Dirigent und Violinist Vladimir Spivakov im Gespräch mit klassik.com
"Zu aller erst bin ich Musiker"
Seit mehr als dreißig Jahren gehört Vladimir Spivakov zur kleinen Elite der außergewöhnlichen Musikerpersönlichkeiten. Ob als Violinvirtuose auf seiner Stradivari "Hrimaly" oder als Dirigent am Pult großer Sinfonieorchester und feiner Kammerensembles, stets ist der im russischen Ufa geborene Künstler ein gern gesehener Gast auf den großen Konzertpodien der Welt. Trotz des internationalen Erfolges, ist er seiner russischen Heimat stets eng verbunden geblieben und hat das Musikleben Russlands entscheidend mitgeprägt. Seit der Gründung der Nationalphilharmonie Russland im Jahr 2003 ist Spivakov deren künstlerischer Leiter und Chefdirigent. Nun kommt das Orchester auf seine erste große Europa-Tournee und bereist dabei Italien, die Schweiz und Deutschland. Im Gepäck haben die Musiker vor allem Werke russischer Komponisten und die aufstrebenden Pianisten Nikolay Tokarev und Alexander Gindin. In Vorbereitung auf die große Tournee stand Vladimir Spivakov klassik.com Rede und Antwort.
Herr Spivakov, Sie werden mit der Nationalphilharmonie Russland im Oktober durch Italien, die Schweiz und Deutschland reisen. Was versprechen Sie sich für das Orchester von diesen Gastspielen? Wie wichtig ist es für russische Ensembles, auf internationalen Podien präsent zu sein?
Wir leben heute in anderen Dimensionen - in einer Welt mit Computern, dem Internet und vielem mehr, wo sich Informationen weltweit in immensem Tempo verbreiten. Live Konzerte hingegen sind noch immer eine besondere Sache, sie haben sich kaum verändert. Auf einer Tournee ist man jeden Tag in einer anderen Stadt mit meist verschiedenen Konzertprogrammen. Das ist für ein Orchester eine großartige Erfahrung, nicht zuletzt weil es die Zusammenarbeit auf künstlerischer und zwischenmenschlicher Ebene verbessert. Auch der öffentliche Erfolg ist für Musiker sehr wichtig. Im Frühjahr 2007 haben wir eine große Tour in den USA gemacht, die durch das gesamte Land führte und 36 Konzerte umfasste - eine so noch nie da gewesene Anzahl an Aufführungen. Im Anschluss an die Tournee wurde mir der russisch-amerikanische ‚Liberty’-Preis überreicht, der jährlich an Künstler verliehen wird, die sich besonders um die Entwicklung russischer und amerikanischer Kultur verdient gemacht haben. Dieser Preis galt also unserer großen USA Tournee. Im Jahr 2009 werden wir wieder mit vielen Konzerten in den Vereinigten Staaten auf Tour gehen, da uns jede Stadt, in der wir 2007 spielten, erneut eingeladen hat. Die jetzt anstehende Konzerttournee ist die erste durch Europa, auch wenn die Nationalphilharmonie Russland seit 2004 regelmäßiger Gast des Colmar Festivals in Frankreich ist.
Das Programm der Europa-Tournee umfasst fast ausschließlich Werke russischer Komponisten, darunter das zweite und dritte Klavierkonzert von Rachmaninow, mit den jungen Pianisten Nikolay Tokarev und Alexander Gindin. Welche Kriterien haben Ihre Werk- und Solistenwahl beeinflusst?
Programme werden meist vom einladenden Veranstalter, also vom Gastgeber ausgewählt und zuvor gut diskutiert, besonders wenn es mehrere Optionen gibt. Ich verstehe sehr gut, dass sich ausländisches Publikum auf russische Musik von einem russischen Klangkörper mit russischen Solisten besonders freut. Das Repertoire unseres Orchesters ist jedoch sehr groß und umfasst Werke von europäischen und russischen Komponisten der Klassik, der Romantik und der Moderne gleichermaßen - Mahler, Bruckner, Richard Strauss, Scrjabin, Mosolov, Schostakowitsch, Prokofjew, Stravinsky, Bartok, Hartmann, Bernstein, Schnittke, Kancheli, Pärt. Die Nationalphilharmonie Russland trat bei den Moskauer Schnittke und Denissov Festivals auf und spielte Werke von diesen beiden Komponisten, wie auch Stücke von Boulez, Dutilleux und Xenakis. Sie ist übrigens auch das einzige Orchester in Russland, das die Musik Kurt Weills spielt. Vergangenes Jahr haben wir seine zweite Sinfonie aufgeführt und kürzlich das Moskauer Publikum während des ’Spivakov invites…’ Festivals mit den ‚Sieben Todsünden’ vertraut gemacht. Den Gesangspart hat Ute Lemper übernommen, die auch mehrere Lieder von Weill sang.
Die Nationalphilharmonie Russland ist ein junges Orchester. Hat es aus Ihrer sicht seit seiner Gründung im Jahr 2003 ein eigenes künstlerisches Profil entwickeln können und wo sehen Sie die künstlerischen und sozialen Verpflichtungen des Klangkörpers?
Ich denke, ein nationales Orchester sollte auch in erster Linie auf nationaler Ebene auftreten. Deshalb bereisen wir in jeder Spielzeit viele russische Städte und geben landesweit Konzerte. Die Nationalphilharmonie Russland war auch das erste russische Orchester, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den baltischen Staaten gastierte; in Armenien und Weißrussland haben wir ebenfalls gespielt. Viele Journalisten nennen unser Orchester das Nationale Musikteam.
In welcher Stadt hat das Orchester seine heimatliche Basis?
Die Nationalphilharmonie Russland probt im Moskauer Performing Arts Centre, einem neuen Konzertkomplex, der 2003 eröffnet wurde und dessen Präsident ich seit der Eröffnung sein darf.
Sehen Sie sich auf nationaler Ebene in einer Art künstlerischem Wettstreit mit den anderen international geschätzten russischen Orchestern, wie den St. Petersburger Philharmonikern, dem Orchester des Mariinsky Theaters oder den Moskauer Philharmonikern?
Wissen Sie, Wettbewerb hat mich im Laufe meines langen künstlerischen Lebens nie sonderlich interessiert. Meine Schwerpunkte liegen mehr auf Qualität, Stil, Empfindung und Interpretation. Ich denke, die Welt ist groß genug für uns und alle hier genannten Klangkörper.
Welchen Einfluss auf die Auswahl von Gastsolisten und Gastdirigenten haben Sie als künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Nationalphilharmonie Russland?
Wir haben ein spezielles Gremium, das sich aus den Konzertmeistern des Orchesters und einigen seiner Instrumentalsolisten zusammensetzt und somit auch die Meinung der Musiker vertritt, die für mich sehr wichtig und wertvoll ist. Dort finden wir meist schnell zu guten Entscheidungen.
Sie haben als Solist und Dirigent mit Orchestern aus der ganzen Welt zusammen gearbeitet. Sehen Sie Unterschiede zwischen russischen Ensembles und den Orchestern der westlichen Welt? Steht die Nationalphilharmonie Russland aus Ihrer Sicht für einen eigenen, ganz charakteristischen Klang, für eine besondere Art, zu musizieren?
Die Nationalphilharmonie Russland spielt immer mit ganzem emotionalem Einsatz, immer der Seele und dem Feuer der Musik huldigend, während man dies bei westlichen Orchestern meist nur dann erlebt, wenn Dirigenten wie Carlos Kleiber, Sergiu Celibidache oder Claudio Abbado sie dirigieren... Kultiviert mein Orchester einen bestimmten Klang? Ja, absolut! Das Konzept, die artikulatorischen Besonderheiten und tonalen Charakteristika eines Werkes sollten vom Dirigenten bedacht und vor seinem inneren Ohr erklingen. Ich denke, die Nationalphilharmonie Russland hat einen individuellen Klang - voluminös, voll und strahlend.
Sie sind international als Violinvirtuose und Dirigent gleichermaßen geschätzt. Sehen Sie sich persönlich mehr als Violinist oder eher als Dirigent?
Zu aller erst bin ich Musiker. Der Geiger in mir hilft dem Dirigenten Spivakov und der Dirigent hilft auch dem Geiger. Wenn beispielsweise die ersten Violinen im Orchester Probleme mit der ersten Phrase in Mahlers 4. Sinfonie haben, dann kann ich die Geige des Konzertmeisters nehmen und den Abschnitt so vorspielen, wie ich ihn gerne hätte. Dabei geht es nicht um das Heischen von Anerkennung durch die Orchestermitglieder, sondern darum, ihnen das passende Maß an Freiheit in Mahlers Phrasierung näher zu erklären.
Wann haben Sie mit dem Violinspiel begonnen und wer waren Ihre wichtigen Lehrer?
Ich habe mit dem Violinspiel im Alter von sieben Jahren begonnen, zuerst in St. Petersburg bei Lubov Sigal, einem Schüler von Leopold Auer, und später in Moskau in der Klasse von Yury Yankelevich. Außerdem konnte ich Meisterklassen bei David Oistrach besuchen.
Als Geiger haben Sie viele bedeutende Wettbewerbe gewonnen, darunter die Jacques Thibaud Competition in Paris (1965), den Paganini Wettbewerb in Genua (1967) und den Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau (1970). Waren es diese Erfolge, die Ihnen eine internationale Karriere ermöglichten?
Um eine internationale Karriere zu starten, ist der Gewinn bedeutender Wettbewerbe wichtig. Nur so kann man die Aufmerksamkeit der Agenturen auf sich lenken. Dies ist unverzichtbar, um erfolgreich weltweit als Solist konzertieren zu können. Mein Debüt als Dirigent in der westlichen Welt fand mit dem Chicago Symphony Orchestra statt und fiel leider mit dem Beginn des Afghanistan-Krieges Ende der siebziger Jahre zusammen. In dessen Folge war es für keinen einzigen sowjetischen Künstler neun Jahre lang möglich, in der westlichen Hemisphäre aufzutreten; das galt also auch für mich, unabhängig wie erfolgreich mein Dirigierdebüt auch gewesen sein mag.
1979 haben Sie die Moskauer Virtuosen, ein heute weltweit geschätztes Kammerorchester, gegründet. Steht diese Gründung in einem Zusammenhang mit dem Beginn Ihrer Tätigkeit als Dirigent?
Ich habe Dirigieren fünf Jahre lang bei Prof. Izrael Gusman, einem Freund von Dimitri Schostakowitsch, studiert. Die ‚Moskauer Virtuosen’ sind für mich in gewisser Weise die natürlich Fortführung dieser Dirigierstudien gewesen.
Welche Künstler haben Ihre Arbeit als Dirigent unterstützt und gefördert?
Mein Dirigieren und meine künstlerische Arbeit allgemein sind vor allem von den Dirigenten, mit denen ich gemeinsam auftreten durfte, beeinflusst worden. Mit einigen von ihnen pflege ich gar ein freundschaftliches Verhältnis. Hier gilt es Namen zu nennen wie Claudio Abbado, Carlo Maria Giulini, Erich Leinsdorf, Lorin Maazel, Bernard Haitink und Leonard Bernstein, der mir in Salzburg an Mozarts Geburtstag seinen Taktstock schenkte. Ich durfte auch viele Jahre mit Evgeny Svetlanov zusammen arbeiten, nach dem der große Saal des Moskauer Performing Arts Centre benannt ist. Jedes Jahr gibt die Nationalphilharmonie Russland ein Konzert zum Gedenken an diesen großen russischen Dirigenten.
Und wie ist Ihr Verhältnis zu anderen bedeutenden russischen Dirigenten wie Yuri Temirkanov, Vladimir Fedoseyev, Gennadi Roshdestwenskij oder Wassili Sinaiski?
Mit Yuri Temirkanov haben wir fast alle wichtigen Violinkonzerte für RCA BMG eingespielt: Brahms, Tschaikowsky, Sibelius, Prokofjew. Gennadi Roshdestwenskij eröffnete u.a. die aktuelle Spielzeit mit der Nationalphilharmonie Russland, und auch mit Vladimir Fedoseyev pflegen wir ein sehr gutes Verhältnis.
Pflegen Sie als Dirigent ein spezielles Repertoire oder haben Sie einen Komponisten, dessen Musik Ihnen besonders am Herzen liegt?
An erster Stelle bei mir die russische Musik. Aber verschiedene europäische und amerikanische Komponisten gehören ebenfalls ins Repertoire: Haydn, Beethoven, Schubert, Brahms, Grieg, Mahler, Richard Strauss, Ravel, Stravinsky, Weill, Schmitt und andere. Kürzlich gaben wir mit der Nationalphilharmonie Russland eine Abonnementreihe mit den Sinfonien Gustav Mahlers, und eine andere Reihe kombinierte Werke von Franz Schubert und Richard Strauss. Es ist mir ein Anliegen, neue Solisten und neue Kompositionen der russischen Öffentlichkeit näher zu bringen.
Widmen Sie sich auch regelmäßig dem Dirigieren von Opern?
Leider nicht sehr oft, da jede Produktion eine lange Phase der Vorbereitung erfordert. Man muss mit dem Chor, den Solisten, dem Orchester und dem Regisseur arbeiten, was zusammen genommen sehr zeitaufwändig ist. Mein Tourneeleben als Violinist und Dirigent steht solchen Produktionen oft im Weg. Trotzdem habe ich Bellinis ‚I Puritani’ in Genua dirigiert und konzertiere oft mit großen Opernsängern wie beispielsweise Jessye Norman, Dmitri Hvorostovsky, Marcelo Alvarez, Ferruccio Furlanetto, Indra Thomas oder Ian Bostridge. Es ist eine wunderbare Tradition der Nationalphilharmonie Russland, zum jährlichen Silvesterkonzert einen Star der Opernszene einzuladen. Dieses Jahr wird Ramon Vargas unser Gast sein.
Welche Rolle spielt zeitgenössische Musik in Ihren Konzertprogrammen?
Sie spielt eine recht große Rolle. Oft sind Werke eher selten gespielter Komponisten wie Berg, Webern, Penderecki, Gubaidulina, Denissov, Pärt, Isaak Schwartz, Shchedrin Teil meiner Konzertprogramme. Übrigens haben Schnittke, Shchedrin, Schwartz und Pärt mir persönlich auch Werke gewidmet.
Sie sind immer ein politisch sehr engagierter Mensch gewesen. Welche Möglichkeiten hat aus Ihrer Sicht ein Künstler in einem so riesigen Land wie Russland, politisch Einfluss zu nehmen? Welche Möglichkeiten sehen Sie auf internationaler Ebene?
Ich bezweifle, dass die Künste einen wichtigen politischen Einfluss haben. Kunst kann den Protest eines Künstlers ausdrücken, sein Leiden darstellen. Doch meistens dienen die Künste eher als Quelle von Trost und Hoffnung.
1990 gründeten Sie die Vladimir Spivakov International Charity Foundation. Welche sind die Aufgaben dieser Stiftung?
Es war offensichtlich, dass nach dem Zusammenbruch eines so großen Imperiums wie der Sowjetunion, nach einem solchen politischen Erdbeben, das größte Leiden in der verletzlichsten Schicht der Gesellschaft zu finden sein würde, bei den Kindern und alte Menschen. Deshalb habe ich mit Freunden diese Stiftung gegründet, um der älteren Bevölkerung und den Kindern Hilfe zukommen zu lassen. Wir wollten auch Raum für Kultur erhalten und gründeten Ableger der Stiftung in vielen Staaten der GUS. Sie hilft Kindern, eine gute Bildung zu erhalten, stellt jungen Talenten Musikinstrumente zur Verfügung und verteilt Stipendien. In den Jahren ihres Bestehens haben mehr als 8.000 Kinder Hilfe durch die Vladimir Spivakov International Charity Foundation erhalten. Die Stiftung deckt auch die Kosten für komplizierte Operationen bei bedürftigen älteren Menschen.
Was sind Ihre persönlichen Ziele mit der Nationalphilharmonie Russland für die Zukunft?
Langfristig wünsche ich mir die Nationalphilharmonie Russland als kulturelle Institution, die den Dirigenten Vladimir Spivakov um ein Vielfaches überdauert und einmal in einem Atemzug mit den Berliner oder Wiener Philharmonikern genannt wird.
Das Gespräch führte Frank Bayer.
(10/2007)
Die Stationen der bevor stehenden Konzerttournee:
18.10. Ascona
19.10. Genf
20.10. Zürich
21.10. Basel
22.10. Bern
23.10. Friedrichshafen
24.10. München
26.10. Regensburg
28.10. Dortmund
28.10. Coesfeld
29.10. Köln
30.10. Gütersloh
31.10. Braunschweig
01.11. Düsseldorf
03.11. Frankfurt am Main
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