Jan Vogler über seine Deutschland-Tournee mit dem Singapore Symphony Orchestra
"Bach und Beethoven gehören uns nicht mehr allein"
Seit seiner Gründung im Jahre 1979 hat sich das Singapore Symphony Orchestra (SSO) zu einem der führenden Klangkörper des asiatischen Kontinents entwickelt. Unter seinem Chefdirigenten Lan Shui kommt das SSO im Oktober 2010 nach Deutschland. Zusammen mit dem Cellisten Jan Vogler machen die asiatischen Musiker Station in Frankfurt, München, Leipzig, Berlin und Dresden. Auf dem Programm stehen Werke des 19. Und 20 Jahrhunderts: 'La Mer' von Claude Debussy, Sergej Rachmaninows 'Die Toteninsel', die 'Elegie für Cello und Orchester' von Gabriel Fauré sowie die 'Rokoko-Variationen' von Peter Tschaikowsky. Den Abschluss bildet das zeitgenössische Werk 'The Rhyme of Taigu' des chinesischen Komponisten Zhou Long. Vor Beginn der Tournee sprach Miquel Cabruja für klassik.com mit Jan Vogler.
Herr Vogler, in Deutschland ist das Singapore Symphony Orchestra noch nahezu unbekannt. Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit dem SSO?
Ich kenne das Orchester schon ziemlich lange. Das erste Mal spielte ich 1997 in Singapur mit ihm zusammen. Lan Shui hatte gerade als Chefdirigent begonnen, und schon damals war es ein unglaublich enthusiastisches Orchester, das mit einem enormen Ausdruckswillen und viel Engagement spielte. Danach kehrte ich alle vier bis fünf Jahre nach Singapur zurück und konnte feststellen, dass sich das Singapore Symphony Orchestra jedes Mal dramatisch verbessert hatte. Inzwischen ist es zu einem richtigen Spitzenorchester geworden, mit dem ich wahnsinnig gerne zusammenarbeite, auch wenn der Weg wirklich weit und der Jetlag ein echtes Problem ist.
Wie lange fliegt man nach Singapur?
Von New York aus, wo ich oft zu tun habe, fliegt man sonntags los und kommt dienstags an. Da bleibt einem nicht mehr viel, als zuhause anzurufen und zu fragen: „Hey, wie war Euer Montag?“ Das geht an die Kondition und ist viel anstrengender als der Wechsel zwischen Deutschland und Amerika. Sechs Stunden Zeitumstellung sind nicht so tragisch, aber Asien ist schon eine Klasse für sich.
Auf Ihrer gemeinsamen Tournee mit dem Singapore Symphony Orchestra spielen Sie Faurés 'Elegie' und Tschaikowskys 'Rokoko-Variationen'.
Mit der 'Elegie' habe ich mich in diesem Jahr eigentlich zum ersten Mal beschäftigt, weil ich sie eingespielt habe. Tschaikowskys 'Rokoko-Variationen' dagegen kenne ich schon lange. Zusammen mit dem SSO spiele ich sie aber erstmals in der Fassung des Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, der das Werk uraufführte und von vornherein die von Tschaikowsky ursprünglich beabsichtigte Reihenfolge veränderte. Ich hatte mich bis dato immer davor gescheut, die Fitzenhagen-Fassung zu spielen, weil ich daran glaubte, dass Tschaikowsky wegen der Umstellungen sehr ungehalten gewesen sei. Zu der Original-Fassung fand ich aber keinen Draht. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren und herausgefunden, dass die Geschichte vom verärgerten Tschaikowsky ein moderner Mythos ist, für den es absolut keinen Beleg gibt. Fitzenhagens Umstellung ist einfach wahnsinnig gut, weil sie die Dramaturgie des Stückes verbessert: Die berühmte d-Moll-Variation wirkt kurz vor dem Ende wie die Ruhe vor dem Sturm. Alles ist straffer und dramaturgisch interessanter. Nicht umsonst haben Generationen großer Cellisten immer auf diese Version zurückgegriffen. Ich bin mir sicher, dass auch Tschaikowsky das am Ende eingesehen hat.
Mit Debussys 'La Mer' zeigt Lan Shui seine Sicht auf den französischen Impressionismus.
Gerade darauf freue ich mich ganz besonders. Lan hat mir vor längerer Zeit schon eine Aufnahme des Stückes mit dem Singapore Symphony Orchestra geschenkt. Es ist die beste Einspielung, die ich bisher gehört habe. Das hat sicher auch mit der besonderen Lage Singapurs zu tun. Dieser kleine Stadtstaat ist praktisch vollkommen vom Meer umschlossen, und der Ozean gehört zum täglichen Leben seiner Einwohner. Aber unabhängig davon gibt es in Asien ohnehin eine große Affinität zur französischen Musik.
Und umgekehrt hat sich auch Debussy sehr mit asiatischer Musik auseinandergesetzt.
Das gilt für viele französische Komponisten. Während des Ersten Weltkrieges wandten sich die französischen Musiker bewusst von der deutschen Romantik ab und verarbeiteten zunehmend außereuropäische Einflüsse in ihrer Musik.
Das Thema Wasser wird im Programm auch durch Rachmaninows 'Die Toteninsel' aufgenommen…
…ein sehr emotionales Stück. Und das ist außerordentlich interessant, denn man behauptet doch sehr oft, dass Asiaten emotional reserviert seien. Aber ich bin mir sicher, dass jeder, der das Singapore Symphony Orchestra im Konzert Rachmaninow spielen hört, danach anders denken wird.
Jeder, der Sie einmal im Konzert gehört hat, weiß, wie wichtig auch Ihnen Emotionen in der Musik sind.
Emotionen sind für mich die Grundvoraussetzung dafür, dass man überhaupt auf die Bühne geht. Je älter ich werde, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass ein Konzert maßgeblich davon abhängt, wie viel man dem Publikum zu geben bereit ist. Man hat eine Riesenverantwortung den Menschen gegenüber, die sich für einen bestimmten Abend Karten kaufen, mitunter einen Babysitter bestellen, den Weg auf sich nehmen und dann zwei Stunden im Saal stillsitzen und konzentriert zuhören. Das Publikum will dafür doch etwas bekommen: Energie, Kraft und Inspiration.
Zurück zur Tournee mit dem Singapore Symphony Orchestra. Das letzte Stück im Programm ist 'The Rhyme of Taigu' des chinesischen Komponisten Zhou Long.
Ich kenne das Stück nicht, bin aber sehr darauf gespannt. Zhou Long lebt zusammen mit seiner Frau Chen Yi, die ebenfalls Komponistin ist, in New York. Er ist ein sehr bescheidener und zurückhaltender Mensch, der oftmals kaum ein Wort spricht, aber eine ausgesprochen intensive Kommunikation mit seinem Publikum erreicht. Er ist ein Komponist, der sich sehr in die chinesische Musik und ihre jahrtausendealten Melodien vertieft und damit eine Brücke von den frühesten Dynastien Chinas bis in die Gegenwart schlägt. Seine Stücke sind sehr effektvoll und ich gehe davon aus, dass 'The Rhyme of Taigu' ein spektakulärer Abschluss der Konzerte unserer Tournee sein wird.
In Deutschland haben Bauprojekte im Kulturbereich derzeit einen schweren Stand. In Singapur hat man vor fünf Jahren einen spektakulären neuen Konzertsaal eröffnet.
Die futuristische Esplanade Concert Hall ist ein Konzertsaal, um den jede deutsche Großstadt inklusive München oder Dresden eine Menge geben würde. Und ich meine damit nicht nur die ausgesprochen attraktive und innovative Architektur des Saales, sondern auch seine sensationelle Akustik. Dieser neue Bau hat dem Orchester und der Arbeit von Lan Shui noch einmal einen enormen Schub gegeben.
Woher kommen die Musiker des Singapore Symphony Orchestra?
Vor allem aus China. Dort werden ja immer mehr hervorragende Musiker ausgebildet. Aber China hat bislang kein Spitzenorchester. Und die Konkurrenz ist klein. Das einzige gute Orchester Asiens war jahrzehntelang das NHK Symphony Orchestra aus Tokio. Mit dem Singapore Symphony Orchestra ist ein zweites asiatisches Orchester ins Rampenlicht getreten, das technisch hervorragend ist. In Amerika hat das SSO mit Künstlern wie Yo-Yo Ma und Gil Shaham zusammen gespielt. In den USA weiß man längst, dass hier ein exzellentes Orchester unter der Leitung von Lan Shui herangereift ist.
Wie arbeitet Shui mit seinen Musikern?
Lan ist ein sehr bescheidener Mensch, kein typischer Maestro, sondern ein wirklich intelligenter und sensibler Künstler, der sich in sein Orchester hineinfühlt, um herauszufinden, was für ein Potential die Musiker haben. Er fördert anstatt zu forcieren und hat die Entwicklung des Orchesters mit jeder Faser seiner Persönlichkeit mitgetragen und begleitet. Als Lan mir erzählte, dass er mit seinen Musikern nach Deutschland kommen wird und mich fragte, ob ich dabei sein wollte, habe ich sofort zugesagt.
Geht es Ihnen dabei auch um einen kulturellen Austausch?
Es wird in Europa viel über das ökonomische Wachstumsphänomen in Asien gesprochen, aber kaum über das kulturelle Entwicklungspotential des Kontinents. Dabei exportieren wir nicht nur Maschinen, sondern auch Kultur. Nicht von ungefähr fährt Anne Sophie Mutter alle zwei Jahre nach China und spielt dort vor großem Publikum in Peking. Was ich in diesem Zusammenhang schade finde, ist, dass wir nur wenig Echo von dort zurückbekommen, obwohl in Asien von uns fast unbemerkt ein unglaubliches kulturelles Potential entstanden ist. Umso wichtiger finde ich es, dieses Potential hier bekannt zu machen.
Woher kommt das große Interesse Asiens an der europäischen Musik?
Für Japan, das hier sicher eine Vorreiterrolle gespielt hat, war es die Faszination, die von der Kultur des Alten Europa ausgegangen ist. In Singapur stehen wir vor einem völlig anderen Phänomen, das davon profitiert, dass in China im Moment so viele Talente heranwachsen. Das bedeutet aber wiederum, dass es den Austausch mit Europa längst nicht mehr braucht. Wir unterschätzen, wie sehr sich die asiatische Musikszene bereits von uns abgekoppelt hat. Man muss einfach nur daran denken, dass im Augenblick in China etwa 10 Millionen Kinder Klavier spielen lernen. In Korea erlernt fast jedes Kind ein Instrument.
Etwas, wovon wir in Deutschland weit entfernt sind. Woher kommt diese Selbstverständlichkeit?
Aus der asiatischen Philosophie. Ich bin mit einer Chinesin verheiratet und weiß, dass man in Asien alles in seine Kinder investiert – vor allem sehr viel Liebe und sehr viel Bildung. Ab einem bestimmten Alter kommt dann Disziplin dazu. Und genau daran glaube ich auch. Bildung ist immens wichtig, und junge Menschen erhalten durch Bildung genau die Stabilität, die es ihnen auch ermöglicht, unbeschadet durch die schwierige Zeit der Pubertät zu kommen. Doch dieser Umgang mit der Jugend ist eingebettet in ein Gesellschaftsbild, das auf der anderen Seite davon abhängt, wie man mit alten Menschen umgeht. Dafür, dass sie so viel in ihre Nachkommen investiert haben, werden die Alten von der Jugend respektiert. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
Wie unterscheidet sich das Engagement asiatischer Familien für ihre Kinder von der Art, wie Eltern in Europa Kinder fördern?
Asiatische Eltern bringen einfach einen großen Leidenswillen für ihre Kinder auf. Es gibt nicht wenige asiatische Familien, in denen die Mutter drei Jahre getrennt vom Vater lebt, damit das gemeinsame Kind in Amerika an der Juilliard School studieren kann. Die Mutter zieht mit dem Nachwuchs ins Ausland und opfert sich auf, damit das Kind irgendwann einmal eine bessere Zukunft hat. Übrigens beobachte ich diese Opferbereitschaft auch in Deutschland: Von den besonders großen Talenten in der Klassik-Szene zwischen 20 und 30 Jahren in unserem Land haben vielleicht gerade mal fünf Prozent zwei deutsche Elternteile. Die meisten jungen Musiker bei uns haben eine asiatische Mutter oder ein Elternteil aus Osteuropa.
Entscheidend für den späteren Erfolg als Musiker ist aber doch auch die Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, einen Großteil Ihrer Zeit für ein bestimmtes Ziel zu investieren.
Gerade in asiatischen Ländern wie China haben junge Leute eine große Motivation, sich für ein besseres Leben einzusetzen, weil dort der Lebensstandard den wir hier schon seit Generationen kennen, noch nicht selbstverständlich ist. Und die Eltern sind bereit, alles dafür zu geben, weil sie wissen, dass man hart arbeiten muss, um Wohlstand zu erreichen oder einen einmal erreichten Standard zu halten.
Kann man diese Situation mit der Lage des Bürgertums im 19. Jahrhundert vergleichen, als in Mitteleuropa die Kultur einen Höhenflug erlebte und die Musik eine Schlüsselfunktion im bürgerlichen Leben spielte?
Das ist eine interessante Analogie. In China ist der Konkurrenzkampf durch die schiere Größe des Landes einfach sehr hart. Aber auch in kleineren Ländern Asiens ist es nicht wesentlich anders. Kindern wird eine umfassende Bildung ermöglicht, und sie arbeiten dafür hart. Ich denke da gerade an die zwölfjährige Tochter von zwei Orchestermusikern des SSO. Die spielt fantastisch Klavier und meisterhaft Schach, geht mit auf Tournee und macht abends beim Essen die Hausaufgaben, nachdem sie im Orchester den Klavierpart mitgespielt hat.
Was ist mit den eigenen musikalischen Wurzeln Asiens? Verkümmern die nicht, wenn europäische Musik den Kontinent überschwemmt?
Es gibt in China schon noch sehr viele Erhu- oder Pipa-Spieler, die mit traditioneller Musik Karriere machen. Aber so gern ich asiatische Musik mag, möchte ich auch nicht unbedingt drei Abende lang Pekingoper hören. Westliche Musik ist zu so etwas wie einem Weltkulturerbe geworden. Sie ist universell und deswegen auch längst nicht mehr an uns gebunden.
Dennoch gibt es im europäischen Feuilleton und auch bei Kulturmachern eine Art Überheblichkeitsreflex, wenn es um asiatische Musiker geht.
Diese Überheblichkeit ist unangebracht. Vielleicht konnte man vor sechzig Jahren noch sagen, dass Asiaten sich im Allgemeinen trotz technischer Brillanz bei Schumann oder Tschaikowsky mit einer ihnen eigentlich fremden Musik auseinandersetzten. In Europa waren diese Komponisten hingegen feste Größen im Bildungskanon. Aber heute ist es doch eher umgekehrt: Für immens viele Zwölfjährige in Asien ist es selbstverständlich, klassische Musik zu hören und Bach oder Beethoven als musikalische Lichtgestalten anzuerkennen. In Europa hingegen können selbst viele junge Erwachsene nichts mehr mit diesen Namen anfangen. Wir müssen uns klarmachen: Bach und Beethoven gehören uns schon lange nicht mehr allein.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(10/2010)
Die Stationen der bevor stehenden Konzerttournee:
14.10. Frankfurt, Alte Oper
16.10. München, Herkulessaal
18.10. Leipzig, Gewandhaus
19.10. Berlin, Philharmonie
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