Lucia Aliberti über Belcanto und den frühen Verdi
"Die Melodien sind einfach wunderbar"
Lucia Aliberti gehört seit Jahrzehnten zu den führenden Sängerinnen. Nicht umsonst nennt man sie ‚Königin des Belcanto‘. Die Grundlage für kontinuierlich abrufbare Spitzenleistungen legte die in Messina auf Sizilien Geborene während ihrer Studienjahre in ihrer Heimatstadt. Letzten Schliff holte sie sich in Rom bei Luigi Ricci und Alfredo Kraus. Dieser Tage legt Lucia Aliberti ihre erste Einspielung beim Label Challenge Classics vor. Gemeinsam mit dem Orchestra Sinfonica und dem Coro Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi unter Oleg Caetani interpretiert sie wenig bekannte Arien des jungen Verdi. klassik.com-Autor Jan Kampmeier verriet die Sopranistin die Grundlagen einer langjährigen Karriere - und immer wieder findet sie glühende Worte, wenn es um ihre besondere Liebe geht: den Belcanto.
Signora Aliberti, haben Sie eine Lieblings-Bühnenrolle? Vielleicht Lucia di Lammermoor oder Norma?
Ich habe eine besondere Schwäche für Bellinis Oper ‚Beatrice di Tenda‘. Aber ich singe überhaupt gerne die Opern von Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und Giuseppe Verdi. Momentan träume ich davon, ‚I due Foscari‘ von Verdi zu singen und ‚Lucrezia Borgia‘ von Donizetti. Denn die habe ich bisher noch nicht auf der Bühne gesungen. Ich mag die romantischen Heroinen, die Charakter haben. Momentan konzentriere ich mich auf Verdi, aber die Partie, die ich wirklich in allen großen Theatern der Welt gesungen habe, an der Mailänder Scala, im Covent Garden London, in Wien, Berlin, am Bolschoi Theater in Moskau, der New Yorker Met oder dem Teatro Colon in Buenos Aires – das ist die Lucia di Lammermoor.
Ist eigentlich allen Italienern die Liebe zu Bellini, Donizetti, Verdi in die Wiege gelegt?
Allen Italienern? Ich glaube, jeder liebt doch diese Musik, weil die Melodien so schön sind. Sie sind sensationell! ‚Casta Diva‘ – das ist vielleicht die schönste Melodie überhaupt. Das mögen nicht nur Italiener, alle Musikfreunde lieben die italienische Oper. Ich bin ja auch Italienerin und liebe außerdem auch Wagner.
Haben Sie jemals Wagner gesungen?
Nein, aber die Isolde ist ein Traum von mir. Und weil die Isolde nicht mein Stimmfach ist, kann ich auch weiter davon träumen.
Bellini und Donizetti sind vielleicht die wichtigsten Vertreter des Belcanto, und Sie werden die ‚Königin des Belcanto‘ genannt. Was bedeutet Belcanto für Sie?
Naja, ich akzeptiere es, so genannt zu werden, würde mich aber nie selbst so bezeichnen. Man kann den Begriff ganz wörtlich nehmen. ‚Bel‘ bedeutet schön, also: ‚schön singen‘! Es bedeutet genauer, elegant zu singen. Es geht um die Melodie, um Stil und Harmonie.
Was für eine Technik braucht man dafür?
Man muss die Linie führen, Atemtechnik ist wichtig und die Technik der Koloraturen. Und man braucht eine ‚saubere‘ Stimme, denn die Begleitung in Belcanto-Opern ist leicht und durchsichtig. Aber gleichzeitig benötigt man auch Kraft. Für eine Lucia muss man nicht nur die Koloraturen der sogenannten ‚Wahnsinnsarie‘ beherrschen. Man braucht auch Kraft, zum Beispiel für das Sextett. Lucia ist ein starker Charakter.
Man sagt oft, mit Verdi ging der Belcanto zu Ende. Sie haben gerade eine neue CD mit frühen Verdi-Arien aufgenommen. Ist das noch Belcanto?
Es stimmt, mit Verdi endet der Belcanto. Aber auf der CD habe ich zwölf Arien ausgesucht, die aus seinen frühen Werken stammen, wie z.B. ‚Un giorno di regno‘, ‚I Lombardi‘ oder ‚Giovanna d’Arco‘. Hier kann man noch starke Einflüsse von Bellini und Donizetti hören. Man braucht dazu noch Belcanto-Technik. Sie sind wirklich extrem schwer zu singen.
Da sie eine komplette CD diesen frühen Arien widmen, wollen Sie ihnen offenbar mehr Aufmerksamkeit verschaffen, denn bisher sind sie eher unbekannt geblieben. Was gefällt Ihnen an diesen Arien so gut?
Einfach alles! Bei Bellini und Donizetti sind die Frauen eher einem romantischem Ideal verpflichtet, Verdi lässt seine Heldinnen realitätsnäher erscheinen, ausgestattet mit mehr Körperlichkeit. Sie hören und spüren diese gelebte Leidenschaft in der Musik. Am meisten mag ich die Arien aus ‚Due Foscari‘, ‚Attila‘ und ‚Alzira‘: Wunderbar! Diese Melodien und die rhythmischen Steigerungen! In den ‚Due Foscari‘ haben sie diese Cabaletta: so schwer, aber wundervoll, auch dramatisch. Auch ‚Atilla‘ ist dramatisch, gefällt mir gut.
Sind sie sehr verschieden von Verdis späteren Arien?
Ja, aber man hört schon hier den Genius.
Die frühen Verdi-Opern, außer ‚Nabucco‘ natürlich, werden in Deutschland kaum jemals gespielt, und in anderen Ländern ist es vermutlich dasselbe. Werden sie in Italien häufiger aufgeführt?
Nein. Es ist extrem schwer, diese Opern zu singen, viel schwerer als Verdis spätere Opern. Man braucht dramatische Stimmen, die auch Koloraturen singen können. Es ist nicht leicht, für die frühen Verdi-Opern gute Sänger zu finden. Vielleicht ist das auch ein Grund, dass sie so selten gespielt werden. Jedenfalls ist eine Oper wie die ‚Due Foscari‘ wirklich wunderschön.
Haben Sie jemals eine dieser Rollen auf der Bühne gespielt?
Ja, Aroldo. Und ich würde gerne mal Due Foscari oder Attila machen.
Ist es wahr, dass sie nicht mehr als etwa 35 Vorstellungen pro Jahr singen?
Ja, das stimmt. Ich will auf meine Stimme achtgeben.
Wenden wir den Blick auf Ihre bisherige Laufbahn. Von welchen Begegnungen oder Lehrern haben Sie in ihrer musikalischen Laufbahn profitiert?
Meine zwei großen Lehrer waren Luigi Ricci und Alfredo Kraus. Sie hatten großen Einfluss auf mich, von ihnen habe ich die Disziplin gelernt, auf die Stimme aufzupassen, aber auch viele andere Dinge: ernsthaft und selbstbewusst zu sein, zwischen den Vorstellungen zu entspannen, also immer zwei oder drei Tage Pause einzulegen, nicht zu forcieren. Disziplin ist wirklich sehr, sehr wichtig. Dazu gehört sogar, auf die Ernährung zu achten. Alfredo Kraus stand mit über 70 noch auf der Bühne – und seine letzte Vorstellung hat er zusammen mit mir gegeben. Er hat mir oft gesagt: ‚Lucia, vergiss nie, es gibt viele junge Sänger mit alten Stimmen. Aber man muss alt werden mit einer jungen Stimme!‘ Und das ist jetzt meine Philosophie. Dafür braucht man große Disziplin. Man darf nicht jeden Tag singen, man darf nicht das Repertoire mischen. Man muss eben wirklich aufpassen.
Haben Sie jemals daran gedacht, Ihre Erfahrung und Ihr Wissen an junge Sänger weiter zu geben?
Manchmal kommen junge Leute und wollen, dass ich sie anhöre, aber viele wollen gar nicht studieren, sondern gleich auf die Bühne. Ich war eine sehr gewissenhafte Studentin, und das verlange ich auch von einem Schüler.
Welche Bedeutung hat für Sie das Internet?
Ich denke, das ist sehr wichtig, weil das Internet heute zum Leben dazugehört. Jeder nutzt heute das Netz – ich auch, obwohl es mir sehr schwer fiel am Anfang. Ich habe sieben Monate gebraucht, um die einfachsten Dinge zu lernen, aber inzwischen geht es. Und jetzt bin ich sogar seit neuestem in einem sozialen Netzwerk vertreten.
Sie komponieren auch selbst. Wie würden Sie den Stil Ihrer Werke beschreiben, wie klingt Ihre Musik?
Belcanto! Leider ist es unmöglich, eine schönere Melodie zu schreiben als ‚Casta Diva‘. Ich habe auch nicht viel Zeit zum Komponieren. Gestern habe ich bei einem Konzert eine Arie von mir gesungen, einen Walzer, und es hat den Leuten gefallen.
Sie spielen außerdem viele Instrumente: Klavier, Gitarre, Akkordeon, Violine und Mandoline. Spielen Sie auch in der Öffentlichkeit?
Eher selten. Hauptsächlich begleite ich mich selbst am Klavier, wenn ich probe. Das geht ganz gut.
Das Gespräch führte Dr. Jan Kampmeier.
(04/2013)
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