Hille Perl über Barock und Gegenwart und wie sich beides gegenseitig durchdringen kann
"Wir müssen herausfinden, was nicht in den Noten steht"
Das Festival "Zeitfenster. Biennale für Alte Musik" findet 2010 zum fünften Mal statt. Unter dem Rahmenthema "Fallstudien" wird sich das Festival exemplarischer Hybris nähern, einem nicht versiegenden Gegenstand der Künste, der sich ebenso ausdauernd aus der Beobachtung der zeitgenössischen Welt speisen kann. Entlang dieser Kontinuität und im Spannungsfeld der Gestaltungsweisen wird sich das Festival auch auf die Konfrontation von Alter und Neuer Musik konzentrieren. Aber es gibt nicht nur thematische, sondern auch einen instrumentalen Schwerpunkt: die Viola da Gamba. Mit der Gambistin Hille Perl, die auf dem Festival spielen wird, sprach klassik.com-Autor Tobias Roth über die Gegenwart des Barocken, das Barocke der Gegenwart, und die Gambe in Didaktik und Praxis.
Frau Perl, immer häufiger sieht man Konzertprogramme, in denen Neue und Alte Musik kombiniert werden. Auch Sie sind in beiden Bereichen aktiv. Wo ist Ihrer Meinung nach der Bezug, und wie würden Sie die Berührungspunkte benennen?
Insbesondere wenn ich mich in Bezug auf mein Instrument, die Gambe, umschaue, würde ich von der Frage ausgehen: Was waren das für Leute, die früher für ein Instrument komponiert haben? Es waren vorwiegend Virtuosen dieses Instruments selbst, und es war eine Selbstverständlichkeit, dass sie idiomatische, besonders auf das Instrument ausgerichtete Musik komponierten. Das galt insbesondere für hoch idiomatische Instrumente, wie etwa Gamben oder Lauten; da gibt es so gut wie keine “fachfremden“ Komponisten. Das ist ein großer Unterschied zur heutigen Situation, wo wir eine Art akademische Neue-Musik-Bewegung haben. Komposition wird studiert, indem sich die Künstler erst einmal – sagen wir – zehn Jahre lang mit Klängen, Geräuschen und den Beziehungen von Tönen zueinander befassen, um sich dann erst zu fragen, ob es Instrumente gibt, auf denen man eine Idee umsetzen kann.
Gibt es Ihrer Meinung nach heute kaum Komponisten mehr, die idiomatisch für Instrumente komponieren?
Doch, natürlich. Es gibt jetzt die Tendenz, dass die Künstler, die die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts spielen und in erster Linie einen praktischen Zugang zu den Instrumenten haben, neue Kompositionen schaffen. Oder aber Komponisten arbeiten so eng mit Musikern zusammen, dass es wieder einen idiomatischen Zugang gibt. In diesem Sinne wird auch heute wieder weniger abstrakte Musik komponiert, die man nachträglich auf ein Instrument packt; sondern man achtet wieder vermehrt darauf, wie das Instrument funktioniert, was es für Möglichkeiten bietet, um dann damit zu arbeiten. Das ist sowohl für die heutigen Virtuosen als auch für die Komponisten spannend. Durch die Beschäftigung mit dem Idiom eines Instruments entsteht auch für die Komponisten ein anderer Zugang zur Musik, zum Tonmaterial. Spätestens seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es verstärkt die sogenannte Alte-Musik-Bewegung, die sich inzwischen in den Konzertsälen und im Plattengeschäft etabliert hat (wenn auch noch nicht so sehr im Ausbildungsbetrieb) – und es ist klar, dass diese etablierte Szene nur weitergehen kann, wenn wir uns auch mit Neuer Musik beschäftigen, wenn diese Konfrontation stattfinden kann. Das geschieht momentan in ganz unterschiedlichen Bereichen, beispielsweise in der Konfrontation mit Jazz und Improvisation. Gerade die Improvisation ist bei uns auch im Idiom verwurzelt. Es gibt keinen Musiker des 16. und 17. Jahrhunderts, der nicht improvisieren konnte. Das gehörte zum ganz normalen Handwerk dazu; und langsam gehört es auch heute wieder zum ganz normalen Handwerk. Da gibt es die verschiedensten Zusammenhänge, in die man sich stellen kann.
Es treffen also über gewisse Umwege wieder Konstellationen in der Praxis aufeinander, die jene Ähnlichkeitsbeziehung von Alt und Neu erzeugen?
Genau, ich treffe Gambisten in allen möglichen Zusammenhängen, durchaus im Jazzbereich, durchaus im Popbereich, da kreuzen plötzlich überall Kollegen oder Studenten von mir auf. Wir finden uns in musikalischen Zusammenhängen wieder, an die man vor 20 Jahren noch gar nicht gedacht hat, weil man noch beschäftigt war, überhaupt das Idiom richtig zu lernen. Da sind wir nun weiter und können so auch einen etwas unbefangeneren Umgang mit unseren Instrumenten pflegen.
Sie sprachen gerade davon, das Idiom der Gambe zu erlernen – gerade im Kontrast zur abstrakt notierten Musik. Wie lässt sich denn da ein Zugang zum 16. und 17. Jahrhundert finden, das uns im Grunde nur noch als Papier präsent ist?
Da muss ich ein wenig ausholen und erklären, warum eigentlich die Alte Musik so lange verschüttet war. Große Bereiche des Repertoires, das heute wieder ganz normal im Konzertleben vorhanden ist, fand im ausgehenden 19. Jahrhundert überhaupt keine Beachtung, weil es von einer recht anders gearteten, romantischen Herangehensweise an Musik verdrängt worden war. Bestimmte Ideale der romantischen Tradition, die sich zum Beispiel im Instrumentenbau selbst oder in den Kompositionstechniken niederschlagen, bündeln sich etwa in der Kernaussage, dass die Entwicklung (der Künste) progressiv ist, dass also alles stetig besser wird. Im Instrumentenbau findet man diese Tradition der vermeintlichen Optimierung: Die Instrumente werden so etwa gleichmäßiger und lauter. Das sind Parameter, die die sogenannte Alte-Musik-Bewegung erst einmal infrage stellen musste, um herauszufinden, wie jene Musik funktionierte, die davor da war. Oder andersherum: Wieso funktioniert diese Musik nicht, wenn wir sie auf einem modernen Klavier spielen? Dann stößt man etwa nicht nur auf andere Stimmungssysteme, sondern auch auf andere Klangideale und Klangmischungsideale.
Hinzu kommt eine andere Technik, die Musik aufzuschreiben. Wenn ich mir beispielsweise ein Stück aus dem 16. Jahrhundert vornehme und auf einem modernen Instrument einfach nur die Noten spiele, die da stehen, dann ist das eine Erfahrung, als würde ich mir heute ein Beatles-Songbook kaufen und würde auf der Gitarre spielen, was dasteht. Das klingt niemals wie ‚Sgt. Pepper‘. Es fehlen die Farben, das Ornament, es fehlt eigentlich das meiste; das Songbook gibt nur den Anhaltspunkt. Genauso ist es mit der Alten Musik auch, wir müssen erst herausfinden, was eigentlich fehlt und nicht in den Noten steht. Das sind das Idiom und die Sprache, von der ich geredet habe. Man muss also erst lernen, was noch dazugehört, damit etwa Monteverdi, Schütz oder eben auch Bach funktionieren; da geht es dann um Stimmungssysteme, Takthierarchien, Affekte, etc. Ohne dieses Wissen fehlen ein bis zwei Drittel dessen, was diese Musik ausmacht. Und dieses Idiom lässt sich dann transferieren, in andere Zusammenhänge stellen, anders betrachten. Es gibt etwa Tendenzen im Jazz, sich mit Modi zu befassen oder mit verschiedenen Stimmungssystemen. Da kommt man dann doch zu neuen oder anderen Ergebnissen, indem man sich der Sprache einer in unserer Hörgewohnheit vergessenen Zeit bedient.
Es laufen also spannende Rückkreuzungen ab. Aber glauben Sie, dass es abseits dieser praktischen Bezüge auch ein gleichsam gedankliches Interesse an dieser Kurzschließung von barocker und zeitgenössischer Musik gibt? Oder anders gefragt: Wie lässt sich “barock“ überhaupt charakterisieren? Könnte man da nicht auf die Idee kommen, dass wir heute in einer recht barocken Zeit leben? Ich denke da etwa an die manische Fixierung auf den Verfall und ähnliches.
Ich glaube, das kann funktionieren. Indem wir die Alte Musik “richtig“ spielen: Dann ist sie für uns eigentlich zeitgenössisch. Wir spielen diese Musik nicht aus historischem Interesse, sondern deswegen, weil wir glauben oder fühlen, dass diese Musik heute kommuniziert. Ich würde in diesem Sinne behaupten, dass das zeitgenössische Musik ist. Das gilt zum Beispiel auch für das Programm, das ich beim Zeitfenster-Festival spiele; da befinden wir uns im ausgehenden 17. Jahrhundert. Das ist eine Zeit, die durchaus geprägt ist von Experimentalität, von der Vermischung von Formen. Der Dreißigjährige Krieg ist gerade überlebt. In Mitteleuropa kreuzen sich die verschiedenen Nationalstile. Besonders präsent ist in diesem Programm der Komponist Johannes Schenk, ein Deutscher, der in Amsterdam geboren wurde. Je nach seinem Aufenthaltsort nannte er sich auch Giovanni, Jean, Johann, wie auch immer. Er begriff sich selbst durchaus als Kosmopolit und experimentierte mit Instrumentalformen. Er schrieb nicht mehr gängige Suiten oder Sonaten, sondern begann, die Formen zu vermischen und ließ sie ineinander übergehen. Ebenso geht er mit Tonarten um. Nicht, weil es ungekonnt ist, sondern weil er einen sehr unorthodoxen Zugang zur Musik hatte. Diese Werke erscheinen mir ungeheuer ‚heutig‘, diese Musik ist einem Publikum unserer Zeit eigentlich nicht fremd, wenn sie richtig gespielt und dargestellt wird.
Sind das jene Werke und Personalstile, die Strukturen in Frage stellen und im Nachhinein von einer klassizistischen Doktrin als falsch, übermütig, abschweifend dargestellt werden?
Genau – oder eben als nicht gut. Die romantische Bewegung hat sich ja doch angemaßt, viele Werke als insignifikant zu bewerten oder als dilettierend, einfach weil es nicht verstanden wurde. Da sehe ich auch unsere und meine Aufgabe, das eben nicht in die Ecke zu stellen, sondern erst einmal zu begreifen, was da los ist. Ich habe das Zeitfenster-Programm nun schon öfter, auch in verschiedenen Ländern gespielt, und Tatsache ist, dass es sehr gut kommuniziert. Das Publikum ist fasziniert, verwundert, aber begreift es.
Legen Sie diese Kontexte auch offen und besprechen sie im Konzert oder stellen Sie die Musik auf sich allein?
Nein, es ist mein Anliegen, diese Musik so zu spielen, dass man sie versteht, dass die Geschichte, die erzählt wird, klar wird. Selbst wenn sie vielleicht in einer fremden Sprache erzählt wird. Dass die Affekte klar sind, dass die Tonalitäten im richtigen Spannungsverhältnis zueinander dargestellt werden. Und es ist erstaunlich, wie weit man damit kommt, wie nah man diesen Charakteren kommt, auch wenn man 300 Jahre zurückgreift.
Ist nicht die Affektenlehre, das barocke Gefühlsdenken, ein Punkt, wo sich ein großer Unterschied zu uns heute einstellt? Ist nicht die Reinheit der Affekte –etwa in theatralischen Umfeldern: schierer Zorn, schiere Verzweiflung, schiere Liebe – etwas, das unserem eingefleischten Verlangen nach Natürlichkeit und Gefühlsillusionsimus widerspricht?
Wenn ich mich so umschaue, sehe ich das ganze Affektschema in jedem von uns verborgen. Manchmal ist es auch so, dass durch Kunst oder durch Musik etwas angespielt, angerührt wird, von dem man gar nicht wusste, dass es da ist. Wenn ich zum Beispiel an Melancholie denke oder an Musik aus dem Dreißigjährigen Krieg, Deutsche Trauermusiken: Da glaube ich schon, dass auch ein heutiges Publikum davon gepackt wird und vielleicht solche Trauer dort findet. Das gibt es auch. Ich glaube, dass gefühlsmäßig, evolutionsmäßig oder wie auch immer 300 Jahre kaum ins Gewicht fallen. Und zudem sind die Umstände, in denen wir jetzt leben, durchaus vergleichbar mit dem 17. Jahrhundert: Wir können nicht voraussagen, was in zehn Jahren sein wird, wohin man auch sieht, tobt Krieg, und man bekommt es sehr deutlich mit. Das unterscheidet sich eigentlich in nichts. Damals war es zwar auf Mitteleuropa begrenzt und heute lässt sich kaum mehr eine Grenze ziehen – aber letztlich ist doch Krieg Krieg und Tod Tod und Liebe Liebe. Ich glaube, da geben wir uns absolut nichts.
Aber wir finden uns heute in einer seltsamen Zuschauerperspektive. Der Krieg ist ja nicht vor unserer Haustür.
Das muss man auch erst einmal so sehen können. In meinen Augen ist der Krieg durchaus vor unserer Haustür. Afghanistan ist nicht so weit weg, man weiß nie, was da passiert, vielleicht sind Menschen, die man kennt, dort. Ich empfinde durchaus, dass wir durch die Globalisierung alle auf einem Haufen sitzen.
So gesehen schon. Aber die Menschen, die heute in Magdeburg leben, haben nicht die katastrophale Eroberung Magdeburgs 1631 zu gewärtigen, sondern sie sehen den Krieg durch die Medien. Da ist doch eine Schicht Metapher und mediale Vermittlung zwischen der Haustür und der Haustür…
…ja, aber jeder hat etwas, worüber er trauern möchte. Was uns vom 17. Jahrhundert unterscheidet, ist eher das Ausdrucksvermögen. Im 17. Jahrhundert wurden die furchtbaren Dinge viel eher in Kunst transzendiert als heute. Wir drücken es weg. Natürlich nicht immer und nicht jeder, aber damals war es eben ein völlig normaler Umgang. Der allgegenwärtige Tod betraf jeden direkt, und es war völlig normal, das in Kunst zu gießen und auf diese Weise damit umzugehen. Nicht nur Trauermusiken, natürlich auch Freudenmusiken, auch das gab es öfter: Dass man emotionale Zustände in Kunst goss, das taten die früheren Künstler mit größerer Natürlichkeit und hatten zudem den Vorteil, dass sie es dadurch anders betrachten konnten. Das ist eine Art der Verarbeitung, von der man vielleicht noch etwas lernen kann.
Vom unmittelbar künstlerischen Ausdruck der Emotion, wo ein Weg gegeben ist, durch die künstlerischen Mittel und etwa die Affektenlehre?
Das ist auch etwas sehr schönes an diesem Zeitfenster-Programm: Dass diese Musik sehr individualistische Musik ist. Natürlich einerseits, weil es solistische Musik ist. Aber tatsächlich hat jeder Komponist seine eigene kleine Entwicklungsgeschichte, seine eigene Virtuosität, seinen eigenen Stil. Man kann also nicht sagen, es gebe den einen Stil, den alle Gambisten im 17. Jahrhundert gepflegt haben; sondern es sind viele verschiedene, die da zum Tragen kommen.
Auch das ist ja ein Zustand, der meist als Charakteristikum der Kunst des 20. Jahrhunderts und des Zeitgenössischen bezeichnet wird: Zu behaupten, wir hätten heute den Stilpluralismus der Individualstile, und den habe es früher nicht gegeben.
Klar, das ist eine Frage der Wahrnehmung. Das ist, als würde man sagen, dass alle Stücke, die auf der Gambe gespielt werden, gleich seien. Was natürlich nicht stimmt. Ebenso wenig wie sich alle Komponisten bruchlos in eine Epoche einsortieren lassen. Diese Schubladentechnik (die auch im ausgehenden 19. Jahrhundert Form gewonnen hat) klappt einfach nicht.
Die Gambe als Instrument steht ja auch im Zentrum des diesjährigen Zeitfenster-Festivals…
…ich finde das sehr schön und auch äußerst wichtig. Nicht nur, weil für mich natürlich die Gambe das wichtigste Instrument des 17. Jahrhunderts ist, sondern auch des 21. Dass wir in der Zwischenzeit ein paar hundert Jahre Pause gemacht haben, ist eher Zufall. (lacht) Das ändert sich jetzt auch. Es gibt wirklich einen ungeheuren Boom. Ich habe so viele und so tolle Studenten, die alle diesen Virus eingeatmet haben; denn Gambe zu spielen ist wirklich wie eine Sucht oder eine Krankheit, die man nicht wieder los wird. Da schien nun der Zeitpunkt gekommen, die Gambe in den Mittelpunkt zu stellen.
Hat die Mehrzahl ihrer Studenten direkt mit der Gambe begonnen, oder sind es meist “infizierte“ Cellisten?
Das hält sich ungefähr die Waage. Etwa die Hälfte sind generische Gambisten, wie ich auch, und dann gibt es Leute, die vom Cello oder von der Geige kommen und mit diesen Instrumenten einen lebenslangen Kampf hinter sich haben – und in der Gambe so etwas wie eine Befreiung finden. So eine Gambe funktioniert eben auch diametral entgegengesetzt etwa zum Cello, entstammt ja auch einer ganz anderen Instrumentengattung. Typisch für die Gambe ist etwa, dass nichts mit Druck funktioniert. In dem Moment, wo etwas mit Kraft oder Druck passiert, ist es kaputt. Insbesondere Barockcelli sind da im Vergleich schon schwergängiger. Die Gambe ist wie ein Gegenüber, das immer auch etwas Eigenes mitbringt. Das ist schon eine tolle Erfahrung, die viele Studenten nicht zu kennen scheinen, die vom Cello kommen – und es macht unheimlichen Spaß, das zu zeigen.
Das Gespräch führte Tobias Roth.
(04/2010)
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