Jonathan Nott findet in Mahlers Sinfonien die Spiegelung seiner musikalischen Ideale - den Ausgleich von Emotion und Struktur
"Ich komme nicht weg von der Kantilene"
Der englische Dirigent Jonathan Nott, Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, ist seit einigen Jahren vor allem als Mahler-Dirigent hoch geachtet. Sein Mahler-Zyklus, der bei dem schweizerischen Label Tudor erscheint, ist zur Hälfte fertig - und bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. Daneben legte Jonathan Nott - ein unprätentiöses Energiebündel ohne Eitelkeiten - andere prämierte Einspielungen vor und führte die Bamberger Symphoniker zu gefeierten Gastspielen in den internationalen Musikmetropolen, darunter Salzburg, London, New York, Tokyo. Über Jahre hinweg hat sich im oberfränkischen Bamberg eine Zusammenarbeit von Dirigent, Orchester und Plattenfirma entwickelt, die in der schnelllebigen Kulturlandschaft selten geworden ist. Welche Arbeit diesem Erfolg vorausging, worauf es bei Mahlers Sinfonien ankommt und dass man als Sänger nie von der Kantilene wegkommt, erfuhr klassik.com-Autor Tobias Pfleger von dem sympathischen Engländer.
Herr Nott, Sie engagieren sich sehr für den musikalischen Nachwuchs, nicht nur im Rahmen des Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs. Vor Kurzem haben Sie mit den Klangkörpern einer Musikhochschule Mahlers Zweite Sinfonie aufgeführt. Wie wichtig ist die Beschäftigung mit jungen Musikern?
Ganz wichtig! Es macht riesigen Spaß mit jüngeren Leuten, wenn es gut läuft – besonders bei solchen Stücken wie Mahlers Zweiter Sinfonie, in der die Musiker sehr viel zu spielen haben, und die gedanklichen Elemente so schön sind, so groß und hoch. Und es tut den jungen Musikern sehr gut. Wenn sie ausschließlich Kammermusik spielten, hätten sie natürlich nie die Herausforderung, die dann im Orchester auftritt: Wie ist ein Streichersatz gestaltet; wer führt? Oder: Wir machen ein Accelerando, aber so spielen hier die Posaunen – und die können das an dieser und jener Stelle nicht so schnell wie andere.
Es kommt also auch im Orchesterspiel auf kammermusikalische Qualitäten an: ausgleichen, aufeinander hören…
…ja, das ist sehr wichtig. Und auch die Kraft von jungen Musikern ist besonders groß, die Energiequelle manchmal überwältigend. Aber so fordernd die Arbeit mit einem Nicht-Profiorchester auch ist – es macht großen Spaß und ich lerne dabei enorm viel!
Wie hat man sich dieses Lernen vorzustellen?
In der Probenarbeit habe ich gesagt. Wann baut man das Dach? Muss man schon die Wände haben? Es nutzt nichts, wenn man das Dach hat, aber die Wände noch nicht stehen. Auf der anderen Seite: Wenn man nicht andeutet, wo das Dach sein muss, dann weiß man auch nicht, wo man die Wände hinstellen soll. Das heißt: Wann und wie viel macht man in den Proben, so dass die Musik, die die jungen Leute noch nicht gespielt haben bzw. kennen, ihnen etwas sagt.
Ich möchte auch nicht im Sinne eines schlechten deutschen Kapellmeisters die Takte schlagen. Dann würden zwar alle genau wissen, wo wir sind, aber das macht keinen Spaß und wäre keine Musik. Wenn die Musiker das aber nicht gewohnt sind und in die Noten schauen, dann zu mir und nicht wissen, wo ich bin – dann bekommen sie Panik und spielen schneller. Aber die Begründung, wieso sie nicht da sind, wo ich bin, ist eben, weil sie schon vorher zu schnell waren! Das ist auch für mich sehr fordernd. Damit der nächste Ton nicht zu früh kommt, muss ich von Note zu Note die Spannung halten, auf jeden Fall von Schlag zu Schlag. Das heißt, man muss darauf achten, eine richtige Kantilene in der Gestik auszudrücken, eine gewisse Klarheit und gleichzeitig Unklarheit finden – eine Balance, das ist eine große Herausforderung. In diesem Sinne ist diese Zusammenarbeit sehr gut für mich.
Man sagt, das spieltechnische Niveau steige unaufhörlich. Spielen junge Menschen tendenziell rhythmischer, klarer, präziser?
Zumindest spielen sie tendenziell schneller. Das hängt auch mit dem jugendlichen Denken zusammen, schnell von einem Punkt zum nächsten zu kommen. In einem Profiorchester ist das durchschnittliche Lebensalter schon etwas höher. Da hat man mehr Erfahrung und auch eine andere Perspektive auf das Leben. Aber was heißt: Rhythmus? Das ist ein interessanter Punkt. Denn an den Stellen, wo sie wirklich metronomisch spielen müssten, wo etwa das Horn zwei Achtel gegen Triolen in anderen Stimmen spielt, merkt man, dass das nicht Dinge sind, die von den Musikern regelmäßig gefordert werden. Und so etwas zeigt sich wahrscheinlich eher im Orchester.
Noch etwas zum Rhythmus, was die Verbiegung eines Rhythmus‘ innerhalb einer rhythmischen Struktur anbelangt: Das wird immer absolut metronomisch gespielt. Wenn man das aber so macht, ist es keine Musik mehr, weil keine Plastizität mehr da ist. Diese Plastizität haben zum Beispiel die Wiener Philharmoniker ‚von Geburt an‘, aber Bamberg zum Beispiel hatte das nicht, als ich dort angefangen habe – und jetzt haben sie davon ganz viel!
Bleiben wir noch einen Moment bei der Jugend. Wie kamen Sie denn zur Musik? Hatten sie ein sehr musikalisches Elternhaus?
Eigentlich nicht. Man Vater ist evangelischer Pfarrer. Als ich jung war, stand die Frage im Raum, ob ich nicht im Chor mitsingen will. Dann war ich Sängerknabe. Mein Vater hat etwas Klavier und Gitarre gespielt, aber wir gingen nicht groß in Konzerte. Ich habe auch etwas Klavier gespielt, aber nicht sehr viel. Und wir haben viel im Auto gesungen, daran erinnere ich mich gut. Als Keimzelle waren schon das Singen und ein bisschen Klavier da, aber ich hatte keine besonderen Ambitionen. Aber als ich dann im Chor war – das ist einfach eine völlig andere, professionelle Arbeit. Man singt jeden Tag, ständig vor und nach dem Unterricht und natürlich am Sonntag, man macht Aufnahmen, Radio-Übertragungen; und dann Soli mit Orchester, Tourneen… Man ist frei mit der Stimme bis der Stimmbruch einsetzt, dann hat man Mühe.
Ich habe Musik in einer Umgebung gemacht, die zwar nicht im strengen Sinn religiös ist, aber doch spirituell, und die Verbindung zwischen Musikmachen und dem Ort war schon eine große Prägung für mich. Der Gesang als solcher war immer in meinem Leben. Ich war in einer Musikwelt und habe dann an der Universität Cambridge versucht, ein Gesangsstudium zu machen. Aber dafür hatte ich nicht die richtige Stimme. Und dann hat sich alles entwickelt: Klavier spielen für andere, Klavier spielen an der Oper, Gesang an der Oper und dann irgendwann Dirigieren. Ich glaube, es kam alles durch die Erfahrung als Sängerknabe. Aber es war keineswegs vorprogrammiert, dass ich Dirigent werde.
Es gibt unter den international bekannten Dirigenten viele Instrumentalisten. Sänger sind da deutlich in der Minderzahl.
Ja, stimmt. Warum eigentlich? Um ein guter Sänger sein zu können, ist es ja nicht wichtig, gerade nicht die gleichen Fähigkeiten zu haben wie ein Dirigent. (lacht) Aber ich selbst komme nicht weg vom Gesang, von der Kantilene. Selbst wenn es ‚Sacre‘ [Strawinskys ‚Le Sacre du printemps‘] ist. Was heißt Kantilene? Es hängt mit der Stimme zusammen. Man trägt immer eine Note zur nächsten. Das heißt, das Spannungsfeld von einer Note zur nächsten ist immer da. Was ich überall in der Musik suche, ist das Timing von Farbwechseln, die Kontinuität der Musik und die Schönheit des Klangs. Und daher muss es plastisch sein, selbst ein Marsch – quasi gefesselte Musik – braucht Bewegung. Musik darf nicht nur vertikal sein, sonst hat man das Gefühl, sie steht. Es muss eine Horizontale geben.
Die Bamberger haben am Anfang geschimpft. Ich habe ständig das Tempo geändert, weil es sofort fest war. Wenn der Anfang des Takts mir genau zeigt, wie das Ende ist – dann habe ich keine Musik mehr dazwischen. Aber mit der Zeit kamen sie dahin, dazwischen musikalisch zu atmen. Das Konzept von Klang und Kantilene ist bei mir Grundlage des Musikmachens. Das ist, was ich als Dirigent immer suche. Denn letztlich sollten alle Instrumente die Schönheit des Gesangs nachmachen können.
Das Ideal, den Gesang zu imitieren, galt in früherer Zeit als höchstes Ziel des Musizierens. Versuchen Sie bei der Interpretation, alte Techniken der Imitation vokaler Geschmeidigkeit wieder zu beleben, etwa Streicher-Portamenti? Oder machen Sie das z.B. bei Mahler nur an den Stellen, wo es in der Partitur gefordert ist?
Das ist eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Wenn man alte Aufnahmen anhört, etwa ‚Elgar dirigiert Elgar‘ merkt man: Die machten Portamenti auch nach unten! Wenn man das heute tun wollte, dann bräuchte es ein spezielles Hörtraining für das Publikum. Ich glaube nicht, dass wir das so einfach ‚verkraften‘ könnten, weil es nicht mehr die gleiche emotionale Bedeutung hat wie früher. Es klingt heute nach purer Schlamperei.
Und es weckt beim heutigen Publikum nostalgische Assoziationen an Kaffeehausmusik…
…genau: Es wirkt sentimental. Das ist genau mein Job, die größte Herausforderung bei den Mahler-Sinfonien: Dass die mögliche Sentimentalität und das, weswegen ich diese Musik so liebe, die fantastische Vermischung von tiefer, ernster Emotion mit dem Banalen, in eine Balance gebracht wird. Klar, Mahler macht einen Kontrapunkt wie Bach und Melodien wie Mozart und Haydn, aber er ist absolut bereit, sowohl die intellektuelle Seite als auch die non-intellektuelle Seite einzuladen, anzusprechen. Die Tendenz zu Hyperemotionalität und Sentimentalität, die in der Musik ist, fordert von mir als Dirigent die Darstellung der ganz klaren, praktisch nüchternen Architektur. Es muss eine durchgehende Logik da sein, ich muss eine Geschichte erzählen – das mag daher rühren, dass ich vom Gesang herkomme –, egal ob es Rihm ist, Ligeti oder Boulez.
Aber ich finde es sehr schwer, dass man mit dem Effekt der Portamenti in der Gegenwart richtig umgeht. Und ich glaube nicht, dass Mahler das auch wollte. Es gibt ja eine Briefstelle, wo er schreibt: Immer diese blöden Portamenti in den Celli; die machen alles kaputt. Aber natürlich kann man darüber nachdenken: Non-Vibrato-Klang und Portamenti – muss man Portamenti dann eigentlich überall machen, auch wo es nicht drinsteht? Im Moment denke ich, es sollte das Ganze aus einer Farbe kommen, nicht von einem ständigen Umschalten geprägt sein. Aber klar: Wenn Mahler es andeutet, wollte er das unbedingt. Man muss aber auch bedenken, dass die Instrumente sich geändert haben, und vor allem: Wir haben uns geändert, nicht aber die Stärke der Musik! Und man hat immer noch die Chance, bei diesen Werken echte Tiefe und beeindruckende Andeutungen – wenn nicht sogar Antworten – auf die ewigen Fragen des Lebens, des Menschseins, des Todes zu finden.
Wenn Sie ihren eigenen Zugang zu Mahler einordnen sollten zwischen Extrempositionen des Nüchternen und Emotionalen mit Boulez und Bernstein als paradigmatische Figuren – wo würden Sie sich verorten? Oder ist Mahlers Ambivalenz so, dass man immer alles zugleich sein muss?
Das ist sehr interessant. Wie diese Musik mich anspricht, ist zuerst einmal von einem emotionalen Element bestimmt. Das muss unbedingt da sein. Wenn man versucht, dass in eine Sinfonie eine ganze Welt hineinkommt, dann heißt das, man muss – wie Bernstein sagt – jedes Mal die ganze Seele hineingießen, bei jeder Aufführung, bei jeder Probe; deswegen finde ich das immer auch sehr anstrengend. Das muss sein. Eines der fantastischen Elemente dieser Musik ist, dass in jeder der Sinfonien Mahlers persönliche Erfahrungen, Ängste, Hoffnungen und Unsicherheiten enthalten sind. Aber: Die musikalischen Geschichten sind wahnsinnig kompliziert, man kann sehr viele unterschiedliche Wege durch diese Werke gehen. Und vieles ist auch für mich nicht klar oder ändert sich mit den Jahren, mit der Erfahrung, vielleicht nur durch ein Detail.
Ein Beispiel: Wir gehen durch die gesamte Zweite Sinfonie, und ich glaube an Gott, kein Problem am Schluss der Zweiten Sinfonie. Mindestens für diesen Abend. Am Anfang der Dritten sind wir auf jeden Fall in einer Schopenhauer- und Nietzsche-Welt und wir sind alleine. Jetzt haben wir dieses Gott-Gefühl nicht mehr; das war der Rausch des Abends, jetzt ist es der Vormittag danach. Man muss sich fragen: Sind am Anfang der Dritten Sinfonie die Hörner wir oder Gott Pan; ist es erstes Hauptthema, ist es eine Einleitung; sind die Posaunen wir, oder wechselt das: sind die Posaunen zuerst wir, und dann die Hörner; oder sind die Hörner immer eine Person? Über all das muss man sich klar sein. Das ist das intellektuelle Element. Dazu kommt, dass es so viele verschiedene Instruktionen gibt, was wir tun sollen – aber gut, wenn es letztlich für mich nicht funktioniert, dann muss ich mich fragen: Ist er falsch oder bin ich falsch? Aber zumindest muss ich mir darüber Rechenschaft ablegen. Das ist auf der anderen Seite die ständige intellektuelle Arbeit.
Man muss also beides haben. Ich muss eine Linie haben, die ohne Fett, ohne nebensächliches Schmalz durch diese Stücke geht. – Und trotzdem muss ich das Schmalz von jedem Moment auskosten. Das ist die Schwierigkeit. Das Problem mit Bernstein ist, dass meiner Meinung nach in seinem Mahler zu viel Bernstein ist. Bei Boulez hört man die Struktur, aber das ist nur eine Seite des Ganzen. Es muss uns fesseln. Ich brauche beide Seiten, auch in meinem Leben. Ich brauche die emotionale Geschichten-Erzählung – auch in der zeitgenössischen Musik –, es muss eine Bedeutung haben. Und ich brauche klare Strukturen. Und wenn ich beides in Kombination habe, so wie bei Mahler, dann bin ich sehr glücklich.
Wie gehen Sie an ein neues Stück heran? Es gibt Dirigenten, die sich ausschließlich mit dem Notentext beschäftigen, andere hören Aufnahmen von Kollegen oder früherer Interpreten an…
…ich muss alles tun. Ich lese, so viel ich kann, glaube aber wenig. Z.B. bei Mahler: Es ist nicht klar, ob es stimmt, was Mahler gesagt hat, ob die Aussagen auf bestimmte Personen zugeschnitten sind.
Komponisten legen gerne auch mal falsche Fährten.
Absolut richtig. Es hat für mich angefangen bei der Vierten Sinfonie Mahler. Ich lese diese Sinfonie, habe sie vorher eigentlich nicht – zumindest nicht bewusst – gehört, lese den Notentext – und kann mir nicht vorstellen, wie jemand denken kann, dieses Stück sei eine im Grunde harmlose Sinfonie, bei der man sich zurücklehnen kann. Aber schauen wir doch kurz einmal hin. Wenn der langsame Satz der Vierten anfängt, ist das große Ruhe. Und dann kommt ein Moment interner Kampf; das müssen also wir sein, nicht die Götter. Es geht dann in Reihungen weiter. Und dann: Wer ist am verrücktesten? Es sind nicht wir, es sind die! Die Götter interessieren sich hier scheinbar für uns überhaupt nicht. Wir sind wieder allein. Man liest sehr, sehr viel und dann erzählt man das den Musikern; und dann kommen wieder neue Fragen.
Hören Sie Aufnahmen von Kollegen?
Es scheint für uns ein Riesenvorteil zu sein, Aufnahmen von fast hundert Jahren zu hören. Aber es ist zugleich in gewisser Weise auch ein Nachteil für uns Interpreten. Die Gefahr dabei ist, dass man den Sachen fast zu nah kommt. Zum Beispiel finde ich Gielen mit der Dritten Sinfonie von Mahler sehr interessant, sehr schön. Aber das kann ich nur zweimal hören, dann muss ich wieder davon weg, weil das seine Art ist, und ich muss meine Art und Weise finden. Es ist auch interessant, zu hören, wie Musiker, die näher an Mahler waren, das gemacht haben. Aber ich lebe in unserer Zeit und genieße das. Und doch weiß ich, was Schönberg geschrieben hat. Man kann natürlich nicht die Uhr zurückdrehen, aber zumindest habe ich die Chance zu sehen, was jede Epoche gedacht hat. Und daher glaube ich, dass große Stücke wie Beethoven und Mahler aktuell bleiben; weil sie eine Aussage für uns heute haben. Andererseits: Wenn man heutzutage eine Aufnahme von einer Sinfonie wie Mahlers Zweiter macht, dann möchte ich auch wissen, ob der, der irgendwas über das Stück schreibt, nicht doch andere Ansatzpunkte hat, andere Lieblingsinterpretationen. Es ist interessant zu sehen, ob sich jemand darüber schon einmal Gedanken gemacht hat. Also: Ich nutze alles, was ich zwischen die Finger kriege, spiele und mache meine Notizen und Thementabellen. Und hoffentlich komme ich zu einem Punkt, wo ich eine absolut individuelle Interpretation, eine eigene Aussage zu einem Werk habe.
Es gibt die These, die große Mahler-Wiederentdeckung in der Nachkriegszeit hänge auch mit der Entwicklung der Stereophonie zusammen, weil Mahlers vielschichtiger Orchestersatz sie erfordere. Gewinnt Mahlers Sinfonik Ihrer Meinung nach durch die räumlichen Klangwirkungen der SACD weiter hinzu?
Dem kann ich nur zustimmen. Was macht Mahler mit dem Orchester, wie ist die Instrumentierung? Eine Stelle mit sechs Instrumenten, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten unisono, und er schreibt die erste Stimme Pianissimo und die zweite Stimme Fortissimo – das schreibt er nicht, um die erste Stimme zu ärgern, sondern weil es auch mit Räumlichkeit zu tun hat. Und wie Mahler hier eine Melodie anfängt, dann im Forte von einem anderen Instrument spiegeln lässt und weiterreicht, das ist absolut komponierte Räumlichkeit, ganz zu schweigen von der ganzen Bühnenmusik. Was heißt, vier Trompeten sollen von entgegen gesetzten Richtungen spielen? Jetzt habe ich die Möglichkeit, mit Surround zu arbeiten. Also wieso nicht von den vier Ecken? Gut, vielleicht sind sie dann noch so punktgenau zusammen, als wenn sie alle von vorne spielten, aber in einem Saal versuche ich immer, dass die Bühnenmusik nicht hinter der Bühne ist, so dass man die klangliche Erfahrung der Räumlichkeit gewinnt. Das ist sehr, sehr wichtig.
Das einzige Problem mit der SACD ist, dass man durch die Klarheit das Gefühl hat, man verdünne einige Dinge. Eine gut gemischte, eng mikrofonierte Aufnahme hat vielleicht eine direktere Kraft. Wenn man Klang über den Raum zerstreut, wenn man nicht den geeigneten Raum hat und wenn man es nicht laut hört – man muss es richtig laut hören! –, dann ist die Gefahr da, dass das alles nicht so richtig imponierend ist wie es zu Zeiten des reinen Stereos war. Aber ich glaube, Sie haben absolut Recht.
Sie arbeiten mit dem kleinen schweizerischen Label Tudor zusammen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit, und welche Vorteile bietet ein so kleines Label?
Tudor, Bamberg und auch der Bayerische Rundfunk hatten eine gewisse Beziehung zueinander. Ich finde das eine sehr schöne Sache. Wir haben hier ein sehr gutes, aber nicht unbedingt berühmtes Orchester, ein Orchester, das in einer kleinen Stadt beheimatet ist; wir haben sehr gute Tontechniker mit großem technischen Know-how, die das sehr gut aufnehmen können; und einen Dirigenten, der nicht unbedingt Weltruhm mitbringt und ein kleines Label, das dieses Engagement voll mit trägt – diese Konstellation war richtig. Es ist toll, dass das mit der Zeit erfolgreich geworden ist. Und es ist eine große Herausforderung. Ich hatte vor der Gesamtaufnahme der Schubert-Sinfonien nie Schubert dirigiert. Ich bin sehr froh, dass wir das unter diesen Umständen herausbringen konnten, dass nicht Markteinflüsse dahinter standen und dass man auf Labelseite jemanden findet, der - wie Herr Glowacz - voll hinter diesem Projekt steht. Er hat gesagt: Ich glaube an diese Beziehung zwischen Dirigent und Orchester, ich glaube, das wird was Besonderes.
Der Erfolg gibt ihm und Ihnen recht…
…ja, absolut. Der Erfolg spricht dafür, und das ist fantastisch. Vor allem den großen Erfolg mit der Neunten finde ich sehr, sehr schön. Die Neunte ist in gewisser Weise eine Vollendung von Mahlers gesamtem Schaffen. Aber es ist auch nicht ganz leicht – ein so großer Erfolg, und ich bin erst in der Mitte des Projekts… Aber ich liebe Mahler nicht zuletzt, weil es eine riesige Herausforderung ist, und ich liebe die Herausforderung. Aber es stimmt auch: Dirigenten müssen aufpassen; nicht jeder Dirigent hat eine persönliche Beziehung zu jeder der Mahlerschen Sinfonien.
Sie haben sich in der Vergangenheit intensiv mit zeitgenössischer Musik beschäftigt. Nun gibt es einige, die sagen, die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik wirke zurück auf die Interpretation älterer Musik, andere verneinen eine Wechselwirkung. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Die geteilten Meinungen mögen daher rühren, dass es unterschiedlich ist, ob man als Musiker sozusagen die Innenansicht hat oder draußen als Zuhörer. Ich glaube, die Herausforderung für den Zuhörer ist, dass er sich allein fühlt, wenn man keine Tonalität, keine ‚natürliche Sprache‘ mehr hat, in der man emotionale Elemente darstellen kann. Es gibt eigentlich keine Regeln; im Grunde ist man freier, um die Klänge auf sich wirken zu lassen, als man es bei tonaler Musik ist. Wir müssen einfach die Geduld haben, das anzuhören. Wenn wir bereit sind, um genau auszumachen, was man da alles hört in all den verschiedenen Klangmischungen, achtet man auf andere Sachen. Man trainiert das Ohr, andere Frequenzmischungen zu genießen. Wenn ich dann zurückkomme zu Beethoven, dann habe ich eine größere Chance, dass ich immer noch schockiert bin von diesen Stücken, als wenn ich die Erfahrungen vorher nicht gemacht hätte.
Als Musiker oder als Dirigent ist die Erfahrung ganz ähnlich. Als Dirigent mache ich die Musik nicht, ich steuere sie. Ich schäme mich immer ein bisschen, dass ich die große Kunst anderer Generationen ‚ausraube‘; es ist eigentlich nicht meine Musik. Hier in der Gegenwart ist meine Musik, jene, die jetzt gerade komponiert wird. Zeitgenössische Musik ist auf jeden Fall eine Bereicherung, auch für die Musiker. Wenn dem nicht so wäre, hätte man Leute, die sich nur mit einer Epoche beschäftigen und andere, die sich mit dem anderen beschäftigen. Und das spiegelt meiner Meinung nach nicht das Ideal eines heutigen Musikers. Man kann nicht sagen: Ich bin Musiker, mache aber nur das eine. Man muss sich damit auseinandersetzen – und man wird nur davon profitieren! Aber man muss offen sein. Und wenn ich dann bei zeitgenössischer Musik den Klang bekomme, den ich auch bei Bruckner habe, dann habe ich – wie in Bamberg – die Chance, zeitgenössische Musik schön zu spielen – das muss da sein. Es gibt keine Begründung, wieso zeitgenössische Musik sperrig sein muss.
Andererseits: Man spielt als Musiker immer nur die wirklich besten Stücke der besten Komponisten jeder Epoche. Das macht man natürlich nicht, wenn man zeitgenössische Musik macht. Wir sind zu nah; wir müssen das erst einmal alles spielen. Ich habe viel in der zeitgenössischen Musik gemacht, es immer genossen und war offen. Dafür braucht man die intellektuelle Seite, andererseits muss man auch bei Boulez die andere Seite mit einführen.
Das Gespräch führte Dr. Tobias Pfleger.
(08/2010)
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