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Montag, 2. Oktober 2023

Photo: Christian Schneider

Ivor Bolton dirigiert beim Bonner Beethovenfest ein Programm von 1845

"Im 19. Jahrhundert waren Konzerte farbenfroher"


1845 feierte die Musikwelt den 75. Geburtstag Ludwig van Beethovens. Vor allem ein Mann hatte sich dafür eingesetzt, dass dem 1827 verstorbenen Komponisten zu diesem Stichtag ein Denkmal in seiner Geburtsstadt Bonn enthüllt werden konnte: Franz Liszt. Rund um die Einweihung des Monuments richtete Liszt ein dreitägiges Musikfest aus, mit dem er den Grundstein zum Beethovenfest legte, das bis heute die Kulturlandschaft der Region prägt. Grund genug, sich zum 200. Geburtstag Liszts unter dem Motto „Zukunftsmusik. Beethoven, Liszt und das Neue in der Musik“ auch auf den Mann zu besinnen, dem die Stadt Bonn letztlich ihr Beethovenfest verdankt. Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist die Wiederaufnahme eines Konzertprogramms, das am 12. August 1845 im Rahmen des ersten Beethovenfestes erklang. Miquel Cabruja sprach im Vorfeld für klassik.com mit dem Dirigenten Ivor Bolton über Beethoven, Liszt, historische Aufführungspraxis und die Konventionen des Konzertbetriebes.

Herr Bolton, am 7. Oktober dirigieren Sie in Bonn ein 166 Jahre altes Beethoven-Programm mit der ‚Coriolan-Ouvertüre‘, der Sinfonie Nr. 5, der Seraph-Arie aus ‚Christus am Ölberge‘, dem Klavierkonzert Nr. 5, dem sogenannten ‚Harfenquartett‘ op. 74 und einem Gesangsquartett aus ‚Fidelio‘. Was hat Sie an diesem Programm gereizt?

Einerseits ist es eine unglaublich spannende Aufgabe, ein Konzertprogramm zu spielen, dass vor 166 Jahren zusammengestellt wurde. Darüber hinaus handelt es sich um eine sehr anspruchsvolle und intelligente Auswahl aus dem Œuvre Beethovens. Damals wie heute gilt: Es sind nicht nur Kompositionen dabei, die man ohnehin ständig hört, sondern eben auch ein Stück wie die Seraph-Arie aus dem Oratorium ‚Christus am Ölberge‘, das ich für sehr unterschätzt halte.

Woran liegt es, dass dieses Oratorium selten zu hören ist?

Ich glaube, dass es mehr oder minder in der Gluthitze großer Inspiration entstanden ist. Vielleicht ist Beethoven deshalb später in gewisser Weise auf Distanz zu seinem Werk gegangen. Außerdem ist der ‚Christus am Ölberge‘ für die Sänger sehr anspruchsvoll. Beethoven hat aber ohnehin für die menschliche Stimme extrem komponiert und war darin sehr untypisch für seine Zeit. Das sieht man auch an der ‚Missa Solemnis‘, deren Sopranpart extrem hoch gesetzt ist und von der Sängerin große Intensität und Kraft verlangt. Im Grunde genommen sind Beethovens Instrumentalkompositionen ebenso fordernd. Nur ist mit Instrumenten sehr viel mehr möglich – die bestehen ja nicht wie Sänger aus Fleisch und Blut.


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Weiterführende Informationen:


In Bonn wird die Sopranistin Chen Reiss die Seraph-Arie singen…

…eine sehr viel versprechende Sängerin, die in München eine hinreißende Sophie im ‚Rosenkavalier‘ von Richard Strauss gegeben hat. Wir haben für das Konzert aber noch weitere, hervorragende Musiker. Das ‚Harfen-Quartett‘ wird vom Pleyel Quartett Köln interpretiert. Der Quartettkanon aus Beethovens Oper ‚Fidelio‘ wird von vier jungen Solisten – Alice Foccroulle, Isabel Dürr, Michael Mogl und Ralf Riehl – gesungen. Und das Klavierkonzert spielt Alexander Melnikov, der ein fesselnder Beethoven-Interpret ist. Auf ihn freue ich mich sehr, denn ich hatte bislang noch keine Gelegenheit, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Wie man an der Programmzusammenstellung sieht, waren Konzerte im 19. Jahrhundert sehr viel länger und facettenreicher als heute.

Sie waren länger, farbenfroher und diskursiver. Man hatte damals überhaupt keine Angst davor, nur einen einzigen Satz aus einer Sinfonie zu spielen, dann ein Quartett einzuschieben und vielleicht noch ein Gesangsstück einzuplanen, das insgesamt kaum drei Minuten dauert. Außerdem gab es einen großen Kult um virtuose Solisten, die sich auch sehr viele Freiheiten herausnahmen.

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Wieso veränderte sich dies eigentlich im Laufe der Zeit?

Zunächst einmal wurden die Konzertsäle immer größer. Damit wuchs das Publikum, das nun nicht mehr in unmittelbarer Nähe des Spielortes wohnte. Deshalb wurden die Konzerte kürzer und konsumierbarer. Man bekam seine Sinfonie und sein Konzert und konnte wieder nach Hause gehen. So ist es im Grunde genommen bis heute geblieben. Ein weiterer Unterschied zwischen dem Konzertleben von damals und heute betrifft vor allem die Haltung des Publikums zur dargebotenen Musik: Es gab im 19. Jahrhundert noch nicht diese andächtige Stille der Zuhörerschaft, die wir heute für selbstverständlich halten.

Zu Beethovens Zeiten hat man ja auch noch zwischen den Sätzen geklatscht. Heute ein Fauxpas!

Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso das so ist. Ich habe persönlich kein großes Problem damit, wenn nach dem gelungenen Kopfsatz einer Sinfonie oder einer hervorragend interpretierten Arie geklatscht wird. Spontaneität ist etwas Wunderbares und ich finde, dass man in Bezug auf Kunst auch überehrfürchtig sein kann.

Apropos Ehrfurcht: Das 19. Jahrhundert begann mit der Heroisierung der Künstler und setze ihnen Denkmäler.

Man suchte im 19. Jahrhundert nach Helden und Giganten. Ich glaube, dass Liszt Sympathien für Beethovens unruhigen Geist hegte, der aus Stereotypen ausbrechen wollte. Beethovens Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es permanent Grenzen auslotet und überschreitet. Genau diese Haltung findet sich auch in Franz Liszts Musik wieder. Beethoven muss in diesem Zusammenhang ungeheuer inspirierend für Liszt gewesen sein. Es spricht für Liszt, dass er kein Problem damit hatte, zu dieser Inspirationsquelle zu stehen.

Das 19. Jahrhundert ist die Epoche des Historismus, der sich bewusst der Vergangenheit zuwendet.

Das 19. Jahrhundert begann erstmals damit, sich für die Musik vergangener Epochen zu interessieren. Natürlich war schon Bach auf überdurchschnittliche Weise neugierig auf die Vergangenheit. Aber das war für seine Zeit absolut unüblich. Man schaute damals normalerweise nicht weiter zurück als 30 oder 40 Jahre. Erst im 19. Jahrhundert änderte sich dies radikal. Denken Sie etwa an die Bach-Renaissance, die Felix Mendelssohn-Bartholdy ausgelöst hat. Das war damals eine vollkommen neue Entwicklung.

Liszt unterstützte den Bau des Beethoven-Denkmals aus eigenen Mitteln.

Daran, dass Liszt auch eigene finanzielle Mittel für das Beethovendenkmal einsetzte, sieht man, wie selbstlos er sich für Kollegen und Ideen, die ihm wichtig waren, einsetzen konnte. Ich glaube, viele Festivals würden sich wünschen, dass es heute solche Künstler wie Liszt gäbe (lacht herzlich).

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Zurück zum Programm, das Sie in Bonn interpretieren werden. Liszt dirigierte das Programm am 12. August 1845 im Wechsel mit Louis Spohr. Welchen inhaltlichen Faden verfolgte die Werkzusammenstellung?

Ich glaube, es ging vor allem darum, die ungeheure Vielfalt von Beethovens Musik zum Ausdruck zu bringen. Die einzelnen Programmpunkte zeigen ganz unterschiedliche Facetten seiner kompositorischen Fähigkeiten – von der Ouvertüre über die Symphonie, die für sich selbst spricht, bis hin zu dem Quartett aus ‚Fidelio‘, das dem Ganzen noch einmal eine ganz eigene Klangfarbe verleiht. Ich glaube, es sollte gezeigt werden, dass Beethoven mit seiner Musik alle Gattungen und Genres umfasst hat.

Franz Liszt war selbst ungeheuer produktiv. Aber immer noch gibt es keine vollständige Gesamtausgabe seines Oeuvres.

Liszt komponierte offenbar mit großer Leichtigkeit. Das ist gewissermaßen sein Problem: Künstlern, denen Dinge leicht von der Hand gehen, wirft man schnell vor, ihnen fehle es an Tiefe. Als ob Leichtigkeit und Virtuosität ein Gegensatz zu Tiefe wären. Dabei muss man sich nur seine ‚Faust-Sinfonie‘ anhören, um zu erkennen, dass Liszt ein wirklich tiefschürfender Meister war. Und da ist es unsere Aufgabe als ausführende Künstler zu zeigen, dass seine Musik nicht oberflächlich ist. Dieses Jubiläums-Jahr ist dazu eine gute Gelegenheit.

Sie werden in Bonn Concerto Köln dirigieren, ein Orchester mit dem Sie mehrfach zusammengearbeitet haben…

…ein wunderbares Orchester, das Lebensfreude ausstrahlt und auf hohem Niveau musiziert. Deswegen freue ich mich, dass mich Concerto Köln auch vor einem Jahr dazu eingeladen hat, das Konzert zu seinem 25. Jubiläum in der Kölner Philharmonie zu dirigieren. Wir haben damals unter anderem Mozarts ‚Der Schauspieldirektor‘ gegeben. Übrigens war Fernsehmoderator Harald Schmidt bei diesem Konzert in Köln als Monsieur Buff zu erleben. Ich freue mich sehr darauf, wieder mit Concerto Köln zusammenzuarbeiten und Bonn ein wenig besser kennenzulernen. Ich war bisher nur einmal dort und hatte keine Gelegenheit, die Stadt zu erkunden.

Copyright Ben Wright

Concerto Köln ist ein Orchester, das historisch informiert spielt.

Das Orchester betreibt sehr viel Forschungsarbeit und legt großen Wert auf die Auswahl der richtigen Instrumente und eine intensive Beschäftigung mit den Spieltechniken der Vergangenheit. Mancherorts greifen die Musiker einfach zu einem Barock-Bogen und erklären dann, sie spielten auf historischem Instrumentarium. Das reicht natürlich bei Weitem nicht aus. Man muss sich aber überhaupt die Frage stellen, was ‚historisch informiert‘ eigentlich heißt. Zwischen Monteverdi und Beethoven ist eine Menge passiert, die Ära des Barock dauerte allein 150 Jahre. Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff Barock-Experte? Sehen Sie das einfach mal so: 150 Jahre nach Beethoven sind wir schon bei Stockhausen und der Darmstädter Schule. Das sind musikalische Welten!

Wie sieht die Zusammenarbeit mit Concerto Köln aus?

Sehr spontan. Man braucht eine Weile, um mit dem Orchester warm zu werden, das liegt aber vor allen Dingen daran, dass Concerto Köln wirklich unter die Oberfläche der Musik dringen möchte. Sie starten gewissermaßen langsam, legen dann aber richtig los.

Copyright Christian Schneider

Klingt so, als sei es ein Orchester, das hohe Ansprüche an seinen Dirigenten stellt.

Concerto Köln ist einfach auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Visionen. Es ist sicher eines der besten Orchester für Alte Musik, das es derzeit gibt. Aber das reicht ihnen nicht, sie haben auch einen sozialen Anspruch. Welches Orchester richtet seine Probenräume schon in einem klassischen Arbeiterviertel wie Köln-Ehrenfeld ein, wo viele sogenannte bildungsferne Bürger leben? Concerto Köln hat verstanden, dass es auch bei der Kunst immer um den persönlichen Kontakt geht. Man muss Menschen begegnen, die von Musik und von Kunst begeistert sind, um sich dafür zu interessieren. Deswegen ist auch der Musikunterricht mit motivierten Lehrern an Schulen so wichtig. Unglücklicherweise leidet die kulturelle Ausbildung junger Menschen immens unter den derzeitigen ökonomischen Zwängen und den daraus resultierenden Maßnahmen der Politik. Wir bekommen im Augenblick den Eindruck vermittelt, dass die westliche Zivilisation den asiatischen Gesellschaften hinterherhinkt. Und wie reagieren wir darauf? Wir konzentrieren uns auf die Grundlagen der Wissensvermittlung, so dass die großen Fragen aus Gesellschaft und Kultur sowie das Thema Transzendenz auf der Strecke bleiben. Dabei sind diese heute wahrscheinlich so wichtig wie nie zuvor.

Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(08/2011)

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