Jirí Belohlávek auf der Suche nach musikalischer Wahrhaftigkeit
"Viele grasen nur noch ab"
Er ist so etwas wie der stille Star in der High Society international bedeutender Dirigenten. Viele im Musikgeschäft kennen seinen Namen, fast Jeder weiß von Jemandem, der ihn gehört und als etwas Besonderes in Erinnerung hat. Jirí Belohlávek ist vielleicht der bekannteste Geheimtipp unter den Spitzendirigenten. Er steht an den Pulten aller bedeutender Orchester von Berlin bis Chicago, von Tokio bis London. Seine interpretatorische Ernsthaftigkeit und seine aufrichtige Musikalität machen ihn zum geschätzten Orchesterleiter in der ganzen Welt. Zur internationalen Etablierung von Komponisten wie Bohuslav Martinů und Josef Suk hat er Bedeutendes beigetragen. Der gebürtige Prager Belohlávek und klassik.com Redakteur Felix Hilse nutzten eine Probenpause der Berliner Philharmoniker zu einem gemeinsamen Mittagessen und einem Gespräch über Frauen- und Armeeorchester, Klangschubladen und dirigentische Oberflächlichkeiten im 21. Jahrhundert.
Herr Belohlávek, Sie sind Jahrgang 1946, wurden im Prag der Nachkriegszeit geboren. Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, Dirigent zu werden?
Das liegt sicher darin begründet, dass ich aus einer sehr harmonischen Familie komme und bei uns viel Musik zu Hause gespielt wurde. Mein Vater war ein semi-professioneller Pianist, der sogar die Genehmigung des Kultusministeriums hatte, öffentlich zu konzertieren. Man musste einer staatlichen Kommission vorspielen, um diese Erlaubnis zu erhalten. Mit seinen Freunden hat er jeden Sonnabend bei uns zu Hause Kammermusik gespielt. Das war eine große Quelle des musikalischen Interesses für mich. Ich war auch ab meinem vierten Lebensjahr im Kinderchor, wo ich bis zum Stimmbruch zwölf Jahre lang sang. Dieser Chor stand dem Prager Philharmonischen Chor sehr nahe und wurde auch von dessen Gründer und Leiter Prof. Jan Kühn geführt. Dadurch haben wir oft mit den Prager Symphonikern und der Tschechischen Philharmonie gespielt, auch in Theater- und Opernproduktionen mitgesungen. Ich kann mich noch genau an eine Carmina Burana unter Leitung von Franz Konwitschy und an einige Projekte mit Serge Baudo erinnern. Dadurch bin ich schon in jungen Jahren vielen Persönlichkeiten der klassischen Musik begegnet. Und mein Vater hat liebenswürdigerweise versucht, mir das Klavierspiel beizubringen…
Ich höre heraus, dass dies kein freiwilliger Akt war…
Nein, ganz und gar nicht. Es stellte sich schnell als schlechte Idee heraus und mein Vater scheiterte als Lehrer an mir, und ich als Schüler am Klavier. Vielmehr war es Prof. Kühn, der mein musikalisches Schicksal entschied; er und meine Familie wohnten damals zufällig in der gleichen Straße in Prag. Wir sind einmal nach der Chorprobe im Trolleybus gemeinsam nach Hause gefahren, als er mich anschaute und sagte: „Du wirst Cello spielen!“ Das war keinesfalls eine Empfehlung sondern eine Art prophetische Ankündigung. Am folgenden Tag saß ich in Prof. Kühns Wohnzimmer und bekam ein Cello in die Hand gedrückt, dass man mir zum Üben lieh. So habe ich mit 11 Jahren begonnen, Cello zu spielen.
Sind Sie bei diesem Instrument geblieben?
Nach dem vielen Singen und den kläglichen Klavierversuch wurde das Cello zu meinem ersten und letzten professionellen Instrument. Ich kam nach zwei Jahren an das Prager Konservatorium und entwickelte sehr rasch ein Interesse für das Dirigieren, das ich bald als zweites Studienfach belegte. Mit 14 Jahren stand ich zum ersten Mal vor einem Orchester, das damals aus Mitstudenten des Konservatoriums bestand.
Was hat Sie als jungen Teenager bewogen, nicht nur Cellist sein zu wollen, sondern als Dirigent vor einem Ensemble zu stehen?
Es waren Äußerlichkeiten. Ein natürliches Bedürfnis, Menschen anzuleiten gehört auch dazu, aber zunächst stand für mich im Vordergrund, dass Dirigieren schön aussieht und es angenehm ist, mit harmonischen Bewegungen Musik spielen zu lassen. Hinzu kam, dass mein Vater mich in meinen dirigentischen Ambitionen sehr unterstützte. Er war eine sehr begabter Blattspieler und hat mir zu Hause sämtliche daheim verfügbaren Opern vorgespielt und vorgesungen. Das hatte für mich den wertvollen Effekt, dass ich das große Opernrepertoire früh kennen lernte, es gehört und gelesen hatte und einen wichtigen Außenblick auf die Werke erfuhr.
Haben Sie damals Ihre schulische Laufbahn für die künstlerische Ausbildung geopfert?
Nein, das war auch nicht nötig. Am Konservatorium hatte ich einen ganz normalen Schulalltag, an den sich die musikalische Ausbildung am Nachmittag anschloss. Wir haben also Abitur gemacht und parallel Musik studiert. Sie können dies mit den Spezialschulen für Musik in der ehemaligen DDR vergleichen. Nach dem Abitur folgte noch ein reines Dirigierstudium an der Prager Akademie der Künste.
Sie haben den Taktstock komplett gegen das Cello getauscht?
Nun, 1966 habe ich mein Cellostudium abgeschlossen und noch zwei Jahre lang versucht, eine kammermusikalische Karriere aufzubauen. Wir hatten ein Duo und ein Trio gegründet und konzertierten sehr viel. Mein erstes Konzert in Berlin hatte ich übrigens Ende der Sechziger Jahre als Cellist in der Kammermusikreihe im Berolina-Haus. Schnell zeichnete sich jedoch ab, dass Dirigieren und solistisch Musizieren zeitlich nicht vereinbar waren. Man kenn eben nicht auf zwei Stühlen zugleich sitzen. So habe ich 1967 das Orchester Puellarum Pragensis übernommen, ein reines Frauenorchester, das sich aus Studentinnen und Absolventinnen des Konservatoriums zusammen setzte und absolut professionell arbeitete. Das war der perfekte Einstieg für mich; eine große Probebühne, auf der ich Schritt für Schritt lernen durfte, wie man richtig probt, wie man musikalische Ideen nachhaltig vermittelt.
Wie groß war dann noch der Schritt bis vor die großen professionellen Sinfonieorchester der Tschechoslowakei?
Zunächst wurde ich noch während des Studiums erster Kapellmeister des Theaters in den Weinbergen (Divadlo na Vinohradech), ein Theater für Schauspiel, das auch ein kleines Musikerensemble von 20 Mitgliedern hatte. Wir spielten viel Operette und Jazz, alle denkbaren musikalischen Stile wurden hier gepflegt. Als ich 1970 den Dirigierwettbewerb des tschechischen Kultusministeriums gewann, öffneten sich neue Türen für mich, weil an den Preis einige Einladungen zu großen Orchestern gebunden waren. So kam ich 1972 als Assistent zu Vaclav Neumann an die Tschechische Philharmonie in Prag. Im gleichen Jahr wurde ich Dirigent der Philharmonie in Brno und ab 1978 Chefdirigent der Prager Symphoniker.
Lassen Sie uns kurz einen Blick auf das tschechische Musikleben der Gegenwart werfen: Welches sind heute die beachtenswerten musikalischen Zentren der Tschechischen Republik neben den Traditionsschauplätzen Prag und Brno?
Natürlich spielt sich das über die Landesgrenzen hinaus beachtete Musikleben vor allem in diesen beiden Großstädten ab. Aber es gibt kleinere Städte, in denen künstlerisch Beachtliches geleistet wird. Dazu gehört Ostrava mit einem guten Opernhaus und einem sehr guten Orchester, der Janacek-Philharmoie, die auch international viel konzertiert. Vergessen darf man auch nicht die Bohuslav-Martinu-Philharmonie in Zlin, die auf sehr hohem Niveau spielt. Und in Olomouc steht noch immer ein sehr traditionsreiches Opernhaus.
Sind Sie noch regelmäßig als Dirigent in Ihrer tschechischen Heimat zu erleben?
Ich bin derzeit sehr wenig in Tschechien tätig. Als Ehrendirigent der Prag Philharmonia leite ich dieses Orchester natürlich noch gelegentlich, habe aber meinen Chefposten dort nach elf sehr engagierten Spielzeiten an einen meiner Schüler abgegeben und möchte dem Orchester und meinem Nachfolger genügend Raum geben, neue Wege zu gehen. Als Gast gebe ich zwei bis drei Konzerte im Jahr mit der Tschechischen Philharmonie und mache alle drei Jahre eine Opernproduktion am Nationaltheater in Prag - das nächste mal im Jahr 2009. Mehr jedoch nicht. Meine internationalen Verpflichtungen sind sehr umfangreich und die Position als Chef des BBC Orchesters in London verlangt eine hohe Präsenz, da bleibt wenig Zeit.
Wie ist es aus Ihrer Sicht um den tschechischen Dirigentennachwuchs bestellt? Man hörte viele Jahre recht wenig von Dirigenten aus Tschechien, von Ihrer Person einmal abgesehen.
Die politische Wende 1989, der Zusammenbruch des Warschauer Paktes hat aus meiner Sicht ein großes Loch in die lange Tradition tschechischer Dirigenten gerissen. Ich glaube, dass die Unsicherheit in der Gesellschaft dieser Zeit sich auch in der Musikerausbildung und Musikerförderung niederschlug. Man konzentrierte sich zunächst viel auf Künstler aus der ganzen Welt, die auf einmal verfügbar waren und vergaß ein wenig den eigenen musikalischen Nachwuchs. So haben wir ein gewisses Loch bei der Dirigentengeneration nach mir produziert. Heute hat sich dies wieder gewandelt. Es kommt derzeit eine Generation junger Dirigenten, alle um die 30 Jahre alt, darunter auch einiger meiner Schüler, die durchaus vielversprechend ist. Vielleicht sollte man diese drei Namen nennen: Jakub Hrůša, der ab nächster Spielzeit mein Nachfolger bei der Prag Philharmonia wird und derzeit noch Chefdirigent in Zlin ist; Tomas Hanus - er ist neuer Chefdirigent der Opern in Brno - und Tomas Netopil, der vor allem in Italien als Operndirigent sehr gute Arbeit leistet.
Zuletzt war die Tschechische Philharmonie vor allem wegen politischer Streitereien und häufiger Dirigentenwechsel in aller Munde. Jüngst hat Zdenek Macal seinen Chefposten aufgegeben, vor ihm schied Gerd Albrecht in Unfrieden. Ist die Philharmonie ein besonders komplizierter Klangkörper?
Es ist in der Tat verstörend, dass die Wechsel an der Spitze des Orchesters so häufig kommen. Für mich ist dies ein deutliches Zeichen, dass der Organismus nicht richtig funktioniert. Die Tschechische Philharmonie ist keinesfalls ein besonders schwer zu leitendes Orchester. Am Podium fühle ich mich dort immer sehr wohl. Das Problem besteht vielmehr in einem recht intriganten administrativen Umfeld, das ein kontinuierliches Arbeiten sehr schwer macht.
Es gibt im Prager Kulturraum eine große Anzahl an Klangkörper teils hervorragender Qualität. Was bewog Sie 1994 die Prag Philharmonia zu gründen?
Ausgangspunkt der Gründung war ein Zufall. Das Verteidigungsministerium hatte zu Zeiten der Tschechoslowakei ein Sinfonieorchester der Armee betrieben, was vor allem für die Musikhochschulabsolventen hervorragend war. Sie konnten dort ihren zweijährigen Armeedienst verrichten. Auch ich habe als Soldat das Orchester zwei Jahre dirigiert. Dieses Ensemble wurde Anfang der Neunziger Jahre aufgelöst. Nun stand man vor der Frage, was mit dem eingesparten Geld passieren sollte. Ladislav Simon, ein tschechischer Komponist, sehr guter Arrangeur und hervorragender Organisator, bekam davon Wind und hat versucht, die Verantwortlichen des Verteidigungsministeriums zu überzeugen, dass es doch für die Reputation des Ministeriums großartig wäre, wenn man mit dem Geld ein professionelles Kammerorchester unterstützte. Danach kam er zu mir und bat mich, dieses Orchester zu leiten.
Und Sie haben das Angebot angenommen?
Als ich hörte, dass die Armee involviert ist, habe ich sofort abgelehnt. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Doch Simon blieb hartnäckig und erreichte tatsächlich, dass es ein Kammerorchester mit 45 festen Stellen geben würde, die nicht mit Musikern des alten Orchesters besetzt werden müssten, sondern komplett neu aus den besten verfügbaren Kräften Tschechiens rekrutiert werden sollten. Diese einmalige Chance würde allerdings vertan, wenn ich nicht bereit wäre, die Ensembleleitung zu übernehmen. Das wollte ich meinen Gewissen nicht zumuten und ich bin eingestiegen. Doch das Arbeiten war nicht einfach, denn nach neun Monaten wechselte die Besetzung des Verteidigungsministeriums, die das ganze Projekt sofort wieder in Frage stellte und das Geld strich. Da standen wir nun, mit einem nagelneuen, hervorragenden Orchester ohne feste Finanzierung. Wir entschlossen uns, das Projekt als gemeinnütziges, privat finanziertes Ensemble weiter zu führen. Und so ist es bis heute geblieben.
Der tschechische Staat unterstützt das Orchester finanziell also nicht?
Mittlerweile fließt wieder ein wenig Geld vom Staat, doch am Anfang wurde alles gestoppt. Wir haben uns durch Sponsoren und unsere Konzerttätigkeit selbst getragen. Allein durch das Konzertieren haben wir 72% unserer Kosten refinanziert. Eine eigene Konzertreihe im Prager Rudolfinum wurde aufgebaut, die mittlerweile in ihrer 13. Saison ist. Wir hatten auch das Glück, sehr schnell im Ausland spielen zu können, was erheblich zum Erfolg und Weiterbestand des Orchesters beitrug. Trotzdem ist es Jahr für Jahr ein Kampf ums Überleben, den wir stets optimistisch angehen und bisher immer gewannen. Rückblickend muss ich sagen: Es war eine tolle Zeit mit der Prag Philharmonia, nicht zuletzt weil das Arbeiten mit den besten jungen Musikern Tschechiens so fruchtbar war. Jedes Probespiel war ein wirkliches Ereignis, das Niveau war beglückend hoch. Es bewarb sich ja die Crème de la crème des tschechischen Nachwuchses bei uns. Zu sehen, dass es eine junge Generation von Musikern gibt, die hungrig auf fokussiertes und kreatives Musizieren ist, war ein großes Glück.
Garantiert eine Stelle bei der Prag Philharmonia dem Musiker eine gute ökonomische Situierung?
Zu Beginn unserer Arbeit war das Einkommen der Musiker für tschechische Verhältnisse sehr gut. In den ersten Jahren lagen die Gehälter deutlich über denen, der Musiker der Tschechischen Philharmonie. Mittlerweile hat sich dies leider wieder nach unten korrigiert. Musiker in Tschechien verdienen allgemein nicht besonders gut. Daher sind Anstellungen selbst in Spitzenorchestern wie der Tschechischen Philharmonie für ausländische Musiker absolut nicht lukrativ.
Wenn man die von Ihnen dirigierten Programme betrachtet, fällt auf, dass Sie sich zumeist im Repertoire zwischen Mozart und Mahler bewegen. Dagegen vermisst man in Ihren Konzerten Musik der Moderne, zeitgenössische Avantgarde und Musik vor Mozart. Vermute ich zurecht, dass es sich um eine vorsätzliche Entscheidung handelt, dieses Repertoire zu meiden?
Ja, das ist Absicht. Die ganze Entwicklung der historischen Aufführungspraxis, der Originalklangbewegung hat solche Maßstäbe im Bereich der Musik um und vor Mozart gesetzt, dass man mit Ihnen nur durch Spezialisierung konkurrieren kann. Natürlich kann man auch heute noch mit einem modernen Orchester im Konzert eine Bach-Suite aufführen, wie dies noch in den 1970er Jahren üblich war. Doch würde man nie die technische und stilistische Klarheit erzielen, die die Spezialensembles lägst zum Maßstab gemacht haben.
Dass heißt, wenn Sie bspw. eine Bachkantate mit Philippe Herreweghe gehört haben, die Sie als Dirigent überzeugt, möchten Sie das Werk selbst besser nicht mehr aufführen?
Genau das heißt es, und ich habe ein schönes Beispiel dafür. Ich wollte nächstes Jahr in London Haydns Die Schöpfung mit dem BBC Orchester machen. Dann hörte ich die Aufnahme dieses Werkes mit Gardiner und empfand sie als so schön und so vollkommen, dass ich das Projekt abgesagt habe. Die Sinfonien Haydns dirigiere ich weiter, erst jüngst in London. Sie bieten aus meiner Sicht genug Raum für einen stilistischen Mittelweg. Aber diese großen Chorwerke gestalten die Spezialisten auf so bewundernswerte Weise, da möchte ich mich nicht einmischen.
Wie weit wagen Sie sich ins zeitgenössische Repertoire vor?
In London mache ich verhältnismäßig viel Neue Musik. Allein in der letzten Spielzeit habe ich vier Uraufführungen dirigiert. Letzte Woche gab es die Britische Erstaufführung von Jörg Widmans ad absurdum mit Sergei Nakariakov als Solisten. Ich gebe zu, dass diese Art Musik, die Widman hier schreibt, nicht meinen Idealen entspricht. Man kann in diesem Stil sicher komponieren, doch empfinde ich das musikalische Material schnell als erschöpft und uninteressant. Es ist für einen Dirigenten heute schwer geworden, Zeitgenössisches so zu dirigieren, dass man den Intentionen des Komponisten voll genügt. Die Werke sind vollgepackt mit Metaphysischem und erfordern ein detailliertes Wissen um viele, auch außermusikalische Bereiche.
Braucht Zeitgenössische Musik also Spezialisten, die Sie aufführen - ähnlich der Alten Musik?
Ich habe in London mit David Robertson als erstem Gastdirigenten einen absoluten Fachmann für Zeitgenössisches an meiner Seite und bin sehr froh, dass wir uns so wunderbar ergänzen. Spezialisierung lasse ich auch in diesem Bereich sehr gerne zu. Es ist keinesfalls so, dass ich mich der Neuen Musik verschließen würde, aber ich habe immer noch sehr viel Raum für die Komponisten, die mir besonders am Herzen liegen.
Welche sind das?
Das sind natürlich zunächst die großen Sinfoniker Mahler, Bruckner, Brahms und Beethoven. Es ist ja so, dass sie als international tätiger tschechischer Dirigent sehr schnell in die Schublade mit Fachleuten für tschechische Musik gesteckt werden. Daher habe ich immer darauf geachtet, dass die großen Sinfoniker stets in meinem Repertoire sind. Natürlich bin ich sehr froh, dass die tschechische Musik von mir immer verlangt wird. Es ist ein großes Glück, dass wir Tschechen eine solch große Schatztruhe mit hervorragenden Kompositionen von großen Komponisten haben. Ich möchte auch in Zukunft Kraft darauf verwenden, heute weniger bekannten tschechische Komponisten zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Für Komponisten wie Josef Suk und Bohuslav Martinu haben Sie bereits wichtige Pionierarbeit geleistet. Ihr Engagement für diese bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts hat erheblich dazu beigetragen, dass sich Kompositionen der beiden im Repertoire vieler großer Orchester finden lassen. Auf welche anderen Komponisten haben Sie darüber hinaus ein Auge geworfen?
Es gibt noch kleine Lücken. Wir nehmen zum Beispiel jetzt für Supraphon mit dem BBC in London die zwei Violinkonzerte des heute auch bei uns fast vergessenen tschechischen Komponisten Josef Bohuslav Foerster auf, einem Freund Gustav Mahlers, dessen Stil eine Mischung aus der Musik Josef Suks und Antonin Dvoraks ist.
Lassen Sie mich kurz eine dieser gern genutzten Schubladen öffnen und nach einem charakteristischen tschechischen Orchesterklang fragen. Sie dirigieren alle bedeutenden Spitzenorchester und kennen daher viele Klangtraditionen. Gibt es aus Ihrer Sicht einen böhmisch-slawischen Sound?
Diese Frage wird mir sehr oft gestellt und ich gebe zu, dass ich mich vor einer Beantwortung immer scheue. Vielleicht bin ich kein besonderer Fuchs für diese Dinge. Was ich als wichtigste Eigenschaft des tschechischen bzw. böhmischen Musikantentums sehe, ist die Fähigkeit, melodische Linien aussingen und intensiv gestalten zu können, basierend auf einem sehr kernigen, rhythmischen Fundament. Das sind zwei wichtige und typische Charakteristika. Vielleicht kann man auch sagen, dass im Orchestersatz die Holzbläser vordergründiger agieren und mit präsenterem Klang auftreten, als vielleicht in der französischen Orchestertradition. Und wenn Sie auf die Hörner achten, werden Sie erleben können, das dort mit sehr viel Vibrato gespielt wird.
Lassen Sie mich die Frage anders stellen: Gibt es einen idealen Orchesterklang, den Sie im Kopf haben, wenn Sie vor einem Ensemble stehen?
Natürlich habe ich eine bestimmte Vorstellung, wenn ich vor einem Orchester stehe, die dann zunächst auf das trifft, was das jeweilige Ensemble von sich aus anzubieten hat. Danach beginnt im Idealfall ein Austausch, eine Angleichung der verschiedenen Ideen und Impulse. Auch ich lasse mich natürlich von den klanglichen Besonderheiten eines Orchester anregen und empfinde die gegenseitige Wechselwirkung als wichtigen Vorgang. In London haben Sie beispielsweise diese einmalige Pracht der Blechbläser, die gleichzeitig auch enorm elastisch spielen. In Bezug auf die Streicher mache ich immer wieder eine interessante Erfahrung: Egal wo ich dirigiere, ob in London, Chicago oder jetzt dieser Tage bei den Berliner Philharmonikern, überall muss ich das Gleiche von den Streichern einfordern: eine konsequente Kantabilität. Hier in Berlin bekommt man diesen Wunsch sehr schnell erfüllt, schneller als bei allen anderen Orchestern.
Es ist erfreulich, dass Sie dies anmerken. Vor etwas mehr als einem Jahr gab es in der Fachpresse eine recht nutzlose Debatte über den vermeintlichen Verlust der klanglichen Individualität und Flexibilität der Berliner Philharmoniker…
Ich habe davon zum Glück nichts mitbekommen. Seit 1988 dirigiere dieses Orchester regelmäßig und könnte solche Behauptungen nicht nachvollziehen. Wenn Sie einen warmen, voluminösen und weichen Klang vom Orchester einfordern, dann bekommen Sie ihn auch. Bei den Berlinern schneller als bei allen anderen Klangkörpern. Sicher ist es interessant, dass solch ein Sound nicht von alleine angeboten wird. Doch bestätigt dies eine meiner zentralen Erfahrungen als Dirigent: Von alleine kommt nichts. Sicher soll man aufgrund der unterschiedlichen Niveaus von Orchestern im Detail differenzieren, ein Dirigent muss jedoch immer eine klare musikalische und klangliche Vorstellung formulieren und diese teilweise mit viel Aufwand durchsetzen. Man ließt oft, dass sich die Klangeigenschaften internationaler Orchester einander angleichen. Diese Beobachtung kann ich bestätigen.
Woran mag das liegen?
Ich denke es liegt am intensiven Austausch von Informationen. Heute hört jeder Musiker beliebig viele andere internationale Orchester. Wir wissen ja wie das Ohr sich gerne anpasst. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass die Dirigentenqualität in der Breite abgenommen hat. Sicher ist es kein Zufall, dass bei den wichtigen internationalen Orchestern oft die gleichen fünf bis acht Dirigentennamen zu finden sind. Und der dirigentische Nachwuchs wird im 21. Jahrhundert schnell zum Star gekürt, ohne dass er diesem Status gerecht werden könnte. Zu oft ist es heute so, dass hoch gehandelte Dirigenten sich auf ihrem vorhandenen Genius früh ausruhen und die oberste Schicht dessen abgrasen, was ein Spitzenorchester von sich aus anbietet. Das Ergebnis ist natürlich auf den ersten Blick sehr gut. Sich mit dieser obersten Schicht zufrieden zu geben, ist auch viel einfacher und populärer als mehr von einem Orchester zu verlangen. Aber mittelfristig langweilen sie damit die Musiker ebenso, wie die Hörer. Musik wird so nur noch oberflächlich dargeboten.
Als ich kürzlich den Cellisten Jean-Guihen Queyras für ein Gespräch traf und auf wir seine Einspielung mit Dvoraks Cellokonzert zu sprechen kamen, die er mit Ihnen und der Prag Philharmonia gemeinsam machte, konnte er gar nicht mehr aufhören von Ihnen zu schwärmen…
Die Erfahrung des gemeinsamen Musizierens mit Jean-Guihen Queyras bei dieser Einspielung ist auch mir in ganz besonderer Erinnerung geblieben. Es fühlte sich an, als ob wir schon seit 100 Jahren zusammen spielen würden; Musizieren hat in solchen Fällen etwas Wahrhaftes. Da ist nichts künstlich gebastelt, sondern man spricht eine gemeinsame Sprache und interagiert auf befruchtende Weise. Solch eine natürliche Übereinstimmung ist selten und von daher besonders wertvoll.
War das gemeinsame Musizieren mit Cédric Tiberghien im ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms, das dieser Tage auf CD erscheint, aus Ihrer Sicht von ähnlicher Natürlichkeit?
Wir haben sicher verschiedene Herangehensweisen an Brahms Musik. Ich bin stark geprägt von meinen gemeinsamen Brahmsprojekten mit Ivan Moravec, der beide Ausdruckextreme für meinen Geschmack perfekt getroffen hat: die wuchtige Schwere der Struktur und die subtile Gesanglichkeit des langsamen Satzes. Seine durchdachte musikalische Linienführung ist für mich exemplarisch im Brahms-Fach. Dagegen ist Cédric Tiberghiens Brahms eher ein Leichtfüßer, ein schwärmerischer Ansatz à la Chopin, an den ich mich ein wenig gewöhnen musste. Wir haben beide darüber gesprochen und ich habe ihm einige Tipps gegeben. Das Ergebnis ist eine Art Kompromiss, mit dem wir beide gut Leben können.
Müssen wir zukünftig auf Aufnahmen von Ihnen und der Prag Philharmonie verzichten?
Auch wenn ich bei der Prag Philharmonia als Chef aufgehört habe, werden wir die Zusammenarbeit mit harmonia mundi fortsetzen. Eine Platte mit Werken Bohuslav Martinus ist bereits aufgenommen. Hier spielen wir wieder gemeinsam mit der wunderbaren Isabell Faust, und auch Cédric Tiberghien ist in Martinus Toccata mit von der Partie.
Werden Sie sich auch weiter der Oper widmen?
Ganz bestimmt. Es gibt immer wieder sehr spannende Angebote. Im kommenden Jahr werde ich in der Metropolitan Opera eine Neuproduktion von Tschaikowskys Eugen Onegin und die Wiederaufnahme von Dvoraks Rusalka leiten. Gerade die Rusalka liegt mir doch sehr am Herzen. Sie steht nicht oft auf den Opernspielplänen und wird selten ‚wahrhaftig’ dargeboten. Sie ist viel mehr als ein Märchen; für das Verständnis des Werkes ist unabdingbar, die Doppeldeutigkeit der Partitur auch in der szenischen Realisierung wieder zu finden. 2009 darf ich eine Neuproduktion dieser Oper in Glyndebourne leiten. Das wird sicher fantastisch.
Bleibt bei der Vielzahl Ihrer Verpflichtungen noch Zeit, um selbst zu unterrichten?
Theoretisch ja, praktisch ist es weniger geworden, da ich eben nur noch selten in Prag bin. Ich habe jedoch immer noch die Leitung der Dirigentenklasse an der Prager Akademie der Künste inne.
Worauf kommt es aus Ihrer Sicht bei der Ausbildung von jungen Dirigenten besonders an, damit diese später vor einem Orchester bestehen können?
Es gibt zwei Bereiche: das Praktisch-Handwerkliche und das Charakteristisch-Persönliche. Das Handwerk, der praktische Teil des Dirigierens, bestehend aus Schlagtechnik und Gestik, ist klaren Regeln unterworfen, die man lehren kann. Die Ausbildung einer musikalischen Prägung, das Erarbeiten und Vermitteln einer musikalischen Idee, eines interpretatorischen Konzepts ist jedoch der weitaus wichtigere Teil der dirigentischen Arbeit und dieser ist leider kaum lehrbar. Hier kann ich dem Studenten Vorschläge unterbreiten, ihm Beispiele zeigen und diese Diskutieren. Das Wesentliche muss jeder für sich selbst erarbeiten und herausfinden, natürlich mit der Hilfe von Pädagogen und durch praktische Erfahrung. Wenn sie als Gast vor einem Orchester stehen, entscheiden meist die ersten Minuten der Probenarbeit darüber, ob man ihnen in den kommenden zwei Probentagen zuhören und ihre Ideen umsetzen wird oder ob das Ensemble sie als Dirigenten ablehnt. Es bedarf großer Flexibilität und psychologischer Führungsqualitäten, um wach auf die Charakteristika eines Orchesters zu reagieren. So etwas lernen Sie meist erst durch vieljährige Erfahrung; manch einer auch nie. Ich bin in solchen Fällen sehr ehrlich und rate Studenten immer wieder davon ab, den Dirigentenberuf zu ergreifen, wenn ich solche Defizite erkenne.
Wie lässt sich das Familienleben mit Ihrer großen Reisetätigkeit vereinbaren?
Wir haben uns alle über viele Jahre daran gewöhnen können und kommen gut zurecht damit. Meine beiden Töchter sind längst aus dem Haus und haben einen Beruf ganz ohne Musik ergriffen. Ich selbst pendle immer zwischen London und Prag und meine Frau begleitet mich auf meinen Reisen so oft es die Zeit und ihre Lust zulassen.
Sind Sie, wie viele Ihrer Landsleute, der tschechischen Nationalsportart Eishockey verfallen?
Nein, das nicht. Ich kann allerdings auf Schlittschuhen stehen und verfolge das Geschehen auch interessiert; im Fußball ebenso. Es ist aber kein wirkliches Hobby von mir. Ich freue mich jedoch immer wieder auf das Skilaufen im Winter, bevorzugt im Riesengebirge, wo man ja stundenlang einsam durch die verschneiten Wälder skaten kann. Es ist herrlich dort.
Das Gespräch führte Frank Bayer.
(11/2007)
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