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Montag, 2. Oktober 2023

Photo: Monika Rittershaus

Alexander Melnikov fürchtet das Publikum und liebt Rachmaninow

Kein Russe fürs Russische


Es ist der zweite Tag des Jahres 2008. Im kalten, verkaterten Berlin türmen sich auf den Fußwegen die Abfallspuren des jüngst verstrichenen Jahreswechsels. Ich bin zum Mittagessen mit Alexander Melnikov verabredet, jenem jungen Pianisten aus Moskau, der seit einigen Jahren als musikalischer Partner von Isabelle Faust immer wieder von sich reden macht. 2006 veröffentlichte er das erste Solo-Album und wurde für seine Skrjabin-Interpretationen gefeiert. Nun erscheint seine zweite Recital-CD, die sich dem Spätwerk Sergej Rachmaninows widmet. Über diese Produktion wollen wir reden, genauso über seine Karriere und darüber, wie er wurde was er ist.

In der heimeligen Atmosphäre von ‚Papa Pane‘ - einer Empfehlung eines italienischen Freundes, die jedem wärmstens weiterempfohlen sei - plaudern wir jedoch zunächst über italienische Autos und deutsche Barockorchester…

… Haben Sie diesen neuen Don Giovanni gehört?

Sie meinen die Einspielung mit Rene Jacobs und dem Freiburger Barockorchester?

Sensationell! Ich bin ein ganz großer Fan des Freiburger Barockorchesters. In meinen Augen sind sie vielleicht das beste Originalklangensemble überhaupt, auch wenn ich oft und gerne mit Concerto Cöln gespielt habe, und das auch regelmäßig tue. Wobei auch die Kölner großartig sind und ich immer sehr gerne mit ihnen konzertiere.

Die Freiburger verfügen bekanntlich über eine Reihe ganz ausgezeichneter Solisten…

Dann kennen Sie sicher auch Teunis. Wir haben gerade eine wunderbare Produktion mit einer Violinsonate und dem Horn-Trio von Johannes Brahms mit Isabelle Faust als Violinistin und Teunis van der Zwart, dem Hornisten des Freiburger Barockorchesters, gemacht. Ich habe das Gefühl, uns ist mit dieser Platte, auf der wir Originalinstrumentarium der Brahmszeit verwenden, etwas ganz Besonderes gelungen. So haben Sie Brahms auf CD vielleicht noch nicht gehört. Ich bin ein ganz großer Fan von Teunis, er ist ein fantastischer Hornist. Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich eine gewisse Affinität zum Horn. Ich kann mich gut erinnern, dass ich immer eine Kassette mit den Hornkonzerten von Mozart gehört habe, auf der Peter Damm spielte. Diese Musik fasziniert mich bis heute aus irgendeinem Grund. Vielleicht lag es daran, dass ich damals meinen ersten Stereo-Kassettenrecorder bekam und genau zwei Kassetten hatte: die Mozart Konzerte Mit Peter Damm und das berühmte Schubert C-Dur Streichquartett mit Pablo Casals und Isaac Stern.

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Was hat dazu geführt, dass Sie dann nicht Hornist sondern Pianist geworden sind?

Ich habe absolut keine Ahnung; es muss wohl ein wirklich unglücklicher Zufall gewesen sein (lacht laut). Natürlich komme ich aus einer Kultur affinen Familie, ohne dass meine Eltern jedoch Musiker wären. Meine Mutter ist Philologin und mein Vater ein Mathematiker. Allerdings waren meine beiden Großeltern Komponisten, doch starb meine Oma als ich drei Jahre alt war und meinen Großvater habe ich nie kennen gelernt, da er schon 1947 von uns ging. Einen praktischen Einfluss habe ich also von beiden nicht bekommen. Allerdings ist meine ältere Schwester Pianistin und Komponistin geworden. Sie lebt seit vielen Jahren hier in Berlin. Ich kann mich gut erinnern, dass es immer eine wunderbare Einschlafhilfe war, sie üben zu hören. Vielleicht habe ich durch sie unterbewusst einen Auftrag erhalten, Klavier zu lernen. Im Alter von sechs ging es für mich damit los. Übrigens spiele ich auch ein wenig Posaune. Das kommt daher, dass ich als Jugendlicher absolut verrückt war nach Mahlers dritter Sinfonie, in der es ja dieses große Posaunensolo gibt. Ein Freund schenkte mir damals eine alte russische Posaune, auf der ich dann alleine übte. Ich habe jedoch nie Unterricht bekommen.

Sie haben mit sechs Jahren mit dem Musizieren angefangen. Wie lange hat es gedauert, bis sich abzeichnete, dass das Klavierspiel weit mehr sein könnte, als nur ein Hobby zu Kindheitszeiten?

Nun, ich habe auf der zentralen Musikschule in Moskau meinen ersten Unterricht erhalten. Wenn Sie an dieser Schule angenommen werden, ist Ihr Berufsweg schon ziemlich festgelegt: Sie sollen Musiker werden und Musik studieren. Genau genommen war es so, dass ich zunächst ein halbes Jahr privat Unterricht erhielt und dann die Aufnahmeprüfung machte. Dort spielte man einen Satz aus einer Mozart Sonatine und etwas von Clementi.

Und diesen Schritt, diese Entscheidung haben Sie freiwillig getroffen?

Wissen Sie, man hört immer wieder von vielen Eltern, deren Kinder schon in jungen Jahren Musik machen, dass ihr Kind dies allein aus innerem Antrieb und absolut freiwillig machen würde. Meine Eltern waren Gott sei Dank nie so. Natürlich wollte ich nicht nur Klavierspielen, sondern auch Fußball. Eine solche Entscheidung treffen zunächst immer die Eltern für einen; ein Kind von sechs Jahren kann die Tragweite eines solchen Schritts gar nicht alleine einschätzen. Aber ich habe vor allem gute Erinnerungen an die Zeit an der Musikschule. Man bleibt dort 11 Jahre und wechselt danach für weiter fünf an das Tschaikowsky Konservatorium.

Dort wurden Sie elf Jahre lang von Lew Naumow unterrichtet…

Genau, Lew Naumow war von der fünften Klasse an bis zu meinem Abschlussexamen mein Lehrer, ohne dass ich sagen könnte, es hätte eine Zeit der Streits oder der Differenzen gegeben. Er ist ein fabelhafter Musiker, vielleicht kein besonders guter Lehrer, weil er sehr stark seine eigenen, subjektiven Sichten vermittelt und diese auch sehr streng einfordert, doch habe ich bei ihm vor allem musikalisch sehr viel gelernt. Nach dem Examen bin ich dann für ein Jahr nach München zu Elisso Wirssaladze. Bei ihr zu lernen, war immer einer meiner größten Wünsche gewesen, auch wenn das Jahr in München insgesamt wenig glücklich verlief.

War Naumow stark einer Musiziertradition verpflichtet, die wir heute gerne als russische Schule bezeichnen?

Gibt es eine russische Schule überhaupt? Ich höre diese Stereotypen recht oft und kann mir unter der Bezeichnung immer wenig vorstellen. Viele antworten dann, dass Svjatoslav Richter ein typischer Vertreter dieser Schule sei. Für mich hat Richter eine ganz eigene, unvergleichliche Tonsprache, die so individuell ist, wie vielleicht sonst noch die eines Glenn Gould. Aber was daran nun typisch russisch sein soll, kann ich nicht verstehen. Aber um auf Ihre Frage zu kommen: Naumow war der Vertreter einer ganz traditionell romantischen Musizierweise, wie Sie in den sechziger und siebziger Jahren stark verbreitet war. Diese Art zu spielen, ist in der heutigen Zeit natürlich etwas antiquiert. Immer wenn ich erlebe, dass Schüler seine Art zu spielen in Konzerten kopieren, werde ich ganz traurig. Es ist ein wenig so, als würde man versuchen, einen toten Körper wieder zu beleben anstatt sich eigene Gedanken zu machen, die natürlich auf Naumows Musizierstil basieren können.

Wie kam es zu der Begegnung mit Alexej Lubimow? Sie beide haben ja eine ganze Weile zusammen gearbeitet.

Schon in jungen Jahren hatte ich dieses besondere Interesse an den Musizierweisen und Instrumenten der Originalklangbewegung. Und in Moskau ist Lubimow für diesen Bereich natürlich die absolute Nummer eins, an ihm kommt niemand vorbei. Er ist selbst ein ehemaliger Naumow Schüler, so dass ich ihn nach einem seiner Konzerte ansprach, er mir Unterricht gab und wir in der Folge auch einige Programme gemeinsam in Konzerten spielten.

War Lubimow auch der Grund für Ihre besonderes Interesse an der Alte Musik Bewegung?

Nein, meine Begeisterung für diese Bewegung begann viel früher, ausgelöst durch einen befreundeten Geiger, der sich mit den besonderen Spielweisen und dem Repertoire beschäftigt hatte. Bis heute ist diese Bewegung in Russland nicht sonderlich lebendig. In Sankt Petersburg beschäftigt man sich etwas mehr mit diesem Bereich, aber in Moskau sind sie als Anhänger der historischen Aufführungspraxis auch heute noch ein Exot. Mein besonderes Interesse an diesem Metier war auch der einzige Grund, warum ich nach dem Studium für ein Jahr nach Como ging. Dort unterrichtete Andreas Staier, dessen vielleicht größter Fan ich wurde, nachdem ich seine Aufnahme der Haydn-Sonaten gehört hatte. Ich weiß noch ganz genau, wie ich in einem kleinen Musikgeschäft in Graz diese CD kaufte und nach wenigen Sekunden des Hörens sprachlos war.

Ich vermute, dass Sie direkt von München nach Italien gegangen sind…

Genau, nachdem sich herausstellte, dass das Studium in München nicht sehr glücklich verläuft, habe ich die Chance ergriffen und bin nach Como gegangen, um bei Andreas zu lernen. Es war ganz offensichtlich, dass man an der Münchener Musikhochschule uns ausländische Studenten nicht wollte. Man hat uns mehr oder weniger nach einem Jahr aus dem Haus gedrängt. In den italienischen Alpen ging es natürlich nicht nur um Alte Musik. Zu den prägendsten Erinnerungen zählen für mich die Unterrichtsstunden bei Karl Ulrich Schnabel, der eine ähnlich starke Persönlichkeit war wie Naumow. Nach einem Jahr hatte ich jedoch auch von Como genug. Studieren dort kann eine sehr intensive, jedoch auch ermüdende Erfahrung sein. Alles ist wunderschön gelegen, allerdings auch weit weg von der Zivilisation, man ist in einem pianistischen Mikrokosmos gefangen.

Mit der Geigerin Isabelle Faust verbindet Sie ebenfalls eine lange musikalische Partnerschaft; gemeinsam realisieren Sie viele Produktionen auf CD. Wurde diese Zusammenarbeit von Ihrer Plattenfirma initiiert?

Nein, absolut nicht. Isabelle und ich kennen uns eine ganze Weile, haben aber zunächst nicht zusammen musiziert. Wir trafen uns einige Male auf Festivals, ich war immer ganz begeistert von Ihrem Spiel. In Moskau veranstaltete ich eines Tages eine Reihe von Konzerten mit Kammermusik von Franz Schubert; die Wanderer Fantasie, Violinsonaten etc. … In deren Vorbereitung fiel ein Geiger nach dem nächsten aus, so dass ich in einem Akt höchster Verzweiflung Isabelle anrief, die mir auf einem Festival in Oxford ihre Telefonnummer gegeben hatte. Niemals hätte ich im Ernst geglaubt, dass Sie sich auf ein solches Projekt in Moskau, dazu noch ohne Bezahlung, einlassen würde. Doch sie hat sofort zugesagt. Seitdem spielen wir regelmäßig zusammen. Isabelle war es auch, die mich bei ihrem Plattenlabel einführte als Begleiter ihrer Kammermusikproduktionen. Diese künstlerische Partnerschaft mit Ihr, der Plattenfirma und dem fabelhaften Teldex-Studios ist wirklich das größte Glück, das mir in meinem Musikerleben widerfahren ist.

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Sie haben viele Jahre mit Vadim Repin gemeinsam ein Duo gebildet. Kannten Sie sich vom Studium in Moskau?

Nein, wir lernten uns kurioser Weise in Lübeck kennen, als im Jahr 1988 drei russische Professoren zu Meisterklassen eingeladen wurden und eigene Schüler mitbringen konnten. Dazu gehörten eben auch Vadims Lehrer und meiner, so dass ich ihn dort traf. Es war meine erste Reise in den Westen und wir beide waren total durchgeknallt zu dieser Zeit. Ich kann mich gut erinnern, dass es Tage gab, an denen wir keine einzige Stunde schliefen, es gab viel Alkohol und viele Partys. Vadim war damals schon ein kleiner Star und total verrückt nach Autos. Er mietete einen schwarzen Mercedes 190 und wir rasten mit diesem Wagen die ganze Nacht um und durch Lübeck. Ich gebe zu, dass ich damals weder für das Holstentor noch für das Buddenbrookhaus ein Auge hatte. (lacht) Autos und Spaß standen auf diesem Trip, neben der Musik natürlich, im Mittelpunkt. So trafen Vadim und ich das erste Mal aufeinander. 1993 war es dann Svjatoslav Richter, der mich einlud, auf einem seiner Festivals ein reines Grieg Programm zu spielen, mit der Klaviersonate, der Cello Sonate und einer der Violinsonaten. Ich habe mich dann getraut, Vadim zu fragen, ob er die Violinsonate dort mit mir spielen würde und er hat zugesagt. Im Anschluss an das Konzert schlug Richter vor, dass wir doch regelmäßig zusammen spielen sollten, was wir zehn Jahre lang auch gemacht haben.

Es war in der Fachpresse zu lesen, dass Sie in Zukunft der neue Pianist von Cellist Pieter Wispelwey sein werden, nachdem dessen Partnerschaft mit Dejan Lazic beendet ist. Stimmt das?

Man kann im Moment absolut nicht von einer permanenten künstlerischen Partnerschaft sprechen. Eine solche habe ich nur mit Isabelle Faust. Pieter und ich kennen uns von einem Festival in Stavanger und wir werden im Februar eine gemeinsame Tournee nach Japan und Korea machen. Von weiteren Projekten weiß ich absolut nichts. Lassen Sie uns abwarten, was sich entwickeln wird.

Wispelwey eilt der Ruf voraus, ein komplizierter, etwas divenhafter Charakter zu sein; nicht jeder seiner bisherigen Kammermusikpartner schied in Frieden…

Wissen Sie, so etwas ist mir absolut egal. Ich habe nichts gegen starke, fordernde Persönlichkeiten; besonders dann nicht, wenn sie großartige Musiker sind. Betrachten wir die anstehenden Reise nach Japan als Experiment, ob wir musikalisch und menschlich gut zusammen passen.

Nach einer hoch gelobten ersten Recital-CD mit Werken von Alexander Skrjabin, kommt jetzt im Januar Ihre zweite Solo-CD auf dem Markt. Diesmal finden sich Kompositionen von Sergej Rachmaninow darauf…

Wissen Sie, es ist schon komisch. Ich wollte nie der russische Pianist sein, der vor allem russische Musik einspielt. Auch mein Label harmonia mundi sah mich nie in dieser Nische. Und heute stehe ich da mit einer Solo-CD mit Werken von Skrjabin und einer mit Werken von Rachmaninow. (lacht herzlich) Natürlich habe ich sehr viel Kammermusik nicht-russischer Komponisten gespielt: Brahms, Beethoven, Schubert. Das große Projekt, das ich realisieren möchte, ist eine Gesamteinspielung aller Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch, die drei CDs umfassen wird. Da dies für mich ein zeitintensives Vorhaben ist, wollten wir noch etwas zwischendurch machen, und ich habe dieses Rachmaninow Programm vorgeschlagen.

Warum ausgerechnet Rachmaninow, dessen Kompositionen ja bei Musikwissenschaftlern und manchem Musiker als qualitativ zwiespältig gelten?

Eben genau wegen dieser vollkommen falschen und kurzsichtigen Beurteilung habe ich ihn ausgewählt. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, mit einigen fest verankerten Vorurteilen und Fehleinschätzungen über Rachmaninow aufzuräumen. Ich kann jedem nur empfehlen, das Booklet zur neuen CD zu lesen, das ich selbst verfasst habe. Dort erkläre ich auf emotionale und wissenschaftliche Weise zugleich, was das Besondere an diesen relativ späten Werken des Komponisten ist. Es ist erstaunlich, wie wenig die Musik Rachmaninows jenseits seiner Klavierkonzerte und der zweiten Sinfonie im Westen auch heute noch bekannt ist. Ich habe die extrem anspruchsvollen neun Études-Tableaux op. 39 mit dem großartigen und fast unbekannten Sechs Gedichten op. 38 kombiniert. Diese beiden Werke gehören für mich zu den stärksten Stücken, die Rachmaninow je geschrieben hat. Als letztes habe ich die Corelli-Variationen op. 42 mit auf die CD genommen, weil sie eine ganz andere Seite des Komponisten zeigen. Sind die ersten Beiden sehr vom Weltschmerz geprägte Stücke, so steigern die Corelli-Variationen die Darstellung seelischer Gebrochenheit des Komponisten, versteckt unter einem Mantel aus musikalischem Esprit und einer kunstvollen Vermischung von Stilelementen.

Rachmaninow ist aus Ihrer Sicht also ein heute unterbewerteter Komponist?

Absolut. Ich denke, er ist viel besser, viel bedeutender, als wir gewillt sind ihm zuzugestehen. Wir haben uns ein Rachmaninow-Bild zurechtgebastelt, das sein Schaffen auf einige wenige melodieselige, teils zu Kitsch verbogene Werke reduziert. Er war ein Opfer seiner Zeit, auch politisch, und das Opfer seiner einprägsamen Melodien, hinter denen die Leute nicht bereit sind, nach mehr zu suchen. Wenn ich mit dieser CD dieses oberflächliche Bild bei den Hörern ein wenig aufbrechen kann, habe ich mein Ziel erreicht.

Copyright Monika Rittershaus

Hatten Sie schon immer einen besonderen Zugang zu seiner Musik?

Eigentlich nicht. Viele Jahre glaubte ich, dass ich absolut kein Rachmaninow-Pianist sei. Natürlich habe ich seine Klavierkonzerte gespielt. Wie sollte es als russischer Pianist auch anders sein. Versuchen Sie mal als Russe in Japan mit etwas anderem zu gastieren als einem Klavierkonzert von Rachmaninow (lacht). Doch wollte mir diese Musik zunächst wenig geben. Es hat einige Jahre gedauert, sie wirklich zu durchsteigen und einen eigenen Ansatz zu finden. Natürlich habe ich mich als Teenager, wie viele andere auch, in die Melodien seiner Konzerte verliebt, doch verflog diese oberflächliche Zuneigung auch wieder. Ich habe damals alle verfügbare Literatur über ihn gelesen: Biografien, Analysen, Briefe. Das erleichtert die Vorbereitung auf eine Platte wie diese doch sehr; man beginnt nicht bei Null. Vor allem die Briefe Rachmaninows habe ich sehr genau studiert, verraten Sie doch am meisten über den Menschen.

Sehen Sie für sich wichtige Parallelen zwischen den Komponisten Skrjabin und Rachmaninow?

Ich sehe einige. Die Werke beider sind kompositorische Meisterwerke, und beide Komponisten werden vom Publikum vor allem für ihre frühen Werke geliebt. Ich persönlich finde vor allem das Spätwerk beider unerhört spannend und kompositorisch viel aussagekräftiger. Auf intellektuellem Niveau waren sie jedoch sehr verschieden. Rachmaninows Gedanken waren von großer Tiefe, voller Emotionen und teils pessimistischen Erwartungen. Wenn Sie versuchen Skrjabins Texte zu lesen, werden Sie verrückt. Er hat sich an Poesie versucht, die von so schauerlicher Qualität ist, dass Sie Wagners Libretti bedenkenlos zu großer Kunst erklären können. (lacht) Es ist erstaunlich, dass ein Mensch, der, betrachtet man nur seine Worte, so unglaublich dumm erscheint, mit Hilfe von Musik Großartiges zu sagen hat. Würde ich gefragt, wen von beiden ich als Pianist bevorzuge, so wüsste ich ehrlich nicht, was ich antworten sollte. Beide sind auf ihre Art einmalig.

Sind Sie heute, wo Sie im Westen einer regen Konzerttätigkeit nachgehen und in Manchester eine Klavierklasse leiten, noch regelmäßig in Ihrer russischen Heimat zu erleben?

Ich spiele auch heute sehr viel in Russland. Obwohl ich mir gerade eine Wohnung in Berlin gekauft habe, wohne ich unverändert noch in Moskau. Natürlich gibt es immer wieder Musiker dort, die nicht verstehen können, wieso ich mit einer Violinistin wie Isabelle Faust zusammenspiele, deren Spiel nicht vordergründig auf eine effektvolle Show aus ist. Aber es ist genau diese grundehrliche und dabei hoch virtuose Art des Musizierens, die ich so an ihr schätze. Auch genieße ich die nun häufig auftretende Möglichkeit, Musik im Studio für CD aufzunehmen. Sie haben dabei die großartige Chance, an einer Interpretation so lange zu feilen, bis das Ergebnis gänzlich Ihren Vorstellungen entspricht. Ich muss zugeben, dass ich das Konzertieren nie besonders mochte; es macht mir manchmal sogar Angst. Man hat dabei immer nur eine Chance, genau das zu sagen, was man sagen will. Gelingt dies nicht, muss man damit irgendwie klarkommen. Das ist nicht immer einfach.

Benötigen Sie das Publikum als Motivation, als künstlerische Inspiration also nicht?

Ich möchte absolut nicht arrogant klingen, aber für mich persönlich funktioniert diese Konstellation nicht. Natürlich spiele ich Konzerte, nicht zuletzt weil es mein Beruf ist. Aber ich beziehe meine Inspiration aus der Musik, nicht vom Publikum. Dieses hemmt mich eher, es macht mir oft Angst. Ich glaube gerne, dass viele andere Künstler aus der Interaktion mit dem Publikum Inspiration und Energie erhalten; bei mir ist genau das Gegenteil der Fall.

Nebenbei erlauben Sie sich dieses nicht gerade ungefährliche Hobby…

Oh ja, ich bin Pilot. Ich liebe das Fliegen, es war immer ein großer Traum von mir, fliegen zu können. Als ich im Jahr 2000 wegen eines Problems mit der Hand einige Zeit nicht Klavierspielen durfte, habe ich die Zeit genutzt und meinen Pilotenschein gemacht. Für eine Pilotenkarriere ist es jetzt etwas zu spät, aber als Hobbypilot kann ich diesen Traum leben. Es ist übrigens einer meiner größten Wünsche, einmal mit einem Flugzeug in Berlin Tempelhof zu landen, bevor der Flughafen Ende des Jahres geschlossen werden soll. Obwohl ich immer noch hoffe, dass sich der Berliner Senat anders entscheidet.

Was für Maschinen fliegen Sie; muss man befürchten, dass Sie mit einem Airbus demnächst Moskau ansteuern?

Nein, keine Sorge. Ich fliege kleine Flugzeuge, meist Cessnas. Die großen Maschinen sind doch viel zu sicher, da muss man beim Fliegen ja kaum etwas machen. (lacht) Mein persönlicher Held war immer Matthias Rust, und ich kann mich sehr gut an den Tag erinnern, an dem er in Moskau auf dem Roten Platz landete, weil ich auf dem Weg zur Schule sein Flugzeug über Moskau fliegen sah. Ich kannte alle russischen Maschinen sehr genau und wusste sofort, als ich die Cessna am Himmel sah, dass es kein gewöhnlicher Flug sein konnte. Vielleicht sollte ich eines Tages mal versuchen, im Andenken an Matthias Rust einen Flug von Moskau nach Tempelhof zu wagen. Wenn der Berliner Senat hart bleibt, habe ich dafür nicht mehr viel Zeit.

Das Gespräch führte Frank Bayer.
(01/2008)

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