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Mittwoch, 29. März 2023

Photo: Christian Nielinger

Lothar Zagrosek über Orchesterarbeit und die Herauforderungen seltenen Repertoires

"Ein gutes Orchester ist wie guter Schnaps"


Lothar Zagrosek wird mit Ablauf dieser Saison das Konzerthausorchester Berlin verlassen, seit seinem Amtsantritt im Jahr 2006 hat er das Musikleben Berlins geprägt. Mit klassik.com-Autor Tobias Roth sprach der noch amtierende Chefdirigent und stellvertretende Intendant des Konzerthauses über die Arbeit mit und am Orchester, die Arbeit mit und am Publikum sowie über eine vergessene Oper, die bereits am Staatstheater Stuttgart als Abschlussprojekt vorgesehen war und nun in Berlin endlich vollgültig zu hören sein wird.

Herr Zagrosek, mit dem Beginn ihrer Amtszeit 2006 ist auch die Umbenennung des Berliner Sinfonie-Orchesters in den neuen Namen Konzerthausorchester einhergegangen und hat so eine neue Epoche dieses Klangkörpers eingeläutet. Hatten Sie das Gefühl noch weiterer ‚Epochen‘ in den letzten Jahren?

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, weil die Entwicklung nicht ganz so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich finde grundsätzlich, dass der Chefdirigent die Aufgabe hat, vor allem Dinge zu machen, die ein Orchester unbedingt kennenlernen und anbieten muss. Als Gastdirigent hat man eher die Möglichkeit, nur die Stücke zu erarbeiten, die man gut kennt und von denen man glaubt, dass man sie gut kann. Ich weiß, dass es auch die entgegengesetzte Ansicht gibt; aber ich finde, dass es ein Amt ist und kein Hobby. Das bedeutet, dass man eine Verpflichtung gegenüber dem Publikum hat, das schließlich Steuern zahlt und dazu beiträgt, dass man überhaupt wirken kann. Auch gegenüber dem Orchester hat man eine Verpflichtung in einem ganz allgemeinen Sinn. Das heißt vor allem an dem zu arbeiten, was das Orchester inhaltlich und handwerklich vorwärts bringt und es in seiner Stadt profiliert. Gerade in einer Stadt wie Berlin braucht ein Orchester ein Alleinstellungsmerkmal, es muss identifizierbar sein. Das war meine grundsätzliche Einstellung, als ich nach Berlin gekommen bin. Das habe ich versucht auf verschiedene Arten zu erreichen, und so könnte man vielleicht eher von Bereichen als von Epochen sprechen.

Was würden Sie da als die wichtigsten Bereiche und Veränderungen bezeichnen?

Ein Zug war natürlich, dass ich den Namen geändert habe, und das Orchester sich dadurch deutlich verorten konnte. Ein anderer war, dass ich Formate eingeführt habe, die andere Orchester nicht haben, zum Beispiel die Mozart-Matineen. Sie haben zudem den Vorteil, dass man mit dem klassischen Stil Mozarts unglaublich gut Erziehungsarbeit leisten kann. Damit werden ganz bestimmte Qualitäten des Orchesters angesprochen, die dadurch wachsen. ‚Oper konzertant‘ war ein anderes Format. Egal wo ich war, habe ich es immer als einen großen Mangel empfunden, dass man konzertante Opern als eine peinliche Veranstaltung erlebt: Da kommen Sänger im Frack und stellen mit irgendwelchen Gesten und Grimassen Gefühle dar, nur weil sie in der Oper Gefühle darstellen müssen. Das finde ich total sinnlos. Andererseits ist klar, dass eine Oper ein Stück Theater ist, und auch das muss bedient werden. Dafür gibt es aus meiner Sicht noch keine wirkliche Form. Ich hatte mir als Aufgabe gestellt, diese Form zu finden. Jetzt, da ich diese Form hier in Berlin fünf Mal gesucht habe, glaube ich, dass es die eine und endgültige Form nicht gibt. Man kann immer nur von dem Stück ausgehen, das man gerade macht, und versuchen in der Zusammenarbeit mit einem Regisseur eine Erzählung zu finden, ohne die große Maschinerie zur Verfügung zu haben. Letztlich geht es darum, dem Publikum ein Verstehen zu ermöglichen, musikalisch wie theatralisch. Ich finde, dass es in unseren Projekten gut gelungen ist, jedes Mal auf eine ganz andere Art und Weise. Natürlich habe ich auch immer wieder Programme mit Werken gespielt, die man kaum hört. Nicht nur in der Neuen Musik, auch aus dem traditionellen Repertoire. Da sehe ich als eine weitere wichtige Aufgabe für einen Chefdirigenten: Dass er seinem Publikum auch Dinge vorlegt, von denen er selbst überzeugt ist. Das gilt etwa auch für die Oper von Joseph Martin Kraus, die wir jetzt machen werden. Kein Mensch kennt diesen Komponisten. Darüber hinaus war mir immer wichtig, dass wir auch im Bereich der Jugendarbeit und der Nachwuchsförderung Zeichen setzen, sowohl im Bereich der Musiker und der Dirigenten als auch des Publikums. Gerade letzte Woche hatten wir ein sehr schönes Konzert mit unserer Patenschule. Das wären die Punkte, die ich hauptsächlich nennen würde. Abgesehen natürlich von der grundsätzlichen Verbesserung der Akustik im Großen Saal des Konzerthauses, für die ich eineinhalb Jahre lang mit dem Berliner Senat verhandelt habe.

Sie sprachen von der Profilierung des Orchesters einerseits und dem Dienst am Publikum andererseits. Wie spielt da das seltene oder das neue, fordernde Repertoire hinein? Geht es da nicht auch um eine Art Erwachsenenbildung, die man dem Publikum abverlangen muss?

Diesen Anspruch wollte ich immer ganz bewusst aufrechterhalten. Oft habe ich dazu etwa kurze Einführungen zu Stücken gegeben, gerade bei Neuer Musik. Der Erfolg hat uns da eigentlich Recht gegeben – Erfolg in dem Sinne, dass die Leute zugehört und nicht protestiert haben, obwohl man natürlich nie alle erreicht. Eine Art ‚Erwachsenenbildung‘ kann da nur in ganz kleinen Dosen stattfinden, beispielsweise durch Einführungen eine Stunde vor Beginn oder durch Nachgespräche. Allzu viel aber kann und soll man meiner Meinung nach im Konzertsaal nicht reden. Aber was die Programmgestaltung selbst angeht, habe ich immer darauf geachtet, dass wir seltene Stücke spielen, ‚entartete Musik‘ spielen, Opern spielen, die man nie hört. Auch die Mozart-Matineen standen eigentlich dezidiert im Zeichen des unbekannten Mozart.

Die bekanntesten Künstler sind ja oft zugleich die unbekanntesten.

Ja, gerade von Mozart gibt es unglaublich viele Stücke, die kein Mensch mehr spielt, und dem wollte ich Abhilfe schaffen. Das ist vom Publikum gut angenommen worden. Ebenso wollte ich eine Lanze für Gluck brechen, den ich für einen ganz großen Komponisten halte. Das war hier von Anfang an die Politik bei den konzertanten Opern. Denn selbstverständlich wollte ich auch vermeiden, die Opern zu machen, die in der Stadt sowieso laufend gespielt werden. Die drei Opernhäuser Berlins machen schon häufig das gleiche, 'Entführung', 'Figaro', 'Zauberflöte', 'Ring', immer wieder. Das muss man dann nicht auch noch im Konzert machen.

Der Kanon dessen, was laufend gespielt wird, ist schmal. Allerdings könnte man sagen, dass auch diese Vergleichsmöglichkeit das Publikum schulen kann.

Ja, aber ich finde es wichtiger, den Horizont zu erweitern, neue Stücke zur Diskussion zu stellen, den Zuhörern die Möglichkeit zu geben, selbst weiter zu suchen. Sei es bei Kraus, Gluck – oder eben auch bei Mozart, um auch einmal andere Werke zu beachten als die 20, 30 Stück, die man ständig hört.

Wie sind Sie eigentlich zu Joseph Martin Kraus gekommen?

In der Oper in Stuttgart hatten wir einen sehr profunden Musiker, der uns auf Kraus’ Oper 'Dido und Aneas' aufmerksam gemacht hat und es als Abschlussprojekt der Ära Zehelein 2006 vorgeschlagen hat. Das haben wir dann mit der Regie von Peter Konwitschny auch gemacht. Diese unsere letzte gemeinsame Produktion stand nur leider unter dem Unstern, dass Konwitschny krank wurde, sodass das Stück nicht ganz fertig herauskam. Schon zu Kraus’ Zeiten stand die Oper unter einem Unstern, konnte nicht aufgeführt werden, weil erst König Gustav III. ermodert wurde und kurz darauf Kraus selbst starb. Später wurde sie nur noch einmal in extrem gekürzter Form aufgeführt, dann noch einmal von einer amerikanischen Universität für eine Studentenaufführung ausgegraben, wurde aber im Grunde nicht mehr aufgeführt. Und auch unsere Stuttgarter Version war, was das Szenische anbelangte, nicht wirklich durchgearbeitet. Aber ich bin sehr überzeugt von der Qualität dieses Stückes. Das ist genau der Topos, den wir brauchen: eine unbekannte Oper, die großes Gewicht hat und sich auch konzertant gut aufführen lässt. Das ist etwas, was das Publikum unbedingt kennenlernen muss, und es passt so wunderbar als Abschluss der Reihe ‚Oper konzertant‘.

Es scheint ein ziemlicher Kampf zu sein, Dinge der Vergessenheit zu entreißen, wenn sie einmal hineingeraten sind.

Aber unsere Zeit ist da wieder sehr viel offener geworden, besonders durch die Bewegung der Barockmusik. Als ich Student war, in den 60er-Jahren war auch Händel als Opernkomponist noch völlig unbekannt, während er heute ganz akzeptiert ist. Ähnliches ist es auch Schreker und Zemlinsky ergangen. Ich weiß nicht, ob das bei Kraus auch passieren wird; aber es könnte gut sein, wenn nicht als Opernkomponist, so doch als Symphoniker. Denn seine Symphonien sind hoch interessant und haben viel mit dem zu tun, was wir ‚Sturm und Drang‘ nennen. Das gibt es in der Musik kaum, bei Gluck vielleicht, bei Mozart ein wenig. Man hat gelernt, dass es einen ‚Sturm und Drang‘ in der Musik nicht gebe, wie auch keinen deutschen Impressionismus. Auch das kann ein Wert entlegenen Repertoires sein: die fixen, aber künstlichen Gattungs- und Epochengrenzen zu verunsichern.

Das Konzerthausorchester hat ja gerade einen Generationenwechsel hinter sich und ist ein sehr junges Orchester. Da sie zuvor von der Erziehungsarbeit sprachen: Wie hat sich die Verjüngung des Orchesters auf die Arbeit ausgewirkt?

Ich glaube – um eine Metapher zu verwenden – ein gutes Orchester ist da wie ein guter Schnaps: Er reift in einem großen Fass heran, in dem manche Ingredienzien schon seit dreißig Jahren lagern, in das aber auch immer wieder neuer Weingeist dazukommt. Wenn das gut balanciert ist, wird es ein wunderbarer Schnaps. Das ist bei einem Orchester ähnlich; es muss durch die Generationen gehen. Es kann sehr von Nachteil sein, wenn etwa eine ganze Generation schlagartig ausstirbt, weil dann ein riesiger Erfahrungsschatz, der weitergegeben werden muss, einfach verloren geht. Im Konzerthausorchester funktioniert das meiner Meinung nach sehr gut. Man kann davon ausgehen, dass die Jüngeren von den Älteren lernen, es gibt viel Bereitschaft, sich untereinander zu helfen. Da hat das Orchester in meinen Augen eine enorme Qualität.

Lässt sich über das Schnaps-Bild auch erklären, wie es sich abspielt, dass ein Orchester über Generationen hinweg einen Charakter behält?

Das ist tatsächlich ganz erstaunlich. Ich wundere mich da selbst oft. Aber es gibt tatsächlich Orchester, die allein aufgrund dieser Tatsache völlig unverwechselbar sind. Wenn ich zum Beispiel an die Staatskapelle Dresden denke: Dieses Orchester unterscheidet sich von allen anderen. Da sind Traditionen, die für diesen edlen, sogenannten ‚deutschen Klang‘ sorgen, den ich auch im Konzerthausorchester noch höre. Traditionen, die zurückgehen auf Komponisten wie Brahms oder Reger, geschult durch die romantische und spätromantische Musik. Man merkt heute noch, dass die Dirigenten, die das Konzerthausorchester geprägt haben, wie Kurt Sanderling oder Eliahu Inbal, sich vor allen Dingen mit diesem Repertoire auseinandergesetzt haben. Mir war es wichtig, dass wir breiter werden und da etwas Neues hinzufügen. Deshalb habe ich viel Neue Musik und viel Frühklassik gemacht. Wenn man versucht, die Rhetorik frühklassischer Musik zu verstehen oder sie gar verstanden hat, dann hört man plötzlich, dass das bei Wagner auch stattfindet. Die Blickwinkel klären und verändern sich unvermutet und erstaunlich. Diese Wirkung geht auch umgekehrt von der Beschäftigung mit Neuer Musik aus. Das Fehlen der Rezeptionsgeschichte führt zu einer Konzentration auf den komponierten Notentext, erzeugt eine andere Arbeits- und Hördisziplin, die sich wieder rückkoppeln kann, zum Beispiel beim Lesen einer Beethoven-Symphonie.

Das hängt also auch daran, um weiter im Schnaps-Bild zu bleiben, was und wie viel der Obstgarten des Dirigenten hergibt?

Absolut. Das Konzerthausorchester hat sich da gut entwickelt. Ich habe das Gefühl, dass es viel sensibler geworden ist, viel offener, und dass es jetzt sehr strukturell denkt.

Haben Sie bereits feste Pläne für ihre Zeit nach dem Konzerthaus?

Nein, ich habe noch keine. Was ich will, ist, die neu gewonnene Freiheit zu nutzen. Gerade habe ich etwa 'Intolleranza' von Luigi Nono im Teatro Fenice in Venedig aufgeführt, und das ist ein wunderbares, einzelnes Projekt geworden. Solche Dinge möchte ich in Zukunft vermehrt machen: Projekte, die meinen persönlichen Neigungen entsprechen, die selten angeboten werden. Ich war bisher schon acht Mal in der Position eines Chefdirigenten und musste deshalb natürlich auch immer wieder Angebote ablehnen. Momentan habe ich eher Lust, mir als Gast Dinge aussuchen zu können, und mich auch mit anderen Ansichten, anderen Forderungen, anderen Situationen auseinanderzusetzen.

Das Gespräch führte Tobias Roth.
(03/2011)

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