Die Sopranistin Marlis Petersen über Lieder im Allgemeinen und Goethe-Vertonungen im Besonderen
"Der Zuhörer soll einen Berührungspunkt finden"
Marlis Petersen gehört zu den profiliertesten Sopranistinnen unsrer Tage, gerade weil sie nicht ein einseitiges, einsinniges Profil aufgebaut hat. Die in Sindelfingen geborene Sängerin hat auf der großen Opern- und Konzertbühne ihre Verwandlungsfähigkeit und Gestaltungskraft bereits unzählige Male und in den unterschiedlichsten Regionen des Repertoires unter Beweis gestellt – und tritt in letzter Zeit auch immer mehr als Liedsängerin hervor. Nach einer vielbeachteten CD mit Robert Schumanns selten gehörten ‚Spanischen Liebesliedern‘ folgt nun ein weiteres programmatisches Album, das sich aber nicht um einen Komponisten ordnet, sondern um einen Dichter. Lieder nach Gedichten von Johann Wolfgang Goethe sind versammelt, vertont von nicht weniger als 15 Komponisten. Die Spanne der musikalischen Stile ist dabei denkbar weit; sie erstreckt sich von Franz Schubert bis Manfred Trojahn und berücksichtigt auch wenig bekannte Komponisten wie Hans Sommer, Nikolai Medtner oder den als Pianisten berühmten Wilhelm Kempff. Mit klassik.com-Autor Tobias Roth sprach Marlis Petersen über ihre Goethe-CD, die schwierige Balance von Text und Musik sowie die Tradition des Liedes im Leben und im Alltag.
Das Programm Ihrer jüngsten CD gliedert sich um das Zentrum der Texte Goethes und versammelt eine Vielzahl von Komponisten und Stilen. Wie ist es zur Auswahl dieses Programms gekommen, wie hat sich die Abfolge der Lieder entwickelt?
Das Programm ist aus einem szenischen Liederabend hervorgegangen, den ich in Holland mit einer Pianistin und einem Dramaturgen aufgeführt habe. Der Titel des Liederabends war ‚Goethes Frauen‘, und ein kleiner Teil des CD-Programms war in ihm enthalten. Die konzentrierte, szenische Darstellung dieser Frauenrollen hat mich sehr fasziniert und, da ich von der Oper komme, sofort gepackt. Mein Pianist Jendrik Springer und ich haben dann gemeinsam nach weiterem Repertoire gesucht und recherchiert. Die Frauenfiguren bei Goethe, das ‚Ewig Weibliche‘, das ist ja ein sehr schönes Thema, für Männer und für Frauen. Und da hat sich so viel geöffnet; so viele Kompositionen sind aufgetaucht! Jendrik und ich machen nie einfach nur einen Zyklus, der schon hundert Mal aufgeführt oder eingespielt worden ist. Sondern wir sind immer neugierig und wollen neue Konzepte entwerfen, die vielleicht auch mit uns als Menschen und der Qualität der Zeit, in der wir leben, etwas zu tun haben. Der Zuhörer soll einen Anklang, einen Berührungspunkt finden. Bei Goethe verbindet sich so das bekannte Alte mit einer neuen Hörgewohnheit, die alten Figuren lassen sich durch Neue Musik ganz anders entdecken. Für dieses Programm hat uns etwa Manfred Trojahn extra eine Passage aus dem ‚Faust II‘ vertont. Das würde ich gerne auch für Folgeprogramme dieser Art beibehalten. Es wäre schön, immer einen Komponisten zu finden, der sich interessiert und Lust hat, etwas Neues zu schreiben.
Gerade in Bezug auf die von Ihnen erwähnte Zeitqualität unserer Gegenwart fand ich es interessant, dass Trojahn eine Passage aus dem ‚Faust II‘ gewählt hat, in dem so viele Themen auftauchen, die momentan virulenter nicht sein könnten.
Ja, das ist schon erstaunlich. Andersherum ist es ebenso bemerkenswert, dass man plötzlich ein Goethe-Lied von Wagner findet, der sich auf das Gretchen einlässt. Auch der Komponist Hans Sommer war eine echte und faszinierende Entdeckung für mich – nicht nur, weil es klanglich wunderschön ist, sondern auch sehr tief geht. Eine weitere Idee kam durch die Konfrontation mit den zahlreichen Vertonungen des zweiten ‚Wandrers Nachtlied‘ mit seinen berühmten Anfangsversen ‚Über allen Gipfeln / Ist Ruh‘. Wir haben uns dazu entschieden auf der CD sechs verschiedene Vertonungen dieses Gedichtes aufzunehmen. Dadurch wird das ganze Album in Gruppen gegliedert, die jeweils durch das Nachtlied geschlossen werden – im Anschluss kann man sich wieder auf etwas Neues einlassen. Von diesem Gedicht gibt es die gigantischsten Vertonungen!
Wird in all diesen Varianten auch der Wandel im Blick auf und Zugang zu Goethe sichtbar?
Das würde ich unbedingt sagen. Ich glaube, dass es für uns als Menschen wichtig ist, zu erkennen, dass ein einziger Text viele verschiedene Sichtweisen zulässt. Das hat sowohl mit unserem Denken als auch mit unserem Hören zu tun. ‚Über allen Gipfeln‘ ist ja ein Text, der kürzer und rätselhafter und zugleich voller nicht sein könnte.
Von hier aus stellt sich natürlich die klassische Frage nach dem Lied als Interpretation von Kunst durch Kunst, nach dem Verhältnis von Text und Musik. Gerade im Kraftfeld Goethe taucht diese Frage ja immer wieder in ihrer verschärften Form auf: Wer dient wem, herrscht die Dichtung oder die Musik? Wie packen Sie als Sängerin diese Balance an?
Ich denke, dass sich in gewisser Weise natürlich beide voneinander nähren. Musik und Literatur inspirieren sich gegenseitig. Meine Annäherung kommt oft auch von beiden Seiten. Ich bin jemand, der sehr genau auf den Ausdruck eines Textes durch die Musik achtet. Ich will den Zuhörern durchaus verständlich machen, was Goethe mit diesem oder jenem Vers gesagt hat, und nicht nur einfach die Musik absingen. Das geht ja auch. Aber mit diesen verschiedenen Aufmerksamkeiten öffnet sich ein ganzer Kosmos, ob man nun Schubert hat oder Trojahn oder Braunfels. Das sind musikalisch ganz unterschiedliche Reiche. Da immer den Kern zu finden, ist so schwer wie spannend. Gerade bei einer so großen Vielfalt auf so engem Raum, wie bei unserer CD, wird sehr deutlich, wie jeder anders an diese Texte oder gar an nur diesen einen Text herangeht – und das macht es aus. Gemeinsam mit meinem Pianisten Jendrik Springer ist das ein echter Schaffensprozess. Das Gute ist, dass wir ganz gleich ticken, was unser Musikempfinden angeht. Wir können manchmal stundenlang an einem Stück feilen und kreativ werden. Schon wenn in einem Lied eine Textpassage wiederholt wird, muss etwas passieren, muss etwas anders werden, muss mit der Figur etwas geschehen. Mit dem alten Material dann neu kreativ zu werden, ist wunderbar. Da nähert man sich der Interpretation der Interpretation.
Da drängt sich ja auch die Frage auf, inwieweit der Komponist den Dichter wirklich missverstehen und trotzdem ein gelungenes Lied schreiben kann. Ich denke da zum Beispiel an Robert Schumann, der aus sarkastischen Versen von Heinrich Heine ganz originäre, empfundene Liebeslieder macht.
Als Musiker hat man es immer mit einer fertigen Sache zu tun. Wir können zwar durch unsere Interpretation etwas kreieren, aber haben natürlich einen bestehenden Text und eine bestehende Musik vor uns. Natürlich ist es spannend, wenn man bemerkt, wie aus einem sarkastischen Text ein Wattebäuschchen gemacht wird. Genau das kann einen Interpretationsansatz für den Musiker erzeugen. Diese Spannungen ergeben sich auch oft bei den verschiedenen Versionen von ‚Wandrers Nachtlied‘. Nikolai Medtner etwa fängt mit einem wunderbaren, ganz leichten Klang an – und plötzlich kommt aus dem Klavier ein Erdbeben, eine Bedrohung. Bei Schumann hingegen zeigt sich durchgehend die Essenz von Klang und Ruhe.
Ganz im Kontrast zu Goethe findet sich gerade in der Liedliteratur ja immer wieder der Fall, dass sogenannte ‚kleine Dichter‘ plötzlich aufblühen und durch die Lieder zu später Berühmtheit gelangen. Woher, glauben Sie, kommt es, dass die Texte, die als Lieder hoch geschätzt werden, als Gedichte oft abschätzig betrachtet werden? Daran schließt sich auch die Frage an, was eigentlich Sangbarkeit sein kann?
Ich erinnere mich, dass ich mit Jendrik oft einen Band von Schubert oder Schumann einfach durchgespielt habe, und wir ganz wunderbare Kompositionen entdeckt haben, aber den Text irgendwie schwierig fanden. Oft hilft die neue Ebene der Musik dem Text aber auch, und man wird auf unbekannte Dichter überhaupt einmal aufmerksam. Natürlich gibt es das auch andersherum: Dass durch einen besonders kraftvollen Text auch ein weniger talentierter Komponist ein gutes Lied schreiben und etwas erreichen kann. Aber für mich als Sängerin ist der Zugang natürlich nie ein rein literarischer; ich nähere mich eher von der musikalischen und auch emotionalen Seite. Wenn sich in der Verbindung von Text und Musik ein Gesamtkunstwerk ergibt, dann ist es mir manchmal tatsächlich auch egal, ob ein Text genial oder nicht ganz so genial ist. Das ist vielleicht auch das Geheimnis der Sangbarkeit; dass ein Text, der literarisch nicht sensationell wertvoll ist, seinen Wert auf einer anderen, zum Beispiel emotionalen Ebene entfalten kann.
In der Goethe-Zeit werden ja auch, etwa bei Wilhelm Müller, unter scheinbar leichten, tändelnden Bildern und Konstellationen die katastrophalsten Erfahrungen und Verlustgeschichten erzählt. Moderne Problematiken und Schrecknisse liegen da gleichsam unter dem leichten Volkston des Liedes im Hinterhalt.
Ja, in solchen Lieder plätschert es zuweilen auch musikalisch vor sich hin, und man nimmt die Bedrohung, die Verzweiflung lange Zeit überhaupt nicht wahr. Mich fasziniert es besonders, wenn man solche Texte, die quasi im Verborgenen von grundlegenden Spaltungen und Leiden erzählen, in eine klassische Tonsprache verpackt hört. In der klassischen Form und Gliederung mit all ihrer Strenge und Gleichmäßigkeit werden manchmal dennoch die Beziehungen zwischen den Menschen, die Tränen, die tiefe Trauer hörbar. Das ist große Kunst für mich, und das kann meines Erachtens Mozart wie kein anderer. Er hat es geschafft, diese Dramatik trotz des geraden, klassischen Systems darzustellen. Das ist auch bei den Liedern Schuberts noch so, in denen die Begleitung wirklich noch Begleitung ist. In der Romantik bekommt das Klavier im Lied dann eine andere, eine illustrierende Rolle.
Das Lied ist gerade seit der Romantik nicht nur eine Gattung der hohen und höchsten Kunst, sondern auch ein Ansatzpunkt, um künstlerisch volkstümlich zu werden. Diese Tradition ist in Deutschland, das hört man immer wieder und muss es auch so sagen, recht gründlich zerschreddert worden. Glauben Sie, dass das Lied noch ein breites, populäres Potential hat, oder dass wir es mit einer musealen Gattung zu tun haben?
Das ist leider ein trauriges Thema, da unser Liedgut heute wirklich verloren ist. Keiner singt mehr, in der Schule wird nicht mehr gesungen, niemand lernt mehr tatsächliche Volkslieder, oder nur sehr wenig. Der Kontrast ist interessant. Ich lebe in Griechenland und beobachte, dass dort die Liedtradition noch unglaublich lebendig ist. Da wird an jeder Ecke gesungen, jeden Tag, morgens, mittags, abends. Das zieht sich durch alle Generationen, von den alten Leuten bis zu den Babys auf dem Arm, die mitbekommen, was da alles passiert. Diese Musik schafft eine Verbindung zwischen den Menschen. Das fehlt uns Deutschen wirklich. Vielleicht hat das in unserer Gesellschaft damit zu tun, dass wir nicht mehr diesen Zusammenhalt haben, dass bei uns Familie ganz anders bewertet wird als in mediterranen Ländern. Die verbindende Schwingung der Musik ist jedenfalls verloren und ich weiß nicht, ob wir die Möglichkeit haben, das wieder aufzubauen. Das wäre eine riesige Unternehmung – dass die Deutschen das Liedersingen wieder erlernen, wäre wohl genauso schwer wie das Verlernen der Korruption bei den Griechen. Natürlich gibt es auch bei uns noch Liedgut. Brahms hat phantastische Volkslieder geschrieben, die zum Teil heute noch gesungen werden. Aber eine Veränderung kann hier, glaube ich, nur von der kleinen Zelle ausgehen; das heißt die Familie muss wieder anfangen, zu singen.
Vielleicht fehlt bei vielen Menschen heute auch der positive Bezug zum Selbstausdruck durch Gesang, auch wenn es nicht geschult oder völlig gelungen ist.
Sie werden lachen, aber das geht selbst mir so. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann kann ich lossingen; das ist gar kein Problem. Aber wenn jemand privat zu mir sagt: Jetzt sing uns doch mal was, dann geht es nicht so leicht. Das ist ganz eigenartig. Sich selbst durch Gesang auszudrücken, das können wir von den mediterranen Ländern noch lernen. Wir Deutschen haben auch so ein seltsames Gefühl von Peinlichkeit, das vielleicht mit unserer Geschichte zusammenhängt. Wenn wir über den deutschen Wald singen oder über das Wandern oder über die schönen Menschen, dann haben wir immer das Gefühl, wir dürften das nicht. Ich habe beispielsweise einmal ‚Das Christ-Elflein‘ von Hans Pfitzner eingespielt, und da sagte man mir auch, man dürfe das doch nicht machen, man könne das nicht mehr singen – nur weil es eben Pfitzner ist. Die Geschichte des Stücks ähnelt sehr stark ‚Hänsel und Gretel‘; da gibt es natürlich den schönen, grünen, deutschen Wald – na und? Wir müssen auch manchmal ein bisschen unsere Kategorien abschalten und einige Dinge wieder anders sehen. Ich weiß nicht, ob das Lied dazu verhelfen kann, aber ich würde gerne meinen Teil dazu beitragen. Deshalb mag ich auch Liederabende mit Konzept und Resonanz für das Publikum. Deswegen rechtfertige ich auch gerne die moderne Oper. Die Inszenierungen etwa von Peter Konwitschny erzählen nicht einfach nur eine Geschichte, sondern dringen in die Psychologie der Menschen vor. Wenn wir als Zuschauer offen sind, dann lernen wir etwas über uns und können uns auch wieder verändern. Das finde ich wertvoll. Es ist ja nicht alles Gold, was glänzt.
Das Gespräch führte Tobias Roth.
(03/2012)
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