Sandrine Piau singt wie ein Schmetterling im Wind
"Sänger sind verrückte Menschen"
Wie oft klagen Eltern über den negativen Einfluss, den die teils unkontrollierbare Intensität an Fernsehkonsum auf ihre Kinder zu haben scheint. Dass der Bildschirm durchaus auch Quelle künstlerischer Inspiration für Kleinkinder sein kann, beweist der Lebensweg der französischen Sängerin Sandrine Piau. Zunächst einem Saiteninstrument unheilbar verfallen, brauchte es die ordnende Hand William Christies, um sie auf den rechten musikalischen Pfad zu leiten. Heute ist die gebürtige Pariserin eine der gefragtesten französischen Sopranistinnen, die trotz klarer Vorlieben für das Barockfach stets offen ist für neue mutige Projekte. Dieser Tage erscheint ihre neue Platte "Évocation" mit Liedern der französischen und deutschen Spätromantik. Im Gespräch mit klassik.com berichtet die überaus lebhafte Sängerin über ihre Liebe zur Oper, ihre Probleme mit Schubert und die entspannende Wirkung von Gartenarbeit.
Frau Piau, wir kennen und schätzen Sie heute als Sängerin, die auf berückend schöne Weise, die Sopranpartien vieler Barockopern und Oratorien interpretiert. Ursprünglich entstammen Sie aber einer ganz anderen musikalischen Kaste...
Das stimmt. Ich bin im Studium auf Williams Christie getroffen, der mich in die Barockmusik einführte. Als Harfenstudentin war meine musikalische Heimat zuvor vor allem die Musik von Alban Berg, Arnold Schönberg und Bela Bartok. Barockmusik war für mich von gediegenem Interesse, Mozart und die Musik der Klassik war mir zu simple, zu einfach zu hören und spielen. Ich war als Studentin aber auch ein etwas schwieriges Wesen. Musik musste für mich möglichst kompliziert, komplex und perkussiv sein.
Wie sind Sie überhaupt auf den Gedanken gekommen, Musik im Allgemeinen und Harfe im Speziellen zu spielen?
Meine Eltern sind keine Musiker, haben aber immer viel Musik gehört und auch gemocht. Als ich ein kleines Mädchen war gab es diese Disney Reihe ‚Aristocats’ im Fernsehen, die ich immer schaute. Dort spielt eine der Katzen, die ‚Duchess’, immer Harfe. Ich war vier Jahre alt als ich das sah und wollte von da an auch Harfe spielen. Ich musste meine Eltern viele Jahre immer wieder nerven, bis sie meinem Wunsch zugestimmt haben. Mir war früh klar, dass ich das wirklich studieren wollte. Ich war eine enorm ehrgeizige Schülerin.
Die Eltern haben diesen ja durchaus ungewöhnlichen Wunsch, Harfenistin zu werden widerstandslos unterstützt?
Natürlich dachten sie anfänglich, das sei nur eine Phase bei mir. Doch als sie merkten, dass es mir sehr Ernst ist mit der Harfe, haben Sie begonnen, meine musikalische Ausbildung voran zu treiben. Da ich nebenbei auch ständig am Singen war, hatten sie diese wunderbare Idee, mich auf eine spezielle Schule zu schicken, die ‚la maitrise de radio france’. Dort wurde vormittags der normalen Schulunterricht abgehalten und nachmittags die Musikausbildung betrieben. Das war zu dieser Zeit in Frankreich etwas ganz Besonderes. Diese Schule war für mich der wirkliche Beginn meiner ‚Musiklaufbahn’. Hier habe ich gemerkt, dass die Musik für mich der richtige Berufszweig ist. Und hier lag in gewisser Weise auch meine Gesangskarriere begründet, denn der Chor dieser Schule sang regelmäßig an der Opéra National de Paris. Wir traten dort in ‚La Boheme’ auf, im ‚Rosenkavalier’, in ‚Carmen’ und vielen anderen Opern. Ich habe bis heute diese besondere kindliche Erinnerung an die Opernaufführungen: das Bild, wie der Staub auf der Bühne im Licht der Scheinwerfen fliegt - eine typische Opernerscheinung, die alle Sänger immer in den Wahnsinn treibt. (lacht herzlich) Heute singe ich nicht viel Oper, bin keine typische Opernsängerin weil ich eine Familie habe, die mich auch braucht. Aber der Zauber, den die Oper seit diesen Kindertagen auf mich ausübt, der ist erhalten geblieben...
Und die Harfe ruhte in dieser Zeit?
Sieh schlief nicht, aber sie wurde von mir viel weniger gequält als zuvor. Ich habe mit 12 die ‚maitrise de radio france’ verlassen und kam an eine andere Schule - eine für Instrumentalisten. Ich wollte ja immer noch Harfenistin werden und hatte Angst, dass mir die Zeit davonlief. Von dort ging es dann direkt weiter ans Konservatorium, wo ich wie erwähnt auf William Christie traf, der mich zum Gesang bekehrte.
War diese Bekehrung notwendig, oder hatten sie auch als Instrumentalistin dem Gesang nicht abgeschworen?
Ich habe immer nebenbei in verschiedenen Chören gesungen, so dass ich den Kontakt zum Singen auf hohem Niveau nie verlor. Es ist schade, dass in Frankreich viele Gesangslehrer ihren Schülern sagen, Chorsingen sei gefährlich für die Stimme und überlaste das Organ. Aus meiner Sicht ist genau das Gegenteil der Fall: es schult die Stimme, man lernt mit ihr umzugehen und zu haushalten. Die französische Chortradition ist verglichen mit Deutschland auch eine rech junge Erscheinung. Im Norden des Landes wird sie mehr gepflegt als im Süden Frankreichs. Ich spreche da aus Erfahrung.
Was genau trieb Sie von den 47 Saiten Ihrer Harfe weg in die Arme William Christies?
Als Harfenistin hatte ich natürlich einen Flötisten als Kammermusikpartner, dessen Schwester ebenfalls sang. Als er mitbekam, wie gerne ich singe, gab er mir den Tipp, zu William Christie zu gehen, der zu dieser Zeit in Paris die Klasse für Historische Aufführungspraxis innehatte. Seine Schwester hatte auch diesen Weg eingeschlagen. Christie arbeitete mit jungen Sängerinnen und Sängern, ohne dass es sich dabei um eine typische Gesangsklasse gehandelt hätte. Vielmehr standen stilistische Fragen im Vordergrund. Das hat soviel Spaß gemacht, dass ich nach dem Harfen- und Kammermusikstudium noch das Gesangstudium dran hing.
Sie waren zunächst auch Mitglied in William Christies ‚Les Arts Florissants’...
Zunächst war ich während des Studiums für kurze Zeit in Philippe Herreweghes ‚La Chapelle Royal’, um mein Studium zu finanzieren. Und ich wollte unbedingt Bach singen, doch Herreweghe sagte mir, meine Stimme sei ideal für die Musik Regers und Bruckners. Also sang ich in Reger und Bruckner Projekten. Für Bach war ihm meine Stimme nicht kindlich klar genug. Aus heutiger Sicht ist das wohl kaum nachvollziehbar. Danach kam ich in Williams Christies Chor, in dem ich aber nur für zwei Projekte mitwirkte. Dann wurde eine Solistin krank und William bat mich, deren Part zu singen. Das macht ich scheinbar so überzeugend, dass er mich nie wieder als Choristin singen ließ. Von hier ab war mein Weg der, einer solistischen Sängerin.
Damit war Ihre Karriere als Harfenistin noch vor einem möglichen Beginn bereits beendet.
Ja, das Harfenspiel musste ich dann bleiben lassen. Es war allerdings eine schwere Entscheidung. Lange Zeit wollte ich nicht laut sagen, dass ich Sängerin bin. Sänger waren aus meiner Sicht immer ziemlich verrückte Menschen. Als Instrumentalist ist man ein rationaleres Wesen, man muss viel Üben und das Instrument wird nie krank. Sänger sind viel sensibler, weil sie ja Musiker und Instrument in einem sind.
Wie hat es Sie dann in die kleine Welt der Barockmusik dauerhaft verschlagen?
Dass es sich bei der Alte Musik Szene um eine, wie Sie sagen kleine Welt handelt, hat sehr geholfen. Die Dirigenten dieser Bewegung besuchen ja gerne gegenseitig ihre Konzerte. So hat man mich gehört und ich wurde von allen eingeladen: Philippe Herreweghe, Marc Minkowski, Ton Koopman, Christophe Rousset, Frieder Bernius; das war ein Selbstläufer.
Das hört sich für mich nach viel Geistlicher Musik, nach Oratorium und Messe an. Blieb ihre Kindheitsliebe Oper auf der Strecke?
Nein, das nicht. Auch wenn ich natürlich sehr viele Oratorien in dieser Zeit gesungen habe, und das auch immer noch mache. Wir haben mit William Christie eine Barockoper jedes Jahr in Aix-en-Provence gemacht. Meine erste Oper im klassischen Sinne war Mozarts ‚Zauberflöte’ unter der Leitung von Kent Nagano in Lyon: ich war die erste Dame. Aber wissen Sie, mit meiner Stimme ist Barockmusik so unheimlich interessant. Sie ist so leichtgängig und klar. Ihre Typologie ist für das nachklassische Repertoire in der Oper aus meiner Sicht nicht sehr interessant. Bei Zeitgenössischer Musik ist das noch einmal etwas anderes. In Frankreich haben wir mit Patricia Petibon und Natalie Dessay so wunderbare Sängerinnen im klassischen Opernmetier. Ich bevorzuge auch heute noch eine Händel-Oper gegenüber der Grand Opéra oder der klassischen Opéra comique.
So ersparen Sie sich Ärger mit Regisseuren, der ja manchen Ihrer Kollegen vorsätzlich aus Opernprojekten treibt.
Wenn die Chemie stimmt, kann ein Opernprojekt etwas ganz Großartiges sein; etwas Zauberhaftes und Bewegendes. Man hat diese wunderbare Freiheit beim Singen, weil man seinen Part auswendig drauf hat und einen Monat oder mehr intensiv an einer Materie arbeiten kann. Wenn man dann jedoch mit Regisseuren arbeiten soll, die den Stoff nicht kennen und sich nur ausprobieren wollen, dann kann das sehr an den Nerven zehren. Man vergeudet so leicht 2 Monate seines Lebens. Bei einer konzertanten Aufführung haben Sie zwar die wunderschöne Musik, aber die Überraschungen, das Spontane der szenischen Fassung bleibt oft aus. Das ist auch keine befriedigende Lösung. Daher brauche ich die szenische Oper unbedingt; es kann so eine große Freude und Inspiration sein. Im nächsten Jahr werde ich sehr viel mehr Opernprojekte machen. Mir tut meine Familie schon jetzt leid, weil sie mich viel weniger sehen wird.
Wie weit haben Sie sich in das nicht-barocke Repertoire vorgewagt?
Ich bin sehr dankbar, dass ich die Stimme für die Musik beispielsweise des italienischen Verismo nicht habe, denn ich mag dieses Fach überhaupt nicht. Dieses oft laute, vibratoreiche Brüllen entspricht nicht meiner Vorstellung von Gesang, so beeindruckend sich dieser Stil für manchen auch anhören mag. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, so etwas meinem Körper anzutun. Ich liebe die frühe Oper bis hin zu Mozart und ich liebe die sehr späte Oper, die der Moderne und danach. So habe ich die Pamina sehr oft gesungen, war aber auch die Ninetta in Prokofjews ‚Liebe zu den drei Orangen’, habe die Titania in Benjamin Brittens ‚A Midsummer Night’s Dream’ gesungen und komme gerade aus Paris von einem Konzert, in dem ich ein Dutilleux Programm gegeben habe.
Mit einer Stimme, wie der Ihren, steckt man sehr schnell in der Barock-Schublade fest…
Absolut! Das hat natürlich auch Vorteile, aber ich möchte nicht darauf allein festgelegt sein. Als Harfenistin mochte ich Zeitgenössische Musik viel lieber, als den ganzen klassischen Kram. Meine große Liebe gehört auch heute noch der Musik Benjamin Brittens. Da gibt es so viele Rollen, die ich unbedingt singen möchte. Auch Strawinsky ist ein großer Traum. Und was gäbe ich dafür, die Sophie im ‚Rosenkavalier’ endlich singen zu dürfen. In Frankreich führt man dieses Stück nur sehr selten auf, und in Deutschland würde man mich niemals für diese Rolle verpflichten - leider. Vielleicht ändert meine neuen Platte das ja. (lacht laut) Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Schublade in Frankreich viel öfter genutzt wird als in Deutschland. So wurde ich in Berlin beispielweise eingeladen, das Brahms Requiem zu singen und in Frank Martins ‚Le Vin Herbe’ mitzuwirken. Dort habe ich auch mit Eliahu Inbal Debussys ‚Le Martyre de Saint Sebastian’ gemacht. Das hätte man sich mit mir in Frankreich kaum getraut.
Wie würden Sie Ihre Stimme selbst beschreiben? Wo liegen Ihre sängerischen Stärken?
Natürlich ist es immer etwas undankbar, sich selbst beschreiben zu sollen. Von Konzertbesucher höre ich oft, dass meine Stimme sehr berührend sei. Die Pamina ist aus meiner Sicht eine Partie, die meine stimmlichen Stärken ganz besonders wiederspiegelt: ich kann sinnlich zart sein, aber auch mit dezenten Koloraturen glänzen. Wer Koloratur-Salven wie bei Cecilia Bartoli (singt laut wie die Bartoli) oder Extremkoloraturen wie bei meiner lieben Freundin Natalie Dessay (singt in extremen Höhen wie die Dessay) erwartet, wird bei mir enttäuscht sein. Das kann und möchte ich nicht. Meine Stimme ist rein und zart. Der Mensch ist fasziniert vom Fliegen, träumt davon, es selbst zu können. Ich habe für mich mit meiner Stimme einen Weg gefunden, einen Zustand des Schwebens zu erzeugen. Sie ist dann wie ein Schmetterling im Wind, alles fließt.
Wagen Sie sich auch regelmäßig an deutsches romantisches Liedgut?
Vor den Liedern Schuberts habe ich einen großen Respekt, der manchmal gar in Angst umschlägt. Sie sind so schwer für mich zu singen. Es ist schon komisch: mit rasend schnellen Koloraturen hat man manchmal weniger Probleme als mit der Schlichtheit von Schubert-Liedern. Ich singe sie trotzdem regelmäßig in meinen Recitals; einen reinen Schubert-Abend werden Sie von mir aber nicht hören. Mit Schumann, Brahms und Strauss tue ich mich wesentlich leichter, ohne dass ich wirkliche erklären kann wieso.
Ihre neueste Produktion ist auf den ersten Blick ein wirkliches Wagnis. Sie singen Lieder aus Deutschland und Frankreich...
Ja, manchmal müssen die Leute bei meinem Label Naive denken, dass ich verrückt sei, weil ich ihnen so ausgefallene Ideen für CDs aufschwatze. So kam auch diese neue Platte mit dem Titel ‚Évocation’ zustande: französische Lieder in Kombination mit deutschen Liedern. Es sollte eine Art fantastischer, träumerischer Spaziergang werden. Ich hatte diesen Traum und wollte unbedingt die ‚Mädchenblumen’ von Richard Strauss singen. Nun stand ich vor der Frage, was ich diesem deutschen Komponisten an Kompositionen von Landsleuten zur Seite stellen könnte, und ich fand Zemlinsky und Schönberg. Dazu kommen noch Werke von Chausson, Debussy und Koechlin. Für eine Sängerin aus der Barock-Schublade ist das ganz schön verrückt, oder? (lacht leicht hämisch)
Jede vielgenutzte Stimme benötigen Phasen der Entspannung. Wie erholen Sie sich von Ihren vielen Projekten?
Ich lebe in Marseille. Von daher führt mein erster Weg immer an die See, die ich so sehr liebe; das Geräusch der Wellen ist so herrlich entspannend. Da wir ein Haus und einen Garten haben, finden Sie mich dort auch oft bei ganz banalen Gartenarbeiten mit meinen Kindern. Das klingt sehr langweilig, ist aber nach der ganzen Singerei ein wunderbarer Ausgleich. Früher habe ich viel gemalt, doch dafür braucht man Zeit, weshalb dieses Hobby derzeit ruht.
Warum haben sie der Musikmetropole Paris den Rücken gekehrt?
Ja, daran war mein Mann schuld, der Schweizer ist. Nachdem ich ihn heiratete haben wir zunächst vier Jahre in den schweizer Bergen gelebt. Für mich war das Leben dort allerdings sehr schwer: es ist dunkel, etwas einsam, kalt. Wir haben lange über den Zustand diskutiert; er wollte nicht nach Paris, ich wollte nicht in der Schweiz bleiben, also haben wir den wunderbaren Kompromiss Marseille gefunden. Die Berge sind nicht weit, das Mittelmeer liegt direkt vor der Haustür und das Wetter ist meist himmlisch. Es ist für uns perfekt.
Ist Ihr Mann auch Musiker?
Er war Sänger im Chor von Michel Corboz in Lausanne, wo ich ihn auch kennen lernte. Er ist ein vielfältig interessierter und begabter Mensch. Als ich ihn zum ersten mal traf, betrieb er neben dem Singen im Chor auch einen Buchladen. Jetzt arbeitet er als Bildhauer und hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Außerdem hat er sich drei Jahre lang ganz wunderbar um unsere Kinder gekümmert, während ich oft auf Konzertreisen war. Das ist hier im ziemlich machohaften Süden Frankreichs schon etwas ganz Besonderes. Heute sind beide Kinder in der Schule, da ist vieles leichter geworden.
Machen Ihre Kinder auch Musik?
Nein, sie wollen nicht. Beide haben eine schöne Stimme, aber bisher gab es nicht wirklich den Wunsch von Ihnen, Musik zu machen. Die Ältere ist dafür ganz Sportverrückt und liebt Skifahren. Das muss wohl in den schweizer Genen des Vaters begründet liegen. (lacht)
Das Gespräch führte Frank Bayer.
(11/2013)
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