
Das Quartettspiel sei die beste Schule des Zuhörens. Das Henschel Quartett gehört darin zu den Klassenbesten.
"Wir wollen ja nicht miteinander einschlafen"
Das Henschel Quartett gehört seit seiner Gründung Mitte der 1990er Jahre zu den führenden Streichquartett-Ensembles. In der Zwischenzeit sind eine Reihe - auch mit diversen Preisen gekrönte - Einspielungen erschienen, und auch auf den großen Konzertpodien und einschlägigen Festivals ist das Henschel Quartett ein regelmäßiger und hoch geachteter Gast. In mehrerlei Hinsicht hat es als eines der ersten Ensembles seiner Zunft neue Wege betreten. So etwa in der Etablierung eines gemeinnützigen Freundeskreises des Ensembles, der sich unter anderem der Nachwuchsarbeit widmet; darüber hinaus ist das Henschel Quartett als erster Vertreter aus dem Bereich klassischer Musik Botschafter des SOS Kinderdorf e.V. Vor zwei Jahren spielte das Quartett im Vatikan anlässlich des Namenstages von Papst Benedikt XVI. Dort wurde eine Fassung von Joseph Haydns ‚Sieben letzten Worten‘ für Sopran und Streichquartett aufgeführt, die das Henschel Quartett mit der Mezzosopranistin Susanne Kelling nun erstmals auf CD eingespielt hat. klassik.com-Autor Tobias W. Pfleger traf die vier Musiker in Bruchsal, wo sie ihm einiges über fragwürdige Schwerpunkte heutiger Hochschulausbildung, musikalische Telepathie und nicht zuletzt über die Vergleichbarkeit des Streichquartetts mit einer Ehe verrieten.
Das Henschel Quartett besteht seit 1994. Wie kam es damals zur Entscheidung, ein Streichquartett zu bilden?
Muss man sich in der Ausbildung relativ früh entscheiden, solistische Avancen zugunsten der Konzentration auf die Kammermusik zurückzustecken?
Mathias Beyer-Karlshøj: Und das widerspricht sich ja auch gar nicht. Im Studium ist das Instrument das Hauptfeld – da will man besser werden. Das wird man natürlich durch Solorepertoire. Je nach Charakter und Möglichkeiten sucht man sich natürlich schon im Studium irgendwelche Formationen, um Kammermusik zu machen und dort Erfahrungen zu sammeln. Aber das Primäre ist natürlich, dass man auf dem Instrument fit ist, denn man ist ja in der Kammermusik auch solistisch präsent.
Die Kammermusik als Schule des Solistischen und des Miteinanders?
Mathias Beyer-Karlshøj: Das ist, finde ich, auch das Missverständnis vieler Hochschulen: dass sie sich sehr auf die Orchesterausbildung konzentrieren. Da kommt zum Tragen, was Sie angesprochen haben, dass man sich sehr früh spezialisieren soll. Das finde ich eine völlig kontraproduktive Vorgehensweise, gerade als Streicher, wo sich die Sachen im Studium des Instrumentalen konsolidieren sollen. Man verliert immer durchs Orchesterspiel, weil man sich selber nicht kontrollieren kann. Da wäre die Kammermusik eigentlich eine viel bessere Vorschule fürs Orchester...
Christoph Henschel: …Orchesterspielen ist Kammermusik im großen Maßstab. Mathias Beyer-Karlshøj: Klar soll das Orchesterspiel auch stattfinden. Aber ich finde, es ist viel zu viel und zu stark fokussiert.
Daniel Bell: Genau aus dem Grund habe ich, als ich Anfang 20 war, an der Hochschule aufgehört. Der Grund war vor allem, dass ich zu viel Orchester spielen musste. Ich hatte keine Zeit mehr zum Üben.
Was war der Grund, sich für die Kammermusik zu entscheiden?
Monika Henschel: Für uns war es vor allem das Repertoire. Das Repertoire hat uns nicht losgelassen. Einmal kennen gelernt, kommt man davon nicht mehr weg.
Nachdem Sie 17 Jahre in einer angestammten Besetzung gespielt haben, haben Sie vor kurzem einen Wechsel vorgenommen. Wie lange dauert es, bis wieder eine Einheit entsteht, ein Quartettklang zusammengefunden hat?
Monika Henschel: Da wiederholt sich die Geschichte ein bisschen: Wir haben schon ein paar Jahre sehr intensiv Kammermusik im Quartett gespielt, bevor Mathias dazukam. Es gelang uns damals einfach nicht, einen Cellisten zu finden. Es war furchtbar schwierig. Es passte nicht – und das ist noch nicht einmal wertend. Entweder man passt oder man passt nicht zusammen, wenn auf einem gewissen Niveau alle zusammen sind, ob es nun das Schwingen ist oder die Intonation. Da kann man sich kaputt üben – es wird nie funktionieren, wenn man nicht gleich hört. Es gibt eben auch unterschiedliche Arten zu hören. Wir hatten ja eigentlich schon aufgegeben und zu unserem Lehrer gesagt: Es soll nicht sein, lassen wir’s halt. Er kam dann auf die Idee mit Mathias (Beyer-Karlshøj).
Und mit dem neuen zweiten Geiger Daniel Bell verhält es sich ähnlich?
Mathias Beyer-Karlshøj: Wie lange das dauert, ist eine ganz schwer zu beantwortende Frage. Es ist ja ein Prozess, ein oszillierender Prozess, weil jeder sich ja auch persönlich entwickelt. Und das, was persönlich durchgemacht wird, beeinflusst auch die Gruppe. Das heißt: Es ist natürlich etwas da, was gewachsen ist, an Erfahrungen und Verständnis. Das ist vielleicht auch das, was die Magie ausmacht: Dass man im Grunde schon Takte im Voraus weiß, was passieren wird, ohne dass es vorher festgelegt wurde. Diese Telepathie funktioniert natürlich nach so vielen Jahren anders als wenn man sich vorgestern getroffen hätte. Das fünfte Element, das sich da bildet, ist ja nicht fassbar. Es ist eben genau dieses Phänomen, das über langjähriges Zusammenleben entsteht, wie in einer Ehe…
Monika Henschel: …das ist eigentlich das Stichwort: Beziehungen. Es ist vielleicht am leichtesten zu verstehen für Leute, die selbst nicht Quartett spielen, wenn man von Beziehungen redet. Wenn wir irgendwo zusammen auftauchen, dann ist das Quartett anwesend. Das sind also nicht vier Einzelpersonen, sondern es ist das Quartett da. Diese Präsenz merkt man. Aber das ist ganz schwer in Worte zu fassen. Mathias Beyer-Karlshøj: Und das braucht eben Zeit. Das bildet sich naturgemäß erst durch Zeit.
Beziehungen können ja auch konfliktreich sein…
Sie haben Werke seit Jahrzehnten im Repertoire. Wie entwickeln sich interpretatorische Sichtweisen darauf? Als verabredete Ideen während der Proben oder quasi unter der Hand, weil in Konzerten jeder Einzelne minimale Nuancen einbringt? Entscheidet man sich dafür, einem Werken einen neuen Dreh zu geben?
Monika Henschel: Es kann auch mal sein, dass einer aus einem ganz großen Erlebnis eines Pianistenabends kommt und sagt: Wie der Pianist sozusagen Quartett mit seinen zwei Händen gespielt hat, so frei – ich wünschte mir, dass wir uns hier oder dort noch mehr Freiheiten nehmen. Solche Impulse nehmen wir natürlich auf.
Gilt das Gleiche für stilistische Fragen? Man spielt ja heute Mozart nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren. Ergeben sich solche stilistischen Modifikationen dadurch, dass man andere Musiker, andere Ensembles hört?
Monika Henschel: Es ist natürlich mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden, dass man sich den Urtext besorgt und die Quellen genau anschaut. Das ist sozusagen das Rüstzeug, bis man sich dann als Künstler frei macht und wir für uns das Wie und Warum entscheiden.
Mathias Beyer-Karlshøj: Authentisch spielen ist im Grunde ein Widerspruch in sich. Denn natürlich kann man im 21. Jahrhundert nicht authentisch spielen, so wie im 18. Wie sollte man das auch können? Es hat aber – da kann ich nur von mir selbst reden – Zeit gebraucht, bis man sich von dem Fanatismus, der einem – was ja immer bei neuen Bewegungen die Gefahr ist – da verkauft wurde, freimachen konnte.
Die Rede von der historischen Authentizität war ja auch eine Werbeschlagwort, das von den jeweiligen Künstlern – Gardiner, Norrington, Harnoncourt – selbst nicht als Ideal formuliert wurde…
Monika Henschel: Es ist sehr interessant, dass wir uns über Fragen der Authentizität bei Haydn und Mozart so viele Gedanken machen, bei Bartók aber aufhören darüber nachzudenken. Wir hatten das Glück, noch mit Eugen Lehner und Louis Krasner arbeiten zu können, die Schönberg und Bartók selbst noch erlebt haben und uraufführen durften. Das war für uns ein Salto mortale! Wir kamen aus dem sogenannten Zeitgeist, wie man heute Bartók zu spielen habe, dorthin, und der alte Mann - er war in seinen Neunzigern – versank in seinem Stuhl. Wir merkten schon zusehends, dass wir ihn damit gepackt haben. Da wurde uns berichtet, wie damals die authentische Spielweise war. Da sind wir heute meilenweit davon entfernt. Die Spieltechnik war viel lyrischer, viel mehr am oberen, leichteren Teil des Bogens, viel weniger perkussiv… Es wir sind noch nicht da angelangt, dass man sich darum kümmert, auch Bartók authentisch zu spielen. Da sind wir noch lange nicht.
Spielen Sie Bartók nun im Wissen um die frühere Aufführungsweise?
Sie haben sich neben dem traditionellen Kernrepertoire stets um Neues – zeitgenössische Werke wie auch ‚Ausgrabungen‘ unbekannter älterer – gekümmert. In welchem Verhältnis stehen diese beiden Bereiche zueinander?
Monika Henschel: Uns ist da eine lange Beziehung wichtig. Und dem Komponisten ist der Austausch mit uns Musikern genauso wichtig, und auch, dass die Zusammenarbeit langfristig angelegt ist. Es wird mit Manfred Trojahn sicherlich nicht bei einer CD bleiben, weil man sich in seiner Tonsprache wieder findet. Da gibt es auch ein paar andere Komponisten im amerikanischen Sprachraum, die uns sehr am Herzen liegen. Es ist wichtig, dass man einer Tonsprache und einem Komponisten treu bleibt und mit ihm die Entwicklung durchmacht. Das ist für beide Seiten schön.
Ist es schwierig, gemischte Programme mit Bekanntem und Neuem bei den Veranstaltern durchzusetzen?
Wie kamen Sie auf die Version von Haydns ‚Sieben letzten Worten‘ für Sopran und Streichquartett, die Sie nun auf CD vorgelegt haben?
Sie haben dem Label Challenge dann vorgeschlagen, das als Einstiegs-Produktion bei Ihrem neuen Label aufzunehmen? Wie kam der Kontakt zu Challenge zustande?
Als ich die CD zum ersten Mal gehört habe, war ich bei den verschiedenen Einsätzen der Sopranstimme erstaunt, fast erschrocken. Steht eine solche Reaktion dem Charakter von Haydns Musik als Meditationsmusik nicht eigentlich entgegen?
Welche Projekte haben Sie für die Zukunft im Blick?
Und als nächstes CD-Projekt? Gibt es bereits Pläne?
Welche Rolle spielt für Sie als Quartett das Internet? Betrachten Sie das Internet eher als Informationsressource, als Vertriebsmöglichkeit Ihrer Musik oder auch als Kommunikationsmittel mit dem Publikum?
Monika Henschel: …das stimmt nicht ganz. Wir sind wohl, wie man mir gesagt hat, da drin, aber wir haben es nicht reingesetzt.
Mathias Beyer-Karlshøj: Wir sind aber zumindest nicht aktiv. Primär nutzen wir das Internet natürlich als Informationsplattform. Da ist das Internet natürlich höchst interessant und aufschlussreich. – Eben auch bei Bartók. Das ist ja Wahnsinn, was man bei diversen Downloadplattformen so findet: Bartók spielt Chopin-Nocturnes und solche Sachen, das ist natürlich gigantisch…
Christoph Henschel: …oder auch um bestimmte Noten zu finden. Hierzulande bekommt man zum Beispiel von Reinhold Glieres Oktett nur das Leihmaterial für viel Geld. Wir haben übers Internet einen Verlag gefunden, der das Werk gedruckt hat. Und jetzt haben wir es dort käuflich erworben und können es jederzeit spielen, ohne für jedes Konzert Leihgebühr zu bezahlen.
Daniel Bell: Jedes Mal, wenn ich ein neues Stück zu lernen habe, suche ich es bei zunächst bei einer bekannten Video-Plattform. Es gibt dann wahrscheinlich mindestens zehn konzertante Aufführungen, wo man eben nicht nur die Musik hört, sondern auch die Musiker sieht, z. B. welchen Fingersatz sie wählen oder welche Striche. Als Ressource ist das Internet einfach unglaublich. Was man sich mittlerweile alles anhören kann – das war noch vor zehn Jahren undenkbar.
Glauben Sie, dass im Bereich klassischer Musik der Bereich des Downloads in einiger Zeit dem physischen Tonträger den Rang ablaufen wird?
Christoph Henschel: Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Vor allem weil die Klangqualität schlechter ist. Ich persönlich stelle mir lieber eine CD ins Regal. Daniel: Also ich lade inzwischen mehr herunter als ich kaufe. Wenn ich ein neues Stück lernen muss – und das ist eben der Grund, wofür ich meistens Musik kaufe –, dann brauche ich nicht alle Stücke, die auf einer CD drauf sind, zu kaufen. Aber das sind natürlich spezielle Zwecke eines Berufsmusikers.
Was bei einem Download natürlich fehlt, ist das Booklet, auf das gerade auch kleinere Labels große Mühe verwenden.
Mathias Beyer-Karlshøj: Ich denke, das ist ein wichtiger Faktor: die CD eben auch als Informationsträger in Bezug auf das Buch, das Booklet. Auch im Bezug aufs Buch haben sich die Gefahren, vor denen noch vor einigen Jahren gewarnt wurde, nicht bestätigt. Ich werde mir sicher weiterhin CDs kaufen. Sicherlich auch aus Qualitätsgründen, weil die MP3 eine Verflachung darstellt, die ich bedingt akzeptiere, wenn ich unterwegs bin. Aber ich glaube, dass der haptische Aspekt so menschlich, so menschenimmanent ist – das ist meine große Hoffnung. Ich hoffe, dass sich dieser Urinstinkt des Menschen irgendwie durchsetzen wird. Wenn man sich mit der modernen Neurobiologie auseinandersetzt, dann weiß man auch, was das für den Menschen bedeutet und was da alles korrumpiert wird.
Daniel Bell: Das wird man sehen. Wir sind ja mit CDs aufgewachsen. Wir werden sehen, inwieweit die junge Generation konditioniert ist, so etwas noch haben zu wollen, die Generation, die die Option hat, ohne Objekt auch die Musik zu hören.
Monika Henschel: Fakt ist: Wenn Kinder nicht mit einer Zeitung aufwachsen, werden sie sie später nicht vermissen. Das kann analog mit der CD natürlich auch passieren. Was man nicht kennt, vermisst man nicht unbedingt. Was man allerdings bei all dem meist übersieht, ist dass mehr und mehr das – wie man heute sagt – Live-Event, also das Konzert, Anlass für die Leute ist, was zu kaufen. Wenn sie an der Konzertkasse stehen, kaufen sie eben keinen Download, sondern da liegt eine schön aufgemachte CD – und die möchten sie dann gerne kaufen.
Sie haben vor kurzem die Gründung des Verbands Deutscher Streichquartette e.V. bekannt gegeben. Welche Ziele stehen hinter dieser Gründung – wirtschaftliche oder die Vertretung von Interessen?
Welche Strukturen gilt es zu schaffen?
Gehen die Bemühungen auch in Richtung eines Alumni-Modells, dass also ehemalige Schüler einer Hochschule dann als Quartett in residence dort ‚anheuern‘?
Das Gespräch führte Dr. Tobias Pfleger.
(04/2012)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!
Weitere aktuelle Interviews:
Portrait

"Auf der Klarinette den Sänger spielen, das ist einfach cool!"
Der Klarinettist Nicolai Pfeffer im Gespräch mit klassik.com.
Sponsored Links
- klassik.com Radio
- Urlaub im Schwarzwald
- Neue Musikzeitung
- StageKit - Websites für Musiker, Veranstalter und Konzertagenturen