Zwischen New York und dem Breisgau – die Sopranistin Carolyn Sampson schlägt allerorten in ihren Bann
"Hundert Prozent Gefühl, aber nicht hundert Prozent Kraft"
Als Sängerin ist Carolyn Sampson vor allem für ihre Interpretationen auf dem Gebiet der Alten Musik bekannt. Mit fast allen renommierten Orchestern und Ensembles in diesem Bereich ist sie schon aufgetreten. Auch beim Concertgebouw Orchester, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder beim Boston Symphony Orchestra war sie schon zu Gast. Mit klassik.com-Autor Aron Sayed sprach sie über ihren Weg zum Gesang, Merkmale des historisch informierten Gesangs, Händel, Bach und Purcell und das Vertrauen in die Kinder beim Musikhören.
Sie haben eine unglaublich weiche, warme und geschmeidige Sopran-Stimme, die man unter hunderten erkennt. Was ist ihr Geheimnis? Gute Lehrer, Naturbegabung oder einfach nur Übung?
(lacht) Ich würde sagen, dass ich nie zu viel gemacht habe, nur alles immer im Rahmen dessen, was ich kann. Manche beginnen mit dem Musikstudium und wollen unbedingt Opernstar werden, darum strengen sie sich am Anfang ein bisschen zu sehr an. Für meine Stimme hat mein eigener Weg sehr gut gepasst. Ich hatte eigentlich auch nicht vor, Sängerin zu werden und habe erst im Alter von 20 Jahren angefangen, in professionellen Chören zu singen, mit wenig Vibrato, leicht und hoch, viel Alte Musik. Ab und zu hatte ich kleine Solo-Auftritte, alles aber ganz locker und einfach. Diese Entwicklung hat für mich und meine Stimme gepasst, ich hatte Erfolg in kleinen Schritten und für mich war das gut. Ich denke, es ist wichtig, dass man auf die eigene Stimme achtet und darauf, was man damit machen kann und was nicht.
Sie sind in Bedford geboren und haben in Birmingham an der Universität Musik studiert. Wie sind Sie denn zur Musik gekommen? Wie haben Sie die Entwicklung zur Sängerin durchlaufen und ab wann stand dann die Entscheidung ganz für den Gesang fest?
In meiner Kindheit wurde viel gesungen. Meine Eltern sind zwar beide Mathematiklehrer, aber meine Mutter hat viel Klavier gespielt. Mit fünf oder sechs Jahren habe ich mit dem Klavierspiel begonnen, immer auch gerne gesungen und ich wollte auch einmal Schauspielerin werden. Irgendwann habe ich dann angefangen, Geige im Orchester zu spielen. Ich spiele schlecht, aber es hat mir Spaß gemacht (lacht). Sängerin zu werden, ist natürlich erst mal ein Traumberuf wie Prinzessin oder olympische Sportlerin. Ich habe mich aber nicht darauf fixiert. Dann kam das Musikstudium. Während dieser Zeit begann ich in Birmingham in einem semi-professionellen Chor zu singen, Ex Cathedra. Mit diesem Chor habe ich mittlerweile auch Aufnahmen gemacht. Der Chorleiter des Ensembles hatte zusammen mit Harry Christophers von The Sixteen in Oxford studiert. Er hat mich dazu motiviert, nach London zu gehen und dort bei The Sixteen vorzusingen. So kam es, dass ich eine Zeit lang in professionellen Chören gesungen habe: The King‘s Consort, The Tallis Scholars, The Sixteen, Gabrieli Consort …
…in der ersten Liga britischer Alte-Musik-Chöre.
Es gibt in London eine ganze Reihe von professionellen Sängern, die von der Arbeit in diesen Ensembles leben. Dann ging es langsam mit den ersten Solo-Konzerten los. Das Jahr 2000 war ein großes Jahr für mich. Im Januar bin ich das erste Mal als Solistin mit The King‘s Consort aufgetreten. Harry Christophers dirigierte damals an der English National Opera und wollte mich dabei haben. Das war der Beginn meiner Beziehung zur English National Opera und der Einstieg in die Opernwelt. An der English National Opera habe ich daraufhin die Pamina gesungen und auch in Purcells "The Fairy Queen" und Händels "Semele".
Sie sind insbesondere für Ihre Aktivitäten auf dem Gebiet der Historischen Aufführungspraxis bekannt. Was unterscheidet diese Art zu singen vom, sagen wir, „klassischen“ Gesang à la Belcanto, Wagner oder Verdi?
Der größte Unterschied in der Alten Musik besteht zunächst einmal in den Instrumenten. Die Saiten und Bögen der Streichinstrumente bringen einen weichen Klang mit sich. Auch wird meist mit weniger Vibrato gespielt. Als Sänger oder Sängerin muss man aufpassen, dass der eigene Vortrag dazu passt. Ich singe nicht ohne Vibrato, aber schon mit deutlich weniger. Das Vibrato kann man als Ornament benutzen, als Verzierung. Eine Qualität der Alten Musik besteht ja gerade im Verzieren und in der Improvisation. Es ist die gleiche Grundidee wie im Jazz: Man nimmt die Harmonie und die Melodie auf und gestaltet seine Verzierungen und Improvisationen drumherum. Es ist interessant, dass musikgeschichtlich in der Zeit zwischen Barock und Jazz der Komponist als der Hauptverantwortliche gilt (lacht). Dementsprechend geht es darum herauszufinden, was der Komponist genau gewollt hat und es genau so zu spielen. In der Barockmusik und im Jazz dagegen ist, übertrieben gesagt, der Notentext nur der Ausgangspunkt: Man kann freier gestalten. Und es ist interessant zu sehen, dass die historische Aufführungspraxis zu diesem Aspekt in der Gegenwart zurückkommt beziehungsweise zurückgekommen ist.
Was macht die Stimmtechnik in der Alten Musik aus?
Ich bin überzeugt davon, dass guter Gesang in jeder Art von Musik eine gute Technik benötigt. Tatsächlich nehme ich selbst immer noch weiter Gesangsunterricht. Es ist wichtig, dass jemand zuhört und darauf achtet, ob mit der Stimme auch gesundheitlich alles in Ordnung ist. Eine sichere Technik ist zentral, um mit der Stimme die ganze Bandbreite verschiedener Effekte und Farben erzeugen zu können. Das betrifft nicht nur das Vibrato – beim Gesangsvortrag sollte jede Entscheidung begründet sein. Zudem hängt die Technik und Lautstärke auch vom jeweiligen Stil ab. Beispielsweise singe ich in barocken Musikstücken selten so laut wie ich eigentlich könnte. Man sollte ohnehin nie ganz hundert Prozent geben, weil die Stimme schnell ermüdet. Hundert Prozent Gefühl ja, aber nicht hundert Prozent Kraft. Auch bei einem Purcell-Abend in der Carnegie Hall halte ich mich stimmlich mit Absicht etwas zurück. Dabei voll auf das Gaspedal zu treten, wäre dem Stil nicht angemessen. Auf der anderen Seite habe ich dort mit Matthew Wadsworth auch zwei von Purcells ‚Mad Songs‘ gegeben, die Gelegenheit zu dramatischen Effekten und hässlichen Klängen bieten, was auch wichtig ist. Es muss nicht immer alles schön sein, vor allem wenn es um das Dramatische geht.
Im Konzert habe ich Sie schon mit Georg Friedrich Händel erlebt. In einer Arie aus „Alcina“ erreichten Sie damals sogar noch die hintersten Sitzreihen eines großen Konzertsaals.
Oper ist da vielleicht noch etwas anderes. In einer Händel-Oper kann man viel Stimme geben. Händel war ja ein Komponist, der sich sehr am Gesang erfreut hat. Er schrieb für seine eigenen, ganz bestimmten Sänger und deren besondere Qualitäten. Mit einem Lautenisten als Begleitung verhält man sich auch anders als mit einem Pianisten oder einem Sinfonieorchester. Der Gesang muss sich in das Gesamtbild einfügen.
Sie haben sehr viel von Johann Sebastian Bach aufgenommen. Wie würden Sie seinen Stil beschreiben? Sind seine Werke ähnlich opernhaft wie die Händels?
Das ist eine weitere Sache, die an der Alten Musik sehr interessant ist. Es wird oft in allgemeiner Weise von Barockmusik gesprochen. Aber es gibt Monteverdi, Bach, Händel, Purcell, Rameau etc. Alle repräsentieren eine weite Bandbreite von Stilen und alle fordern etwas anderes von der Stimme. Philippe Herreweghe, mit dem ich viel Bach gespielt habe, hat mir einmal etwas sehr Interessantes über ihn gesagt. Er meinte, wenn man Bach singe, sollte man dies nicht in der ersten Person Singular und als Ausdruck seiner eigenen Gefühle tun. Sondern man sollte diese im Auftrag der in der Kirche versammelten Gemeinde ausdrücken, ganz von sich selbst absehen und aus einer völlig anderen Perspektive heraus handeln. Das finde ich wirklich sehr interessant, auch wenn ich nicht sicher bin, ob es völlig zutrifft. Denn wenn man zum Beispiel die Arie ‚Aus Liebe‘ aus der Matthäus-Passion singt, ist es sehr schwer, dabei auf jegliche persönliche Anteilnahme zu verzichten. Hier muss man wohl zwischen Werken wie der Matthäus-Passion und einigen einfacher gehaltenen Kantaten unterscheiden.
Ihre bisherigen Einspielungen weisen eine große Vielseitigkeit auf. Sie haben u.a. viel Bach, Händel, Monteverdi, Purcell, Zelenka, aber auch Lully, Francois Couperin und Werke des relativ unbekannten Thomas-Louis Bourgeois, genauso aber auch englische Romantiker wie Charles Villiers Stanford und Hubert Parry aufgenommen. Gibt es eine bestimmte Sprache oder einen bestimmten Stil, der ihnen besonders liegt?
Purcell zählt sicher zu meinen Favoriten, weil er so gut mit dem Text umgeht. Die Worte sind bei ihm so leicht zu gestalten. Ich liebe diese Musik wirklich. Die CD „Victorious Love“ ist von meinen eigenen Aufnahmen eine meiner Lieblinge, auch weil die Musiker, mit denen ich für die Einspielung zusammengearbeitet habe, so fabelhaft sind. Ansonsten mag ich eigentlich alles (zögert). Ein Komponist, den ich etwas schwieriger finde ist Schubert. Als klassischer Liedkomponist ist er wundervoll. Aber ich habe das Gefühl, als sei ich bislang noch nicht zu seiner Essenz durchgedrungen – I‘m still working on that. Darum habe ich auch noch nichts von ihm aufgenommen. Im Barock finde ich Monteverdi schwieriger als alle anderen. Mahler verehre ich und liebe es, seine Werke zu singen. Vor allem das Finale aus der Vierten Sinfonie (‚Das himmlische Leben‘) und einige Lieder. Musikalisch habe ich im letzen Jahr auch besonders die Arbeit an Igor Strawinskys „The Rake‘s Progress“ genossen.
Was mögen Sie an Strawinsky besonders?
Nun, zunächst einmal, dass sich sein Schaffen in drei so extrem unterschiedliche Phasen aufteilt. Und ich liebe „Le Sacre du Printemps“, das ist so kräftige und viszerale Musik. „The Rake’s Progress“ ist aber völlig anders, mit seiner neoklassischen Form sehr schön zu singen und auch komisch, parodistisch, nicht immer nur ernst, besonders die Figur des Auktionärs Sellem. Gleichzeitig gibt es aber die „Love Scene“ am Ende zwischen Anne und Tom im Irrenhaus, mit dem Wiegenlied. Dieses Lullaby ist so einfach und so berührend.
In Deutschland, wo sie mit Ihrem Mann und Ihren Kindern leben, wird in den letzten Jahren viel über die sogenannte Überalterung des Konzertpublikums gesprochen und das Problem, dass sehr wenig junge Leute ins klassische Konzert gehen. Wie sehen Sie das? Ist die Situation in Großbritannien eine andere?
Ich denke, es ist ein internationales Problem, dass das Publikum für klassische Musik eher ein älteres ist. Teilweise liegt es sicher einfach daran, dass ältere Menschen in der Regel mehr Zeit haben, um ins Konzert zu gehen. Ich persönlich liebe es, ins Konzert zu gehen, schaffe es aber vielleicht nur ein oder zwei Mal im Jahr. Die Leute sind einfach zu beschäftigt. Gerade Familien mit sehr jungen Kindern können abends nicht einfach so weggehen. Das ist sicher auch ein Grund.
Sie haben aber auch eine gute Ausrede…
…(lacht) ich denke, dass Erziehung und Bildung sehr wichtige Voraussetzungen sind. Ich komme aus einer Lehrerfamilie und für mich sind sie mit das Wichtigste, das der Staat unterstützen sollte. Momentan beginne ich erst damit, etwas über das deutsche Schulsystem zu lernen. Wir suchen eine Schule für die Einschulung meines Sohnes im nächsten Jahr. In England, wo der Schultag länger dauert als in Deutschland, ist Musik fester Bestandteil des Lehrplans, auch wenn das Fach teils nur ein- bis zweimal die Woche unterrichtet wird.
In Deutschland verhält es sich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Baden-Württemberg zum Beispiel wurden die musischen Fächer in der Grundschule zu einem Fach zusammengelegt. Es gibt das Fach Musik gar nicht mehr als Einzelfach.
Ich habe gelesen, dass Kinder grundsätzlich besser lernen, wenn sie während des Unterrichtstages zwischendurch freie Zeit bekommen, um von sich aus zu musizieren oder Sport zu treiben. Das klingt für mich vollkommen überzeugend und ich glaube, dass so etwas besonders wichtig ist für die Kinder. Wichtig ist natürlich auch, dass sie Spaß dabei haben. Aber auch das Notenlesen ist zentral, nicht nur das Hören. Man darf die Kinder aber nicht zwingen, Musik zu machen, genauso wenig wie man ein Kind dazu zwingen kann, gut in Mathe zu sein. Mein Mann, der ebenfalls Musiker ist, und ich, musizieren viel zuhause. Musik ist ein Teil unseres Lebens und es ist selbstverständlich, dass unsere Kinder etwas davon mitbekommen. Ob sie selber einmal Musiker werden, wissen wir natürlich nicht, vermutlich nicht. Aber die Musik ist da und ich hoffe, dass sie sich daran erfreuen.
Die Rolle, die der Schule eigentlich zukommen sollte, übernehmen heutzutage u.a. Theater mit ihren Nachwuchs-Programmen.
Es ist zentral, wie wir die Kinder im Theater an die Musik heranführen. Denken Sie an Stücke wie „Die Zauberflöte“ in der Version für Kinder. Das ist eine großartige Sache, die viel mehr Kinder sehen sollten. Wenn wir den Kindern vertrauen, werden sie ganz von alleine zuhören. Mit meinem Sohn bin ich in ein Kinderkonzert mit dem „Karneval der Tiere“ gegangen, als er drei Jahre alt war. Dort wurden während des Konzerts witzige schauspielerische Einlagen gemacht, weil man nicht darauf vertraut hat, dass sie zuhören würden. Auf diese Weise lernen Sie aber nicht, dass es bei der Musik ums Zuhören geht. Vor dem Schwan dann, als die Cellistin nach vorne kam und sich hinsetzte, entstand eine Sekunde Stille, in der den Kindern deutlich anzumerken war, dass sie spürten: Gleich passiert etwas besonderes. Als die Musik begann, hüpften dann wieder Clowns über die Bühne und spreizten ihre Federn. Die magische Atmosphäre war verschwunden. In dieser einen Sekunde aber war klar, dass die Kinder dieser besonderen Musik einfach zugehört hätten. Es ist sehr wichtig, dass wir das den Kindern beibringen und ihnen vertrauen, dass sie von alleine zuhören werden. Wenn wir die Kinder mit ins Konzert nehmen, werden sie lernen, wie man sich dort verhält, ruhig sein, still sitzen und zuhören. Man muss natürlich auch die passenden Stücke für sie aussuchen. Als wir an der English National Opera ‚Die Zauberflöte‘ mit einer wirklich zauberhaften Produktion aufgeführt haben, haben wir einem neunjährigen Mädchen, das noch nie in der Oper war, Backstage die Bühne gezeigt und diese war verspiegelt. Das Mädchen hat gleich gestaunt. Solche Dinge sollte man mit Kindern unternehmen, um sie an die Musik und die Oper heranzuführen, ihnen ein kleines bisschen von der Magie zeigen, der Fantasiewelt, die die Oper sein kann.
Können Sie uns einen kleinen Ausblick geben: Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Mehr 19. oder sogar 20. Jahrhundert? Donizetti oder Strawinsky waren ja schon dabei. Es wäre großartig, Sie zum Beispiel einmal in einer Strauss-Oper zu hören.
Am liebsten mag ich ehrlich gesagt Liederabende. Besonders, wenn sich dabei viele verschiedene Musikstile miteinander kombinieren lassen. Denn wenn man Stücke außerhalb ihres eigentlichen Zusammenhanges hört, hört man sie anders. Wie wenn man seinen MP3-Player auf Zufall stellt. Plötzlich hört man Unerwartetes. Das mag ich beim Zusammenstellen der Programme. Musikalisch kann ich bei Recitals machen, was ich möchte. Mit einem Dirigenten muss man Kompromisse schließen, was genauso in Ordnung ist. So erhält man verschiedene Ideen. Ich liebe es zum Beispiel, „Messiah“ von Händel mit verschiedenen Dirigenten aufzuführen. So bleibt die Musik lebendig und neu, damit man nicht in Gewohnheiten verfällt, die gleichen Verzierungen wieder und wieder verwendet. Jüngeres Repertoire ist auch auf meiner Liste. Wie Sie schon sagten, bin ich vor allem für Alte Musik bekannt, was schön ist. Genauso aber möchte ich zeigen, dass ich ein Interesse für anderes Repertoire hege. Es hängt auch von den Stücken ab, die zu meiner Stimme passen. Die Menschen haben eine bestimmte Vorstellung davon, was für eine Art von Stimme sie gerne hören möchten, gerade in der Oper. Manche wollen eine große, starke Stimme hören. Meine Stimme ist eher lyrisch, leicht. Sie trägt, weil sie fokussiert ist und sich im Mittelpunkt des Klanges befindet. Aber manche Menschen wären wohl enttäuscht, wenn sie mich in einer Strauss-Oper hören würden.
Das Gespräch führte Dr. Aron Sayed.
(10/2013)
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