Sigiswald Kuijken über Wahrheit, Opernregie und das Violoncello da spalla
"Wenn ich auf Pop-Festivals auftreten würde, hätte ich weniger Probleme"
Mit 65 gehen die meisten Menschen in Rente. Sigiswald Kuijken denkt gar nicht daran. Der belgische Violinist, Cellist, Gambenspieler und Dirigent lernte im Selbstversuch die historische Streicherpraxis neu. Seit Jahren setzt er sich für die solistische Besetzung von Bachs Chormusik ein. Jüngst hat er ein altes Musikinstrument wiederbelebt: das Violoncello da spalla. Miquel Cabruja sprach mit dem Pionier der Alten-Musik-Bewegung.
Herr Kuijken, Sie sind vor kurzem 65 geworden. Zeit für eine Atempause?
Keineswegs. Ich werde nicht mehr regelmäßig am Königlichen Konservatorium in Brüssel unterrichten und nur noch in Einzelfällen Kurse geben. Aber die Konzerte gehen weiter. Die sind für mich ohnehin immer das Wichtigste gewesen.
Sie gehen also in den Unruhestand? Haben wir noch viel von Ihnen zu erwarten?
Das hängt natürlich immer davon ab, wie gut das Resultat dessen ist, was ich tue. Qualität ist für mich immer wichtiger gewesen als Quantität. Ich bin davon überzeugt, dass man aufhören muss, bevor es schlimm wird. Aber so weit fühle ich mich noch lange nicht (lacht herzlich).
Die Bandbreite Ihres Repertoires ist riesig. Sie spielen Violine, Gambe, Cello und dirigieren auch. Gibt es eine Grenze für Sie?
Ich habe Mozartopern dirigiert und auch Sinfonien von Brahms und Mendelssohn. Und bis 1971 habe ich mit dem Ensemble Musiques Nouvelles sehr viel Avantgarde wie Boulez oder Stockhausen gespielt. Aber ich fühle mich nicht dazu berufen, alles zu machen. Wenn ich jetzt Strawinsky spielen wollte, würde mich das einfach zu viel Zeit kosten. Ich liebe Strawinskys Musik – das ist keine Frage. Aber um wirklich in eine Partitur einzudringen, braucht man sehr viel Zeit. Man muss Musik mit dem Verstand und dem Herzen erarbeiten. Man sollte es nie einfach nur tun, um später sagen zu können: „Das habe ich auch gemacht.“
1972 haben sie La Petite Bande gegründet.
Wir haben damals angefangen, ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. Es war ein gewissermaßen provisorischer Start. Nach ein, zwei Jahren haben wir dann festgestellt, dass etwas Großartiges entstanden war…
…eine organische Entwicklung.
Der beste Ausgangspunkt und eine wunderbare Erfahrung. Heute läuft es doch oft eher umgekehrt. Die Leute sitzen zusammen, beantragen Subventionen und überlegen, woher sie Geld bekommen können, noch bevor sie eine einzige Note gespielt haben.
Apropos Geld: La Petite Bande hat trotz internationalen Renommees ein finanzielles Problem.
Wir haben ein Subventionsproblem. In Flandern – Belgien ist ja föderal organisiert – wird sehr viel Geld für Kultur bereitgestellt. Viele Gruppen möchten davon profitieren und der Flämische Kulturminister Bert Anciaux lässt sich von einer Kommission beraten, wie das auch andernorts üblich ist. In Bezug auf den kommenden Subventionsplan hat sich diese Kommission aus mir unerfindlichen Gründen vehement gegen eine Förderung der Petite Bande ausgesprochen.
Mit welcher Begründung?
Es heißt, wir wären ein reines Repertoireorchester und würden keine interessanten Programme entwickeln oder bedeutende Gastdirigenten einladen. Dabei sind wir ein junges Spezialistenensemble für Barockmusik, das weltweit anerkannt und sehr innovativ ist. Bei vielen Alte-Musik-Ensembles sind inzwischen alle über 50. Unsere Musiker sind um die 30, und ich bin der einzige Alte (schmunzelt). Allerdings ist noch nichts verloren. Der Minister ist nicht an den Rat der Kommission gebunden. Deshalb haben wir im Internet eine Unterschriftenaktion gestartet. Damit hoffen wir den Minister davon zu überzeugen, dass er nicht dem Rat der Kommission folgt. In etwa 10 Tagen werden wir wissen, wie er entschieden hat.
Helfen auch Unterschriften von Nutzern aus dem deutschsprachigen Raum?
Aber ja. 20.000 Menschen haben schon unsere Petition unter www.savelapetitebande.com unterstützt. Es ist wichtig, Druck auszuüben und zu zeigen, wie groß das Interesse an Kultur ist.
Auch in Deutschland sind anerkannte Kulturinstitutionen finanziell bedroht.
„In“ ist man für viele Entscheider nur noch, wenn man grenzüberschreitende Projekte und modischen Crossover im Programm hat. Peppen Sie ein Händel-Oratorium mit modischen Videoinstallationen auf und alles ist in Butter! Wie man spielt, ist dann nicht mehr wichtig. Wenn ich auf Pop-Festivals auftreten würde, hätte ich weniger Probleme. Wenn ich jung wäre, würde ich das vielleicht auch tun. Ich will mich aber nicht völlig umkrempeln. Mir geht es um etwas anderes…
Um die Musik?
Mir geht es um Tiefe, um Spiritualität im weitesten Sinne. Das ist viel wichtiger als das äußere Erscheinungsbild. Egal ob ‚Kunst der Fuge’ oder ‚Die Zauberflöte’ – es geht um die Qualität der Musik. Und die muss man nicht herbeizwingen. Es reicht, wenn man dem Weg folgt, den die Musik selbst vorgibt. Diese moderne Idee, dass man das Werk durch sein Ego formen und interpretieren muss, finde ich unanständig und geradezu prätentiös. Welche Bedeutung habe ich schon, wenn ich Bach spiele? Anstatt die Zeit mit solchen Ideen zu vergeuden, ist es viel nützlicher, sich mit Bach und seiner Epoche auseinanderzusetzen.
Das klingt nach Demut.
Das kann man durchaus so sagen. Aber wenn ich das zu enthusiastisch bejahe, bin ich schon nicht mehr demütig (lacht laut).
Vor kurzem haben Sie ein altes Instrument wiederentdeckt: Das Violoncello da spalla ist ein Vorgänger des heutigen Cellos und wird wie eine Geige am Hals gespielt. Mit diesem Instrument interpretieren Sie Bachs Cellosuiten.
Ich wusste lange schon, dass es dieses Instrument gegeben hatte. Mein Bruder Wieland hatte schon immer vermutet, dass Bach die Cellosuiten nicht für ein Beincello, sondern für ein Armcello geschrieben hatte. Diese Idee war als ein Kuriosum in meinem Unterbewusstsein gespeichert, bis ich 2002 das Gefühl hatte, man müsse das doch einmal ausprobieren.
Und dann haben Sie sich das Instrument bauen lassen?
Nach historischen Vorbildern. Und ich habe sofort gesehen, wie viele Vorteile sich daraus ergeben. Mit dem Violoncello da spalla, das sich gerade in Mitteldeutschland sehr lange gehalten hat, ist die Spielbarkeit der Cellosuiten eine ganz andere, weil die Fingersätze im Grunde Violinfingersätze sind. Man kann also Oktaven vom ersten zum vierten Finger greifen. Das geht auf dem modernen Cello nur in Daumenlage, die es damals aber noch nicht gab. Für einen Großteil der Musik des 18. Jahrhunderts gilt: Was man beim Violoncello da spalla bequem in einer Lage spielen kann, erfordert beim Cello oft Lagenwechsel auf jedem Ton.
Trotzdem fällt es vielen Musikliebhabern schwer, sich von der Vorstellung des Cellos, wie wir es heute kennen, zu lösen.
Das hat etwas damit zu tun, dass der Begriff Violoncello heute automatisch mit dem Instrument assoziiert wird, das zwischen den Beinen gespielt wird. Aber das Wort bedeutet im eigentlichen Sinne nichts anderes als „kleiner Violone“. Über die Spielweise schweigt sich die Bezeichnung aus. Für mich bringt diese Entdeckung eine Menge Vorteile und Möglichkeiten. Natürlich kann man meine Sichtweise anfechten; und wer weiß, was man in zehn Jahren entdeckt haben wird? Aber es ist ein Ausgangspunkt.
Sie postulieren also nicht, dass Sie den einzig wahren Weg vertreten?
Es wurde einmal gesagt, dass die Wahrheit eine Meinung ist. Ich mag diesen Gedanken.
Eine gewisse Zeit lang waren Vertreter der Alten Musik sehr dogmatisch.
Das musste auch so sein. Ohne eine gewisse Dogmatik könnte man nie etwas Neues durchsetzen.
Als Dirigent haben Sie sich der von Joshua Rifkin 1982 formulierten These angeschlossen, Bach habe seine Chorwerke solistisch besetzt.
Das hat eine Weile gedauert. Rifkins These wurde ja sehr kontrovers diskutiert. Auch ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass Bach seine Werke nicht für einen großen Chor geschrieben haben könnte. Dummerweise habe ich Rifkins Theorie abgelehnt, ohne seine Untersuchungen zu kennen. Als ich sie aber gelesen hatte, musste ich es ausprobieren und das Ergebnis hat mich überzeugt. Außerdem lassen die Originalquellen von Bach und seiner Kopisten keine anderen Schlüsse zu. Eigentlich kann ich nicht verstehen, wieso ich daran 25 Jahre gezweifelt habe.
Viele möchten auf die große Besetzung trotzdem nicht verzichten.
Ich sage ja nicht, dass man die virtuose Polyphonie der Bach-Motetten nicht mit einem Chor machen darf. Man darf alles machen. Aber eigentlich ist es madrigaleske Virtuosenmusik – viel zu schwierig für einen Chor! Heute gibt es natürlich hervorragende Kammerchöre, die das bewältigen können. Aber genauso gut könnte man Haydns Streichquartette von einem Streichorchester spielen lassen, wenn man lange genug übt. Aber wozu?
Auch wenn Sie Mozarts Sonaten für Violine und Hammerklavier mit Luc Devos spielen, legen sie Bezüge zur Barockmusik frei.
Man kann sich nicht von Beethoven oder Brahms ausgehend zu Mozart „zurückgraben“. Man muss den umgekehrten Weg gehen! Wenn man die Partitur von der früheren Violintechnik her liest, bezieht man Mozart nicht mehr automatisch auf die Werke späterer Komponisten. Es ist doch so, dass kein einziger Komponist seine Musik in Vorausschau auf die Zukunft schreibt. Geschichte ist nicht immer nur Fortschritt. Sie ist vielmehr Wachsen, Metamorphose...
Wie passen dazu Projekte wie Ihre Einspielung des Mozart-Requiems mit einem Streichquartett?
Auch das hat eine gewisse Authentizität. Immerhin handelt es sich um eine Fassung aus dem frühen 19. Jahrhundert, die Peter Lichtenthal, ein Bekannter der Mozartfamilie, verfasst hat. Eine Menge großer Werke wurde damals auf diese Weise einem Amateurpublikum zugänglich gemacht. Und diese Streichquartett-Version offenbart auf ihre Weise die Qualität der Musik: Mozart hat zwar immer vom Text ausgehend geschrieben, den Text quasi transzendiert. Am Ende kann man die Worte aber fast weglassen und hat nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Das Essentielle liegt bei Mozart in der Musik.
Prima la musica – dopo le parole?
In dieser Hinsicht schon. Aber paradoxerweise ist es so, dass man dem Wort den Vortritt lassen muss, sobald es ins Spiel kommt.
Lassen Sie uns über die Oper sprechen!
Ich habe einige Mozartopern dirigiert. Aber immer nur konzertant, da ich ein großes Problem mit modernen Inszenierungen habe. Das, was man oft zu sehen bekommt, ist völlig gegen die Musik. Sie können heute anhand des Bühnenbilds eine Monteverdi-Oper nicht von einer Verdi-Oper unterscheiden. Das ist vollkommen austauschbar. Die meisten Regisseure inszenieren Opern wie Schauspiele und belasten das Publikum mit pseudo-freudianischen Ideen. Man hat den Eindruck, dass sie die Musik dabei fast stört.
Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, das ist eine Mode. Das Publikum wird von der Presse, den Medien und den Operndirektoren beeinflusst. Der Name des Komponisten ist auf Opernplakaten meist viel kleiner geschrieben als der Name des Regisseurs. Das ist für mich verkehrte Welt. Wieso schreiben diese Regisseure nicht einfach eigene Stücke? Weil man Mozart und Verdi nicht ersetzen kann! Deshalb glaube ich auch nicht, dass man die alten Stück heute mehr nicht versteht. Niemand behauptet, dass man einen da Vinci oder Rembrandt aus dem Museum neu interpretieren müsste, weil ihn sonst keiner versteht. Auch der Normalbürger erkennt die Qualität solcher Kunstwerke. Wieso sollte das bei Opern oder einem Drama von Shakespeare oder Goethe anders sein?
Braucht es nach der Alte-Musik-Bewegung also eine „Alte-Regie-Bewegung“?
Das nicht. Aber Archäologie kann durchaus nützlich sein. Es gibt in Frankreich sehr interessante Versuche im Bereich der Barockoper. Benjamin Lazar hat vor kurzem beispielsweise ‚Le Bourgeois gentilhomme’ von Lully und Moliere mit Kerzenbeleuchtung und einem Regiekonzept inszeniert, das sich an historischen Vorbildern orientiert. Auch in Deutschland gibt es solche Ansätze. Früher ist man doch ins Theater gegangen, um aus dem Alltag geholt zu werden. Heute sieht man auf der Bühne genau das, was man vor der Haustüre oder nachts in einem gefährlichen Viertel seiner Stadt sehen würde. Also, ich finde das merkwürdig.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(04/2009)
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