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Montag, 2. Oktober 2023

Photo: Marco Borggreve

Christoph Prégardien im Gespräch mit klassik.com

"Seid einfach mutiger!"


Christoph Prégardien begann seine Opernkarriere in Frankfurt. Auf CD machte er sich zunächst als Interpret für Bach- und Barockpartien einen Namen. 1990 nahm der lyrische Tenor zum ersten Mal "Die schöne Müllerin" auf und wurde für die Medien über Nacht zum Schubert-Experten. Seit kurzem arbeitet der Sänger mit dem niederländischen Label Challenge Classics zusammen und widmet sich erneut Schubert. Miquel Cabruja sprach mit Prégardien über seine CD-Projekte, die historische Aufführungspraxis und die Bedeutung von Emotionen.

Herr Prégardien, Sie haben mit den Majors der Branche gearbeitet. Warum haben Sie ausgerechnet zu einem kleinen Label wie Challenge gewechselt?

Weil ich bei Challenge Classics seit langem erstmals das Gefühl habe, dass ich Menschen gegenüber sitze, die genau wissen, wovon ich rede. Dem Team von Challenge geht es vor allem um die Musik. Natürlich müssen auch sie ihre CDs verkaufen, aber sie lassen mir freie Hand was das Repertoire angeht und arbeiten in allen Fragen eng mit mir zusammen.

Ihre Aufnahme von „Die schöne Müllerin“ mit Andreas Staier war der Startschuss zu einer großen Karriere als Liedsänger. Warum kehren Sie zu Beginn Ihrer Arbeit mit dem Label Challenge zu diesem Zyklus zurück?

Ich habe mich in den achtzehn Jahren, die dazwischen liegen, einfach weiterentwickelt und wollte die Müllerin unbedingt mit Michael Gees aufnehmen. Wir sind gute Freunde, arbeiten seit 25 Jahren auf einem ganz hohen Niveau zusammen und dringen dabei tief in die Materie vor. Wir haben in bezug auf unser Repertoire oft kontroverse Diskussionen und Konflikte, die aber immer der Sache dienen. Auf der Bühne reagieren wir intuitiv aufeinander, und das ist es, was unsere Partnerschaft so fruchtbar macht.

Michael Gees spielt einen modernen Flügel. Wie passt das zum historischen Zugang, den Sie für Ihre Interpretation wählen?

Bei der Aufnahme mit Andreas hatten wir einen historischen Hammerflügel. Auf der neuen CD spielt Michael ein modernes Instrument, während ich mit historischen Verzierungen an die Lieder herangehe. Das scheint sich zu widersprechen, aber ich wusste 1990 einfach noch nicht so viel über den Liedgesang wie heute. Zwar hat Andreas Staier immer schon zu mir gesagt, ich müsse Schubert genauso wie Mozart und Händel verzieren. Von meiner Ausbildung her war ich allerdings nicht darauf vorbereitet.

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Welche Bedeutung haben die Diabelli-Ausgabe und die Notizen von Vogl für Ihre historisch informierte Herangehensweise?

Anton Diabelli hat zwei Jahre nach Schuberts Tod die berühmte praktische Ausgabe herausgebracht und darin viele Vereinfachungen der Gesangslinien vorgenommen, damit die Lieder auch von Amateuren bewältigt werden konnten. Der Sänger Johann Michael Vogl hat zwar bei der Diabelli-Ausgabe mitgewirkt, seine Notizenbücher zeigen aber, dass er selbst ganz anders an die Schubert-Lieder herangegangen ist. Der Bariton, der viele Lieder Schuberts bekannt gemacht hat, vereinfachte nicht, er nutzte eine Vielzahl von Verzierungen: Ornamente, Rubato-Effekte, Modifizierungen der Tempi, dynamische Wechsel und vieles mehr. Mir geht es in der Aufnahme mit Michael Gees darum, zu zeigen, wie zeitgenössische Sänger, die ja meist von der Oper herkamen, „Die schöne Müllerin“ gesungen haben könnten. Verzierungen spielten dabei eine wichtige Rolle und wurden nicht anders als bei Bach oder Händel improvisiert. Deswegen habe ich mir auch für die Aufnahme nichts notiert, sondern beim Singen aus dem Moment heraus gestaltet.

Geht man vorsichtiger an das Thema Improvisation heran, wenn man im Hinterkopf hat, dass eine CD ein bleibendes Dokument ist?

Interessanterweise nicht. Eine Studioaufnahme entsteht ja heutzutage in unzähligen „Takes“, die später erst zusammengeschnitten werden. Dem Aufnahmeleiter Bert van der Wolf haben meine Verzierungen während der Aufnahmesitzungen so gut gefallen, dass er nur die „Takes“ nehmen wollte, in denen ich Ornamente gemacht hatte. Das wurde mir jedoch zu viel. Schließlich soll diese Praxis nicht der Selbstdarstellung dienen. Ich will, dass ein Rubato oder eine dynamische Veränderung in der musikalischen Aussage begründet ist. Ich glaube, dass es beim verzierten Gesang darum geht, den Emotionen in der Musik nachzuspüren und die eigene Phantasie einzubringen.

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Verzierungen als expressives Mittel?

Sofern man sie richtig einsetzt. Vielleicht ist Vogl da auch ein Stück zu weit gegangen. Wenn man seine Skizzenbücher studiert, wird klar, dass er zeigen wollte, was er konnte. Vielleicht spielte auch Eitelkeit eine Rolle - aber das ist meine persönliche Meinung. Bei meiner Lehrtätigkeit an der Kölner Musikhochschule sage ich meinen Studenten immer, dass sie sich ausprobieren müssen und nicht einfach nur abspulen dürfen, was sie vorher einstudiert haben. Es muss so klingen, als sänge man das Stück zum ersten Mal, auch wenn man es noch so oft gemacht hat. Deswegen richtet sich diese CD auch an junge Sänger, die heute Schubert singen. Ich will ihnen damit eine Diskussionsgrundlage bieten und sagen: „Seid einfach mutiger im Konzert“

Wie reagiert das Publikum auf den verzierten Schubert?

Freunde, die mich seit 20 Jahren hören, sind oft erst einmal schockiert. Da heißt es: „Also nein, was hast du denn da gemacht? Das ist nicht mehr unsere Müllerin.“ Oft finden sie es nach einer Weile aber doch interessant und entdecken Neues darin.

Wieso hat man ausgerechnet bei Schubert Probleme mit historisch informiertem Musizieren?

Bei Mozart, Bach und Händel ist es man es einfach gewohnt. Man weiß schon seit langem, dass die Sänger des Barock vor allem in der Oper verzierten und viel größere Freiheiten genossen als wir heute - oft auch zum Leidwesen der Komponisten. Natürlich ist längst bekannt, dass es zu Schuberts Zeiten auch üblich war zu verzieren. Wenn man das aber heute tut, steht man im Widerspruch zur jüngeren Tradition.

Zurück zur Müllerin: Wie hat sich Ihre Sicht auf den Müllerburschen in 18 Jahren verändert?

Ich bin zu einer tieferen psychologischen Einsicht dessen gekommen, was da vor sich geht. Ich habe aber auch mehr über die Entstehung des Zyklus gelernt. Als ich mit der Müllerin anfing, hatte ich etwa keine Ahnung davon, dass Schubert drei Gedichte aus der Müller’schen Vorlage nicht vertont hat. Ohne den Prolog und Epilog von Müller hebt Schubert das Ganze auf eine viel ernste Ebene...

...eine Ebene, die tödlich endet. Ist „Die schöne Müllerin“ eine echte Liebesgeschichte oder ist der Protagonist am Ende in den Tod verliebt?

Das ist eine gute Frage, über die ich noch nie wirklich nachgedacht habe. Ich weiß nicht, ob eine Todessehnsucht mitkomponiert ist, aber der Gedanke an den Tod tritt sehr früh auf. Im zehnten Lied - „Tränenregen“ - heißt es: Und in den Bach versunken Der ganze Himmel schien Und wollte mich mit hinunter In seine Tiefe ziehn. Hier äußert der Protagonist einen Todesgedanken, obwohl es dafür keinen wirklichen Anlass gibt. Interessanterweise steht die Müllerin erst danach auf und geht. In jedem Fall ist er ein ziemlich schräger Vogel.

Ein Außenseiter?

Ein junger Mensch ohne Lebenserfahrung. Er hat vielleicht schon mit vierzehn Jahren beim Müller angefangen, kennt nur seinen Beruf und den Bach. Wenn man sich Schuberts Leben ansieht - die Müllerin hat er 1823 geschrieben - dann spielt das Thema Tod eine große Rolle für ihn. Ich glaube, dass war in seiner Epoche typisch. Die Menschen starben früh an diversen Krankheiten, die Kindersterblichkeit war hoch, der Tod war allgegenwärtig und gehörte zum Leben. Das Thema wurde nicht ausgeklammert wie heute.

War es insgesamt eine emotionalere Epoche?

Die Menschen waren offenbar mit ihren Gefühlen im reinen und konnten ihr Innenleben einfacher artikulieren. Wir tun uns heute schwer damit, was man vor allem im alltäglichen Umgang spürt. Wir bringen nur noch selten die Zeit auf, Menschen als Individuen wahrzunehmen, sich auf jemand einzulassen. Das ist heute nicht mehr „en vogue“, aus welchen Gründen auch immer.

Was bedeutet das für heutige Interpreten?

Für uns ist es fremd geworden, sich mit Emotionen auseinanderzusetzen, die im 19. Jahrhundert noch alltäglich waren. Allerdings kann man das lernen. Für mich ist es inzwischen völlig normal, weil ich ja ständig Lied, Oper und Oratorien singe. Auch im Unterricht kann ich das Emotionale nicht von meinen Studenten fernhalten. Da spielt sich zwischenmenschlich unheimlich viel ab.

Musik drückt nicht nur Emotionen aus, sie trainiert auch das emotionale Leben?

Ich habe dadurch, dass ich mich mit Musik beschäftige, ganz sicher ein anderes Verhältnis zu Leben, Liebe und Leiden bekommen. Künstlerpersönlichkeiten brauchen Empfindlichkeit. Sie müssen dünnhäutig sein, Schwingungen vom Gegenüber oder vom Publikum aufnehmen. Wer nicht sensibel ist, kann kein guter Musiker sein.

Ihre neue CD ist Schuberts „Schwanengesang“ gewidmet. Hier ist wieder Andreas Staier ihr Partner am Klavier. Kommen da historisches Instrument und historische Verzierungen zusammen?

Ja, wobei diese Verzierungstechnik beim „Schwanengesang“ weniger zum Tragen kommt als in der Müllerin. Der Schwanengesang gehört in die späte Schaffensphase Schuberts. Der stilistische Unterschied zur Müllerin ist sehr groß und Verzierungen spielen eine weniger prägnant Rolle, auch wenn sich z.B. das Lied „Leise flehen meine Lieder“ durch seinen Serenaden-Charakter geradezu für Verzierungen anbietet. Das gilt auch vor allem für den Klavierpart.

Der Klavierpart im „Schwanengesang“ unterscheidet sich von dem in früheren Schubert-Liedern.

Schubert beschränkt sich hier auf das ganz Wesentliche. In Liedern wie „Der Doppelgänger“ oder „Am Meer“ passiert vordergründig in der Klavierbegleitung nur Akkordisches. Aber auf harmonischer Ebene arbeitet er ungeheuer kühn, paart große Kargheit mit geradezu explosiver Expressivität und katapultiert sich damit aus dem Biedermeier in die Moderne. Das ist im Grunde schon spätes 19. Jahrhundert: Diese Richtung haben Schönberg, Webern und Berg weitergeführt.

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„Schwanengesang“ wurde erst ein Jahr nach Schuberts Tod von seinem Verleger Haslinger zu einem Zyklus zusammengestellt.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Schubert die Lieder, die wir als „Schwanengesang“ kennen, nicht als Zyklus geplant hat. Die sieben Lieder nach Ludwig Rellstab und die sechs Lieder auf Gedichte von Heinrich Heine sollten bestimmt nicht zusammengefasst werden, auch wenn vieles dafür spricht, dass sie gleichzeitig entstanden. Wir haben den Zyklus jedoch so aufgenommen, wie er von Haslinger herausgebracht wurde, einschließlich des Liedes „Die Taubenpost“ nach einer Dichtung von Johann Gabriel Seidl. Auch wenn die Lieder einen erzählerischen Zusammenhang ergeben, haben wir es meiner Meinung nach eigentlich mit zwei Zyklen zu tun: einem Rellstab- und einem Heine-Zyklus.

Gibt es ein Vorbild für Ihre Interpretation des Zyklus?

Hans Hotter! Sie werden sich vielleicht wundern aber ich liebe seine Aufnahme mit Gerald Moore am Klavier. Was Hotter mit seiner Wagnerstimme an dynamischer Bandbreite erreicht, ist einfach unglaublich. Natürlich muss man bedenken, dass er als Bassbariton die Lieder nach unten transponiert hat. Dadurch bekommen sie eine ganz andere Klangfarbe, einen anderen Charakter. Das kann ein Tenor niemals nachahmen aber ich kann versuchen, seine Dramatik zu erreichen. Schwanengesang ist für jeden Sänger ein Prüfstein und der schwierigste Schubert-Zyklus von allen. Er stellt höchste Ansprüche an alle Aspekte der Gesangstechnik.

Was hören wir als nächstes von Ihnen?

Die dritte CD, die wir bei Challenge planen, wird „Zwischen Leben und Tod“ heißen. Darauf wird ein gemischtes Programm aus Liedern und Arien von J.S. Bach bis hin zu Gustav Maler zu hören sein. Das Programm habe ich sehr erfolgreich mit Michael Gees zusammen im Konzert gemacht. Deswegen freue ich mich, dass wir es nun auch auf CD herausbringen. Dass wir bei Challenge auch Dinge abseits des großen Repertoires machen können, ist für mich eine wirklich großartige Chance.

Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(10/2008)

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