Pianist, Komponist und Fußballfan - der politische Künstler Fazil Say
"Ich brauche Musik in all Ihren Facetten"
Fazil Say erhielt Im Alter von 17 Jahren für fünf Studienjahre ein Stipendium an der Robert-Schumann-Musikhochschule Düsseldorf, wechselte 1992 nach Berlin und studierte dort bis 1995. klassik.com Autor Felix Hilse traf den Pianisten und unterhielt sich mit ihm über seine Konzerttourneen, den interkulturellen Dialog und sein kompositorisches Schaffen.
Sie spielen teilweise weit über einhundert Konzerte pro Jahr. Kann man diese enormen Anstrengungen überhaupt bewältigen?
Es ist in der Tat manchmal sehr schwer, dieses Pensum zu absolvieren. 2009 werde ich das umstellen und dann immer die eine Hälfte des Monats spielen und die andere Hälfte zur Erholung und zum Üben nutzen. Es ist ja nicht nur die Masse an Auftritten, die einen so fordert. Ich spiele ja auch fast jeden Abend ein anderes Programm: gestern die Bilder einer Ausstellung und eine Liszt Sonate, heute ein Beethoven Klavierkonzert und morgen ein Programm mit Mozart und Debussy. Über das Jahr gesehen spiele ich mindestens 25 verschiedene Klavierkonzerte und fünf bis sechs verschiedene Rezital-Programme.
Sie widmen sich auch immer wieder Projekten, die den kulturellen Austausch fördern sollen, beispielsweise in Berlin, wo es bisher wenig Bestrebungen gab, die große türkische Gemeinde mit klassischer Musik in Berührung zu bringen und umgekehrt auch türkische Musik den Berlinern zu zeigen…
Ich werde im Jahr 2010 artist in residence beim Konzerthausorchester Berlin sein, wo ich solche Projekte gerne weiter führen würde. So etwas muss jedoch gut vorbereitet werden, um Erfolg zu haben. In Berlin haben wir mit dem Deutschen Symphonie-Orchester einen kulturkreisübergreifenden Abend gehabt: mit Werken türkischer Komponisten in der ersten Hälfte und einem Ensemblemix von türkischen Musikern und Musikern des DSO in der zweiten Hälfte.
Hat diese Konstellation aus Ihrer Sicht funktioniert?
Vom Publikum her ja. Es bestand zur Hälfte aus Türken und zur Hälfte aus Deutschen. Das ist an einem Ort wie der Berliner Philharmonie schon sensationell. Aber man muss ein solches Projekt ganz generell als den Beginn einer längeren Arbeit sehen. Die Programme müssen weiter entwickelt werden, die Konzepte ebenso. Nur wenn man einen langen Atem hat, werden solche Projekte nachhaltig Erfolg haben - für das Publikum und das Orchester.
Die Welt der Hochkultur in Mitteleuropa kennt im Bereich der Klassik nur wenige türkische Künstler. Zumeist sind es die Schwestern Güher und Süher Pekinel und eben Sie selbst. Gibt es mehr Klassik in der Türkei als wir wahrnehmen?
Ja, es gibt mehr. Wir haben eine ganze Reihe guter Komponisten, auch einige talentierte junge Dirigenten und Instrumentalisten. Aber Sie haben schon Recht - international geschafft haben es nur wenige.
Woran mag es liegen, dass gerade Sie ein internationaler Star geworden sind? Waren Ihr Weggang mit 17 Jahren aus der Türkei, das Studium in Deutschland und das Leben in den USA entscheidende Schlüssel für eine erfolgreiche Karriere?
Für mich persönlich war das Studium in Deutschland sehr wichtig. Schon als Kind hatte ich den Traum, in Deutschland studieren zu können und war sehr dankbar, als sich mit dem Stipendium in Düsseldorf auf Vermittlung meines dortigen Lehrers David Levin die Chance dazu ergab. Die prägendste Zeit für mich waren jedoch die Jahre in Berlin, direkt nach dem Studium, wo ich völlig auf mich allein gestellt war und als Korrepetitor an der Hochschule der Künste (heute Universität der Künste, Anm. d. Red.) meine Brötchen verdiente. In dieser Zeit habe ich mich als Mensch und als Künstler am meisten entwickelt; hier habe ich ganz allein auf mich gestellt die größten Fortschritte gemacht.
War für Sie der Wechsel als Jugendlicher aus Ankara an die Düsseldorfer Musikhochschule ein großer Kulturschock?
Ich komme aus einer türkischen Intellektuellenfamilie, bin sehr europäisch orientiert aufgewachsen und erzogen worden. Es war weniger die neue Umgebung, die eine Herausforderung bedeutete, als vielmehr das Alter allgemein, in dem ich mich befand. Das ist ja bei jedem Menschen gleich; dieser Wechsel von der Jugend zum Erwachsenen, der Versuch, im Leben Fuß zu fassen. Und dann noch mit einer so einsamen und extrovertierten Sache, wie dem Klavierspiel. Wirklich aufgeblüht bin ich, als ich nach Studienende sofort nach Berlin zog. Ich habe diese Stadt immer sehr gemocht. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens.
Ich stelle mir eine solche Zeit extrem hart vor. Man studiert mit dem Ziel, Konzertpianist zu werden und findet sich dann als Korrepetitor an einer Musikhochschule wieder, um zu überleben…
Das Wort Konzertpianist ist in diesem Zusammenhang für mich völlig falsch, weil ich mich schon von Kindesbeinen an als Musiker, Improvisator und Komponist verstehe. Ich brauche Musik in all Ihren Facetten und Ausdrucksformen. Nur Konzertpianist oder Kammermusiker zu sein, hat mich nie gereizt - so denke ich nicht. Vielmehr habe ich das Klavier genutzt, um mir die anderen musischen Räume zu schaffen. Durch das Spielen von Wettbewerben habe ich mir Auftrittsmöglichkeiten verschafft und so die Menschen für meine Musik interessieren können.
Ihr Sieg bei der Young Concert Artists International Audition in den USA hat also die Türen zu einer regen Konzerttätigkeit geöffnet?
Das kann man so sagen. Zunächst natürlich vor allem in den Vereinigten Staaten. Neben den großen Debüts in New York und Washington habe ich für zwei Jahre Konzerte in vielen kleinen Städten, Kirchen und den Colleges gespielt. Nur so kann man als junger Musiker Erfahrungen sammeln. Und nach dieser Lehrzeit kam das Debüt bei den New Yorker Philharmonikern.
Spielte der damalige Chefdirigent der New Yorker Kurt Masur eine wichtige Rolle für Sie?
Ja natürlich. Er war Präsident der Jury des Wettbewerbs, hat mich damals für dieses Konzert engagiert und immer wieder zu den New Yorkern eingeladen. Auch jetzt spielen wir noch gelegentlich zusammen. Masur hat mir damals sehr geholfen.
Prallen bei Ihnen beiden nicht sehr verschiedene Musizierwelten aufeinander?
Auf jeden Fall. Aber darin besteht doch der Reiz. Mit Typen wie mir selbst, habe ich eigentlich nur einmal zusammen gespielt - und das ist Patricia Kopatchinskaja. Merken Sie sich diesen Namen! Bei ihr spüre ich, dass wir die gleiche Idee von Musik haben, eine ähnliche Kreativität mitbringen. Für mich ist sie die vielleicht interessanteste Geigerin, die es derzeit gibt. Die meisten Künstler, mit denen ich spielen konnte, waren oft andere Musikertypen als ich selbst. Mit Maxim Vengerov habe ich eine Weile zusammen musiziert. Die Schwierigkeit bei ihm besteht darin, dass er sehr kompromisslos ist; für ihn gibt es immer nur einen Weg. Das spricht für seine starke Persönlichkeit, macht aber das gemeinsame Musizieren nicht leichter. Wir haben damals für unsere Tournee mit Werken von Brahms und Beethoven 15 Tage geprobt, was in der heutigen Zeit sehr viel ist.
Und mit Patricia Kopatchinskaja ist das anders?
Es ist ein ganz anderes Arbeiten, weil wir total ähnlich ticken. Wir haben nur drei Tage zusammen gearbeitet, sind dann gleich auf Tournee gegangen und haben die CD aufgenommen. Dort finden Sie meine Violinsonate und die Sonate von Ravel, in der Patricia aus meiner Sicht großartig spielt und wirklich ganz neue Dinge entdeckt. Unsere Interpretation ist sicher kontrovers, aber das braucht die klassische Musik auch. Niemand will heute noch die Kopie der Kopie der Kopie.
Es klingt so, als würden Sie beide regelmäßig zusammen arbeiten…
Das will ich doch hoffen. Wir bilden derzeit ein festes Duo und veröffentlichen unsere Platten neuerdings auch beim gleichen französischen Label. Ich bin sehr glücklich über die gemeinsame Arbeit mit ihr.
Der Umzug von Berlin nach New York mit 25 Jahren muss dann aber doch eine große Umstellung für Sie gewesen sein. Europa und Nordamerika sind in vielerlei Hinsicht verschieden.
Zugegeben, das war eine andere Welt. Man kommt in diese riesige Stadt, wird sofort verschluckt und ist nur ein kleines Licht unter Millionen. Das spüren sie dort jeden Tag aufs Neue. Man fühlt sich oft einsam. Auf der anderen Seite ist das in unserem Beruf eigentlich immer so. Sie müssen alleine etwas schaffen, sind stets auf sich alleine gestellt, Krisen müssen sie mit sich selbst ausfechten. Meine damalige Freundin und spätere Ehefrau lebte noch eine Weile in der Türkei, so dass wir eine Fernbeziehung über tausende von Kilometern führten. Ich habe so manch einsame und frustrierende Nacht allein in meiner kleinen Wohnung in Harlem verbracht.
Wann sind Sie nach Europa zurückgekommen?
Im Jahr 2001. Nach den Ereignissen vom 11. September war die Stadt nicht mehr die gleiche. Wir haben das zum Anlass genommen, wieder zurück zu gehen. Meine ersten CDs wurden sehr gut verkauft, so dass viele Engagements in Europa zustande kamen. Mittlerweile war ich auch verheiratete und Vater einer kleinen Tochter. Für meine Frau war New York immer ein sehr fremder Ort. Und meine Tochter sah unser Kindermädchen aus der Dominikanischen Republik öfter als ihren Vater. Daheim in der Türkei konnten unsere Familien Babysitten wenn nötig, mein Konzertschwerpunkt war in Europa. Heute fliege ich noch einmal im Jahr für eine große Tournee in die USA; mit Japan handhabe ich es genau so.
Ein Interview, das sie der Süddeutschen Zeitung gegeben haben, hat in Ihrer türkischen Heimat ein kleines politisches Erdbeben ausgelöst. Hatten Sie damit gerechnet?
Es sind schon sehr pathetische Menschen, diese Politiker der AKP. Ich war natürlich überrascht. Wer hätte denn mit solch einer intensiven Reaktion rechnen können? Ich sage, dass ich das Land verlassen möchte, wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher, und die ganze Türkei hat zwei Monate von fast nichts anderem mehr geredet. Beinahe scheint es so, als hätte man auf jemanden gewartet, der den Anfang macht - der sich traut, in die Offensive zu gehen und eine öffentliche Diskussion startet. Die AKP testet derzeit die Grenzen. Wie weit können Sie die Islamisierung des Landes vorantreiben, ohne auf entscheidende Widerstände zu treffen? Für mich sieht es so aus, als sei die Türkei auf dem Weg, ein zweiter Iran zu werden.
Wie äußert sich diese Veränderung für Sie im täglichen Leben?
Sie müssen nur auf die Straße gehen. Die Veränderungen können Sie schon visuell wahrnehmen. Jeden Tag sieht man mehr Frauen mit Kopftuch durch die Straßen gehen. Warum, frage ich mich. Istanbul verändert sich von einer weltoffenen, modernen Stadt wieder rückwärts. Der Einfluss von ausländischen Geldgebern ist im ganzen Land spürbar. Derzeit erhalten wir viel Unterstützung aus Saudi-Arabien und anderen reichen arabischen Ländern. Entsprechend verlagern sich die politische Ausrichtung und die religiöse Intensität. Sekten haben großen Zulauf, betreiben Schulen, übernehmen Aufgaben im öffentlichen Leben und gewinnen so Einfluss. Wenn man sich für die Trennung von Religion und Staat einsetzt, wird man schnell als ‚Ungläubiger‘ abgestempelt. Und das ist derzeit ein sehr großes gesellschaftliches Druckmittel. Tayyip Erdogan hat selbst gesagt: Man ist entweder Muslim oder Laizist. Für mich ist dies eine klare Drohung.
Seit Sie in die Türkei zurückgekehrt sind, bringen Sie mit ausgedehnten Konzerttourneen durch die türkische Provinz klassische Musik auch in ländliche Gebiete, wo man diese Kunstform sonst wohl kaum erleben kann. Wie wird Ihr Spiel dort aufgenommen, welche Formen der Musikvermittlung wählen Sie?
Seit dem Jahr 2002 gibt es diese Konzerte von mir - einmal im Monat in einer anderen türkischen Provinzstadt. Die Auftritte sind für mich tolle Erfahrungen. Meist mache ich ein Kinderkonzert, dann eines für die Jugend an den Universitäten und abends ein ‚normales‘ für die Erwachsenen. Ich erzähle viel bei diesen Auftritten, versuche mit den Hörern ins Gespräch zu kommen. So werden die Konzerte oft sehr interaktive, kommunikative Ereignisse. Dabei merke ich deutlich wie wichtig es den Menschen ist, dass ein türkischer Pianist ihnen diese westliche Musik spielt.
Erfahren Sie auch von staatlicher Seite Unterstützung bei diesen Projekten?
Die Regierung bei uns interessiert sich nicht für Kunst und Kultur, vor allem nicht für westliche Kultur. Ermöglicht werden diese Konzerte zu einem wichtigen Teil durch den Sponsor ‚Volkswagen‘, dessen Engagement wirklich Mut beweist. Einen ‚Oppositionellen‘ wie mich zu unterstützen, ist für ein großes Unternehmen nicht so einfach. Je einflussreicher die AKP wurde, desto schwerer war es, Unterstützer für unser Projekt zu finden. Aber es gibt auch einige türkische Unternehmen, die uns unter die Arme greifen. Es ist mittlerweile ein politisches Statement geworden, uns zu unterstützen.
Haben Sie die Hoffnung, dass die Aussicht auf eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei das politische Klima entspannen würde?
Das weiß ich nicht. Mich verwundert allerdings sehr, dass sich die EU öffentlich auf die Seite von Erdogan und der AKP schlägt. Wenn es die Möglichkeit gäbe, Herrn Barroso zu treffen hätte ich in Bezug auf die EU zwei Fragen. Erstens: Seit 21 Jahren finden Gespräche über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union statt. Als ich mit 17 nach Düsseldorf kam und unser Ministerpräsident noch Turgut Özal war, begann diese Diskussion. Damals hieß es: In 8 Jahren könnt ihr dazu kommen. 21 Jahre später haben wir uns keinen Millimeter bewegt und werden immer noch vertröstet. Nun heißt es: Ja, vielleicht in 12 Jahren könnt ihr dazu kommen. Wie lange soll das noch gehen? Zweitens: Ich reise sehr viel, was mein Beruf mit sich bringt. Mir ist aufgefallen, dass es eine sehr komische Entwicklung in Europa gibt: Kopenhagen ist wie Granada; Granada ist wie Mailand, Mailand ist wie Budapest, Budapest sieht aus wie Berlin. Sie haben heute alles überall - die Orte gleichen sich einander an. Aus meiner Sicht raubt diese ‚Globalisierung‘ Europas den Städten, und damit auch den Menschen, ein wichtiges Stück ihrer Identität. Das Individuelle der Städte geht langsam verloren. Kann das Sinn und Zweck der Europäischen Union sein? Wie lange wird die EU stabil bleiben? Identität ist aus meiner Sicht wichtiger als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum.
Lassen Sie uns noch einmal zur Musik zurückkommen. Sie sind nicht nur ein gefeierter Pianist, sondern auch ein erfolgreicher Komponist. Haben Sie Komposition separat studiert?
Das Komponieren gehörte für mich von Kindesbeinen an dazu. Mein Klavierlehrer hat immer sehr stark das Improvisieren auf dem Klavier gefördert. Als ich 8 Jahre alt war hat er angefangen mir zu zeigen, wie man das, was ich da improvisierte, aufschreibt. Später habe ich bei einem anderen Lehrer in der Türkei richtig Komposition studiert, mit allem was dazu gehört, von der Formanalyse bis hin zur Instrumentationslehre.
Ihre Werke sind eher tonal verankert als vom Seriellen bestimmt …
Mein Stil hat sich immer wieder verändert. Bis ich 12 war, klangen meine Stücke oft so wie das, was ich zu der Zeit im Klavierunterricht arbeitete. Wenn ich Mozart-Sonaten spielte, dann klangen meine Stücke stark nach Mozart. Später habe ich Bartok, Debussy, Penderecki gelernt, deren Werke auch im Kompositionsunterricht analysiert. In dieser Zeit konnte man in meiner eigenen Musik diese Komponisten sicher wieder finden. Als ich in Deutschland studierte, habe ich viele Einflüsse aus der türkischen Folklore in meiner Musik entdeckt; und heute habe ich einen Stil gefunden, der mich widerspiegelt, der individuell ist und mich sehr zufrieden macht. Dazu gehören auch die tonalen und folkloristischen Elemente. Das steckt so in meinem Blut. Und was im Blut steckt ist beim Komponieren primär, das Intellektuelle sekundär.
Auch Ihre Ausdrucksweise am Klavier ist sehr individuell - gestenreich extrovertiert, jedoch keinesfalls aufgesetzt …
Ich suche die reine Energie und dafür benutze ich das Energiefeld, das mich beim Spielen umgibt. Wenn ich nach oben schaue, dann mache ich das nicht weil es toll aussieht, sondern weil ich dadurch etwas empfange und nach einem Energiefluss suche. Es ist simple Sucherei während des Spielens. Das mag etwas kitschig klingen, aber viele Musiker werden genau wissen, was ich meine. Ich selbst genüge nicht, um zu spielen. Ich brauche Hilfe aus diesem Energiefeld.
Spüren Sie auch einen Energiefluss aus dem Auditorium?
Ja, ganz klar. Weil ich durch mein Spiel etwas gebe, erhalte ich auch etwas zurück - und ich meine nicht den Applaus. Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Man merkt so auch gleich, ob das Publikum auf der Stuhlkante sitzt und voll in der Musik ist, oder ob man den Hörer nicht erreicht und er sich ‚nur‘ berieseln lässt. Natürlich gibt es da auch immer wieder Momente, in denen dieser Austausch nicht funktioniert. Bei einem Konzert in Wuppertal habe ich einmal Beethovens ‚Appassionata‘ gespielt und schon im dritten Takt rief jemand: „So ein Scheiß!“ Da ist das Stück für Sie eigentlich schon gelaufen, der Energiefluss spontan versiegt.
Fühlen Sie sich manchmal in den klanglichen Ausdruckmöglichkeiten Ihres Instruments beschränkt?
Das Wichtige für mich ist, dass ich beim Spielen die Klänge anderer Instrumente genau im Kopf habe. Wenn ich Liszt spiele, habe ich die Klangpaletten des ’Tristan‘ im Kopf, bei den ‚Bildern einer Ausstellung‘ natürlich die Ravel-Orchestration. Es geht nicht darum, diese zu kopieren. Aber man muss die verschiedenen Klänge im inneren Ohr hören und mit ihnen arbeiten können. Das gilt auch für die menschliche Stimme. Ohne diese Vorstellungskraft könnten Sie nie am Klavier singen - wie auch: von Hause aus ist es ja ein Schlaginstrument.
Wer Sie einmal in einem Konzert erlebt hat, weiß, dass Sie immer mit vollem Einsatz bei der Sache sind, auch physisch eine große Präsenz zeigen. Wie regenerieren Sie von den Strapazen eines Auftritts?
Die einen praktizieren Yoga oder spielen Golf, ich mache meist lange Spaziergänge. Natürlich wäre es toll, wenn man nach einem Konzert ins Hotel kommt, wo die eigene Freundin wartet und einem eine zweistündige Massage verpasst. (lacht) Bei den Spaziergängen finde ich wieder meine innere Ruhe - eine Ruhe, die ich auch zum Komponieren benötigte. Und wenn ich mich abreagieren muss, bleibt ja noch meine Liebe zum Fußball.
Ihre große Jugendliebe ‚Fernabahçe‘ ist also noch nicht erloschen?
Nein, wo denken Sie hin! Ganz im Gegenteil. Ich bin auch sehr stolz drauf, das ich Zico (ehem. Trainer bei Fenerbahçe Istanbul - Anm. d. Red.) persönlich kenne und er auch zu meinen Konzerten kommt. Schon als kleiner Junge war ich fanatischer Fan der brasilianischen Nationalmannschaft und besaß ein Trikot von Zico, den ich verehrte. So war es etwas ganz Besonderes, als ich ihn kennen lernen durfte und er auch tatsächlich in mein Konzert kam.
Das Gespräch führte Frank Bayer.
(02/2009)
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