Barockgeige und Stockhausen - für Amandine Beyer kein Spagat, sondern individuelles musikalisches Panorama
"In ein Bad von Klang eintauchen"
Hierzulande gehört die französische Barockgeigerin Amandine Beyer noch nicht zu den einem breiteren Publikum bekannten Vertretern ihrer Zunft. Das dürfte sich bald ändern, denn mit einigen CD-Veröffentlichungen, erschienen bei Zig Zag Territoires, sorgte die Leiterin des Ensembles Gli Incogniti für große Überraschung. Mit Nicola Matteis und Jean-Féry Rebel widmet sie sich virtuoser Geigenliteratur des 18. Jahrhunderts, die bisher kaum Beachtung fand. Mit großem Engagement geht Amandine Beyer auf Ungekanntes zu; selbst die Haltung ihres Instruments ist am historischen Vorbild Matteis" orientiert, wie sie klassik.com-Autor Prof. Kurt Witterstätter verriet. Und ganz nebenbei räumt sie mit so manchem Vorurteil auf, das man noch vor Jahren den so genannten "Müsli-Musikern" der Alten-Musik-Szene andichtete.
Frau Beyer, Sie gelten als Verfechterin der Historischen Aufführungspraxis. Wie wurden Sie Anhängerin der historisch orientierten Praxis, wer beeinflusste Sie besonders?
Mein Weg zur historischen Aufführungspraxis war etwas sonderbar. Ich fing mit vier Jahren in meiner Geburtstadt Aix-en-Provence mit der Blockflöte an, ohne zu ahnen, dass es sich dabei um ein altes Instrument handelt, und spielte das Übliche: Corelli, Telemann, Bach. Dann wechselte ich zur modernen Geige. Das ging alles parallel. Es verlief alles ganz normal, ohne dass mir bewusst wurde, dass es auch andere Musizierweisen gibt. Ich beendete in Paris mein modernes Geigenstudium. Danach fühlte ich mich etwas verloren. Ich ahnte, dass da etwas unvollständig war. Über einen Freund wurde ich auf die Schola Cantorum in Basel aufmerksam. Was ich von der Blockflöte her erfahren hatte, entdeckte ich dort von Neuem für die Geige. Das war eine Entdeckung und Erleuchtung für mich. Die entscheidenden Anstöße für die historische Musizierpraxis auch auf der Geige erhielt ich in Basel von meiner Lehrerin Chiara Banchini.
Normalerweise wird Alte Musik wegen der damals kleinen Aufführungsräume und Besetzungen heute sehr transparent und recht ‚dünn‘ gespielt. Sie aber entfachen ein großes klangliches Relief. Wollen Sie mit diesem suggestiven Klang zur historischen Spielpraxis überreden?
Ich finde, die Wirkung Alter Musik hängt sehr vom Raum ab. Es gab aber auch in früherer Zeit schon große Kirchen. Darum muss die Musik immer den Raum füllen. Der Interpret muss sich vergewissern, mit seiner Musik den Raum richtig auszufüllen. Die Leute sind heute gewohnt, in großen Lautstärken zu hören. Das will ich etwas herunterfahren. Darum muss man beides beherrschen: Sauber artikulieren und den Raum füllen, laut und leise zu spielen. Das kann man schon allein auf der Geige. Noch besser wird es, wenn andere Instrumente wie zum Beispiel Zinken hinzukommen. Ich liebe es bei Alter Musik, zu erfahren, wie die Instrumente in ihrer Zeit geklungen haben. Deshalb finde ich es schön, ohne Verstärkung zu arbeiten. Ich benutze Instrumente, wie sie in der Zeit der Entstehung der gespielten Werke gebräuchlich waren. So verwende ich den Nachbau einer Geige aus frühbarocker Zeit. Laute und leise – ich will die Leute in ein Bad von Klang eintauchen lassen.
Haben Sie keine Bedenken, langsame Barock-Sätze eher ‚gefühlig‘ und getragen zu spielen?
Ich habe da keine Bedenken. Wir spielen mal langsamer, mal schneller. Das hängt auch davon ab, wer im Ensemble mitspielt. Wir reagieren auch da im Ensemble aufeinander. Ich finde es schön, mal schneller zu spielen, aber auch, wenn wir uns Zeit nehmen, so dass man auch auf die anderen hören kann. Ich liebe deshalb auch den alten Klang mit Darmsaiten, weil man da auf die anderen hören kann.
Sie scheinen für jeden musikalischen Gedanken einen spezifischen Tonfall zu finden. Wie können Sie beim Spielen so schnell reagieren und umschalten?
Ich versuche, mich von den Noten inspirieren zu lassen. Manchmal ist das in meinem Kopf von Anfang an klar, manchmal eher weniger. Vieles von der Interpretation habe ich vorher entschieden. Es kann sich aber auch im Moment der Darbietung etwas ändern, denn in unserem Ensemble Gli Incogniti werfen wir uns die Bälle zu: Tempo, Zeit und Klangfarbe variieren wir auch einmal im Moment ganz spontan, wobei einer den anderen beeinflussen kann. Denn wir spielen bereits lange zusammen und haben da im Eingehen aufeinander gute Erfahrung.
Sie halten Ihre Geige nicht mit dem Kissen unters Kinn geklemmt, eher locker vor dem Schlüsselbein wie eine Fidel. Was bewirkt das? Wie stabilisieren Sie die Geige dabei für Finger- und Bogendruck?
Das ist besonders bei den Werken von Nicola Matteis der Fall, der diese Technik besonders anwandte, aber auch bei einigen anderen Stücken aus dem Repertoire des 17. Jahrhunderts. Das ist nicht ganz einfach, vor allem die Lagenwechsel machen Probleme; ich habe da aber eine gangbare Spielweise entwickelt. Meine Technik besteht darin, ohne Kinndruck zu spielen. Ich spiele auch ohne Kissen. Ich mache sogar ‚Werbung‘ für diese Spielweise. Leider ist sie etwas verloren gegangen. Viele von den alten Italienern haben so gespielt, heute tut es Sigiswald Kuijken. Auf vielen alten Bildern ist diese Spielweise dokumentiert. Das ist eine sehr entspannte Haltung.
In Ihrem Repertoire finden sich Nicola Matteis und Jean-Féry Rebel. Wie sind Sie an diese wenig bekannten Barock-Komponisten geraten? Und was zeichnet diese beiden Violinmeister aus?
Matteis war Neapolitaner. Man weiß wenig über ihn. Er machte sich praktisch zu Fuß auf den Weg nach England. Matteis spielte Geige und Gitarre, wie später Paganini. Er war eine sehr interessante Person. Er gab auch eine Gitarrenschule heraus, ein sehr interessantes Buch – auch für Harmonie und Continuo-Spiel. Ich habe ihn per Zufall über einen Geistlichen gefunden, indem ich nach dem Umfeld frühbarocker Kompositionen geforscht habe. Genauso bin ich auf Rebel gestoßen. Auch er ist für mich ein besonderes Fundstück, eine Überraschung. Rebel war Franzose und spielte in den ‚Vingt-quatre Violons du Roy‘. Berühmt ist seine Komposition ‚Les Éléments‘ für Orchester. Dabei handelt es sich um eine fantastische Bühnenmusik zu einem Schauspiel mit vielen Tanzsätzen.
Ganz zweckdienlich treten Sie im Ensemblespiel – auch bei Ihrem Ensemble Gli Incogniti – zugunsten Ihrer Mitspieler zurück. Haben Sie Pläne, künftig auch als Dirigentin zu arbeiten?
Ich habe keine Pläne zu dirigieren. Ich kann Impulse setzen. Aber führen können auch die, die gerade die entscheidenden musikalischen Aufgaben haben, sei es im Tutti oder Ripieno. So können auch die anderen führen, je nachdem, wer gerade dran ist und führende Gedanken zu spielen hat.
In Basel haben Sie sich auch mit dem modernen Klangexperimentator Karlheinz Stockhausen beschäftigt. Konnten Sie seinen komplizierten Ausführungen in Deutsch folgen?
Deutsch habe ich bereits in der Schule in Aix-en-Provence und zwar als erste Fremdsprache gelernt. Meine Schwester hatte auch schon mit Deutsch begonnen, da unsere Familie, wie schon der Name Beyer zeigt, aus dem Elsass kam. Ich habe leider einiges davon verloren. An der Schola Cantorum in Basel werden die drei in der Schweiz gebräuchlichen Sprachen gepflegt, also Deutsch, Französisch und Italienisch. Deutsch war für uns dann die Brücke nicht nur für Deutschland und Österreich, sondern auch für Tschechien, die Slowakei und Polen und zu den Menschen in Ungarn, das war sehr wichtig für mich. Die Basler Hochschule ist seit der Zeit von Fritz Neumeyer und August Wenzinger immer noch ‚in deutschen Händen‘, jetzt hat sie auch eine deutsche Direktorin und einen deutschen Stellvertreter, Regula Rapp und Thomas Drescher. – Über das Schaffen von Stockhausen habe ich eine Maîtrise [eine universitäre Abschlussarbeit, Anm. d. Red.] geschrieben. Ich habe viel über Stockhausen gelernt. Er war zwar, als ich studierte, selbst nicht mehr da, sondern hatte in Basel nur vor meiner Zeit gelehrt, und dann wieder in Köln. Aber viele seiner Materialien – Schriften und Partituren – sind in Basel vorhanden gewesen. Sie wären sonst zu teuer für mich gewesen. Das hat mich sehr fasziniert, seine Welt ist sehr interessant, er inspirierte viele von uns, sich für die Musik auch anderer Länder und Völker zu engagieren. Seine Interessen waren sehr breit.
Wie bewältigten Sie den Spagat zwischen Barockmusik und Stockhausen? Und haben Ihrer Meinung nach die beiden Epochen – Barock und 20. Jahrhundert – Gemeinsamkeiten?
In seinem Geist sah ich viel Verwandtes zum Barock. Ich erinnere mich an eine Äußerung von ihm: ‚Sie müssen nach dem Rhythmus Ihrer Körperzellen spielen!‘ Das finde ich spannend, und das entspricht gerade vielen Praktiken in der Barockmusik bis zu den Verzierungen. Das kommt im Moment alles sehr zum Zuge.
Ihr Musizieren wirkt freudig, gut aufgelegt und launig, voller Elan und Frische: Ist das ein Erbteil Ihrer hellen und vitalen Heimatstadt Aix-en-Provence?
Ja, bestimmt. Auch mit meinen ersten Musik-Erfahrungen als Vierjährige. Das war im Freien mit Spiel, Tanz, Musik, Improvisation und Schlagzeug. Das war aktives Musikmachen, eine frische Art, zu musizieren. Später hat mich dann auch der Aixer Hauskomponist André Campra fasziniert, und ich habe bei dem dort ansässigen Festivals d’Art Lyrique in der Zeit von Stéphane Lissner ein Campra-Projekt gemacht.
Können Sie beim Publikum in den mitteleuropäischen Ländern Deutschland/Österreich Unterschiede feststellen zur französischen Hörerschaft und der in romanischen Ländern?
Grundsätzlich: nein. Die Leute schätzen die verschiedenen Programmpunkte in Konzerten unterschiedlich ein. In Frankreich sind die Leute eher etwas neugierig. In Deutschland und in der Schweiz wird eher das traditionelle Repertoire geschätzt. Aber das ist sehr allgemein formuliert. Die Unterschiede sind sogar eher im selben Land von Ort zu Ort sehr groß.
Wo spielen Sie am liebsten? Und wo ist die Resonanz auf Ihre CD-Aufnahmen besonders hoch?
Ich habe da kein besonderes Lieblingsland. In Frankreich ist die Resonanz natürlich sehr hoch wegen des CD-Labels Zig Zag Territoires mit Sitz in Paris. In Deutschland vertreibt Harmonia Mundi unsere Aufnahmen. Wir sind viel auf den zahlreichen französischen Festivals unterwegs, die meistens sehr gut organisiert sind. Wir spielen aber auch viel in Deutschland, weniger in Italien – leider! Manchmal treten wir auch in Spanien auf. Ich lehre in Porto in Portugal und lebe im angrenzenden Galizien in Spanien. Ab Herbst habe ich einen Lehrauftrag für Barockvioline in Basel an der Hochschule. Ich finde das sehr wichtig. Ich werde dann zweimal im Monat für diesen Lehrauftrag in Basel sein.
Das Gespräch führte Prof. Kurt Witterstätter.
(06/2010)
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