagen, dass ich eine gewisse Skepsis vor Internetjournalismus teile. Man muss genau wissen, wo ernster, qualitätvoller Journalismus im Internet zu finden ist. Denn das Problem ist, dass ein seriöses Internetfeuilleton und ein dubioser, ahnungsloser Blog sehr ähnlich aussehen. Es ist im Internet so einfach, den Anschein von Ernsthaftigkeit und Qualität zu erwecken. Zudem erleichtert die relative Anonymität des Internets, dass sich ein Niemand, der sich bemüßigt fühlt, an Musik herumzukritisieren, das Ansehen eines Experten gibt und unerfahrene Leser darauf hereinfallen können. Es braucht schon eine Redaktion, die kritisch und selektiv arbeitet und sich einen Namen gemacht hat. Dann bietet das Internet natürlich durch seinen Raum und seine Schnelligkeit großartige Möglichkeiten. Ich glaube schon, dass die Frage des Prestiges sich mit der Zeit ändern wird – wenn man nicht gleich davon ausgeht, dass es in absehbarer Zeit nur noch Onlinejournalismus geben wird. Ich lese auch regelmäßig Kritiken im Internet: Gott weiß, dass es einige ausgesprochen gute Onlineredaktionen und auch kenntnisreiche einzelne Blogger gibt! Es ist gut, sich auf dem Laufenden zu halten. Früher trafen mich schlechte Kritiken sehr viel stärker als heute. Man sollte natürlich so früh wie möglich verstehen, dass man es nicht allen recht machen kann. Ich habe das erst spät verstanden. Ich wollte allen gefallen und das hat mich verrückt gemacht. Das allerletzte, was man tun sollte, ist natürlich, Kommentare zum Beispiel auf Videoplattformen zu lesen: Aber die lese ich auch hin und wieder (lacht). Das ist meist eine lustige Erfahrung. Wie schnell da Diskussionen vom Thema abkommen, wie schnell es nur noch um Rassismus geht, ist teilweise ausgesprochen komisch. (lacht)

Es fehlt eine Umgangsform, ein Sinn für die höchst öffentliche Privatheit solcher Kommentare und Diskussionen – jeder sitzt in seinem Zimmer und bemerkt nicht, dass er in der Öffentlichkeit sitzt.

Oh ja! Ob in Videoplattformen oder in Newsgroups, da posten Leute die bösesten Sätze über mich, als hätten sie kein Bewusstsein dafür, dass auch ich das natürlich lesen kann. (lacht)

Das Gespräch führte Tobias Roth.
(11/2013)

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