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Mittwoch, 27. September 2023

Photo: Helsinki Baroque Orchestra

Der finnische Cembalist Aapo Häkkinen steht für einen fantasievollen Zugang zur Barockmusik, fernab aller bequemen Routine.

"Wir wollen aus jeder Aufführung eine Premiere machen"


Das Helsinki Baroque Orchestra gilt mittlerweile als eines der führenden Alte-Musik-Ensembles, auch auf den internationalen Podien. Spiritus rector des 1997 gegründeten Ensembles ist seit 2003 der Cembalist Aapo Häkkinen. Neben erfolgreichen Auftritten in Konzert und Oper, einem wichtigen Betätigungsfeld für Barockensembles, fanden auch die Einspielungen des Helsinki Baroque Orchestra weithin Beachtung. Vor allem recht unbekanntes Repertoire stand dabei im Zentrum, etwa die Sinfonien von Franz Xaver Richter sowie Orchestermusik von Johan Joachim Agrell. Im Juni gastiert das finnische Ensemble in Deutschland. Zusammen mit der Mezzosopranistin Vesselina Kasarova ist ein Arien-Programm mit Werken von Georg Friedrich Händel in Halle, Villingen und Dresden zu hören. Man darf sich auf spannende Konzerte freuen, ist es doch, wie Aapo Häkkinen im Gespräch mit klassik.com-Autor Tobias W. Pfleger unterstrich, das Anliegen des Ensembles, mit Offenheit, Neugier und fantasievoller Lust am Ungewohnten die Musik des 18. Jahrhunderts für die Gegenwart lebendig zu machen.

Finnland ist eine Großmacht in Sachen Musik, eine musikalische Exportnation – man denke an die zahlreichen Komponisten, Dirigenten, Sänger und Instrumentalsolisten, die auf der ganzen Welt Karriere machen. Im Bereich der Alten Musik scheint der Beitrag Finnlands aber nicht so groß.

Ja, das stimmt. Die Alte-Musik-Bewegung in Finnland ist im Vergleich zu vielen anderen westeuropäischen Ländern relativ jung. Mittlerweile hat sie sich allerdings gut etabliert – in Helsinki. Ich spreche von Helsinki, denn Finnland ist ein großes Land; im Norden gibt es nicht so viele Bemühungen um die klassische Musik, schon gar nicht um die Alte Musik. In Helsinki aber schon.

Seit wann gibt es denn das Helsinki Baroque Orchestra?

Das Helsinki Baroque Orchestra ist mittlerweile 15 Jahre alt. Wir haben eine Konzertserie in dem neuen Konzertsaal in Helsinki. In den letzten zehn Jahren waren wir auch international sehr aktiv. Aber es gibt natürlich noch andere Ensembles und Kammermusikgruppen. Und es sind auch viele finnische Spezialisten für historische Musikinstrumente in anderen Ländern tätig. In den letzten Jahren hat sich in Bezug auf Alte Musik in Finnland viel getan. Das betrifft auch die Ausbildung in der Sibelius Akademie. Die Alte Musik hat sich dort mittlerweile fest etabliert. Man kann all die wichtigen Barockinstrumente studieren. Dazu kommt, dass auch auf modernen Instrumenten ausgebildete Musiker oft ein großes Interesse an Barockmusik haben.

Es ist ein interessantes Phänomen, dass nicht wenige Musiker, die viel zeitgenössische Musik spielen, sich mit gleicher Hingabe der Alten Musik widmen.

Ja, das ist wahr. Aber es gibt natürlich schon auch viele Musiker, die sich auch im romantischen Repertoire zuhause fühlen und nicht so viel zeitgenössische Musik machen. Wenn ich als Cembalist spreche: Das ist natürlich eine ganz simple Instrumentenfrage. Ich lernte schon in jungen Jahren Cembalo zu spielen und wurde dann auf dem Klavier nie richtig zuhause, daher ist das romantische Repertoire ziemlich außen vor – in Bezug auf die professionelle Musikausübung. Das ist also vor allem eine Frage des Instruments, weniger, ob ich diese Musik mag oder nicht. Es gibt ganz allgemein nicht allzu viele Tasteninstrumentalisten, die Cembalo und Klavier gleich gut spielen können.

Ist das bei anderen Instrumenten nicht so?

Ja, bei Streichern ist das Instrument zum Beispiel nicht so unterschiedlich: Eine Violine ist eine Violine, ob nun modern oder historisch. Natürlich gibt es entscheidende Unterschiede, aber da ist es eher eine Frage des Stils, nicht des Instruments. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, Holland oder Belgien, sehe ich zum Beispiel, dass die Instrumentalisten sich stärker spezialisieren: entweder Barockinstrumente oder das sogenannte moderne Instrument, das aber ja eigentlich ein romantisches Instrument ist. Die Spezialisierung ist dort also stärker als etwa in Deutschland oder in Finnland. Daher gibt es hier eine Menge von Musikern, die ein breites Repertoire abdecken. Auch im sogenannten barocken Streicherspiel gibt es unterschiedliche technische und musikalische Zugänge. Es gibt also nicht den einen Barockstil.

Copyright Helsinki Baroque Orchestra

Hat das auch mit dem Ausbildungsort bzw. mit unterschiedlichen nationalen ‚Schulen‘ zu tun? Ich denke da an den typisch englischen, geradlinigen Musizierstil, der sich von dem holländischen, sehr sprachnahen Barockstil doch deutlich unterscheidet.

Ja, absolut. Der Stil und auch die Technik des Spiels rühren von der generellen Ausbildung auf dem jeweiligen Konservatorium her. Das ist so etwas wie eine musikalische Muttersprache. Sie hängt direkt davon ab, wie man in einem relativ jungen Alter gelernt hat Musik zu machen. Später treten Einflüsse verschiedener anderer Stile hinzu; man kann nach prägenden Einflüssen Ausschau halten, man kann bewusst andere musikalische Entscheidungen treffen – aber das wird dann in die eigene musikalische Sprache implementiert. Man kann nicht einfach einen anderen Stil anwenden und sagen: So, ab jetzt spiele ich so, nachdem ich ein bestimmtes Buch gelesen habe oder eine Aufnahme gehört habe. Man kann vielleicht viele kleine Details ausprobieren und verändern, aber man muss dennoch in der eigenen musikalische Sprache bleiben.

Welche „Schule“ war für Sie prägend?

Für mich war Amsterdam die entscheidende Prägung. Ich studierte Cembalo bei Bob van Asperen. Als Cembalist hat mich in technischer Hinsicht, in Bezug darauf, wie man sich dem Instrument nähert, vor allem die Leonhardt-Schule geprägt. Aber das ist natürlich kein spezifisch holländisches Phänomen; Studenten von Leonhardt sind mittlerweile in allen möglichen Ländern Europas und auch der ganzen Welt. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich bei Bob van Asperen studieren konnte und später dann auch bei Pierre Hantaï.

Sind auch die anderen Musiker des Helsinki Baroque Orchestra primär holländisch geprägt?

Nein, die Technik unserer Streicher hat nicht so großen holländischen-belgischen Einfluss. Die meisten unserer Musiker haben bei Reinhard Goebel oder seinen Schülern studiert. Sie haben eine gute theoretische Basis und eine solide Technik. Das ist ein sehr wichtiger Faktor dabei, unserem Ensembleklang eine besondere Gestaltung zu geben. Diese ‚Schule‘ unterscheidet sich etwa von der Sigiswald Kuijkens, von dem vorherrschenden Stil in Belgien, Frankreich und Holland.

Gibt es noch andere Einflüsse, die in Ihrem Ensemble zusammenfließen?

Ja, es gibt natürlich noch die italienische ‚Schule‘, wobei ich nicht weiß, ob man das wirklich ‚Schule‘ nennen kann, aber zumindest die italienische Barock-Kultur mit Enrico Onofri. Und auch das hat einen wichtigen Einfluss auf uns als Helsinki Baroque Orchestra. Riccardo Minasi, unser Konzertmeister und fester Gastdirigent, ist ein Schüler von Enrico Onofri. Sie haben lange Zeit bei Il Giardino Armonico zusammen gespielt. Aus technischer Sicht ist das nicht so weit weg von der deutschen ‚Schule‘. In musikalischer Hinsicht kann der Zugang aber schon einigermaßen unterschiedlich sein.

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Das Helsinki Baroque Orchestra vereint in seinen Reihen also ganz unterschiedliche Zugänge zur Barockmusik.

Die Kombination einer soliden, technischen und theoretischen Basis und eines fantasievollen Zugangs, der zum Ausloten verschiedener Möglichkeiten, zur musikalischen Kommunikation anregt – das ist das besondere Merkmal des Helsinki Baroque Orchestra.

Was macht einen fantasievollen Zugang zur Barockmusik aus?

Es gibt stets, auch in Barockorchestern, die Gefahr, sich in einer komfortablen Routine einzurichten und es sich bequem zu machen, ein Standardorchester zu werden. Ein solches gab es aber zur Barockzeit nicht! Das Barock-Orchester als solches ist ein doppelter Anachronismus. Denn das, was wir Barockstil nennen, wurde damals nie als solcher verstanden. Es gab nicht den einen Barockstil, sondern ganz verschiedene nationale und regionale Stile. Und es gab zu dieser Zeit schlichtweg kein Orchester, keine Standardbesetzung. Also: Was wir Barockorchester nennen, ist ein Instrumentalensemble, das sich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts verschrieben hat. In dieser Zeit veränderten sich die Musikstile, die Besetzungen wurden den jeweiligen Gegebenheiten angepasst, das erfordert von heutigen Spielern ein großes Maß an Flexibilität und Imagination. Das geht in der stilistischen Breite weit über das hinaus, was Musiker zu leisten haben, die sich nur dem romantischen oder zeitgenössischen Repertoire widmen. Es ist ganz interessant, dass die, die sich auf die Barockmusik konzentrieren, als Spezialisten bezeichnet werden. Aber eigentlich ist die Breite der Stile, die wir bedienen und auch die zeitliche Breite des Repertoires, mindestens so groß wie das Repertoire der sogenannten modernen Orchester, die sich vor allem um die Musik des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts kümmern. Wir sind also keine Spezialisten im engeren Sinn. Wir machen nur unsere Hausaufgaben und spielen Musik so gut wie wir können.

Welche Gefahren gibt es für Barockmusik-Ensembles, in eine Routine zu verfallen? Der improvisatorische Anteil dieser Musik scheint der Gefahr ja entgegenzustehen.

Es gibt die Gefahr, in ein routiniertes Musizieren abzugleiten, eine Bequemlichkeit auszubilden, wenn sich ein bestimmter Stil herausgebildet hat und man den von uns erwartet. Natürlich ist das in gewissem Umfang auch angemessen, natürlich können wir nicht in jeder Probe ganz von vorn anfangen und das Rad neu erfinden. Die grundlegende technische Basis ist natürlich da; die wollen wir auch nicht verändern. Aber es ist enorm wichtig, dass es eine Offenheit gegenüber neuen Ideen gibt, eine Offenheit gegenüber neuen Zugängen, vor allem aber eine Offenheit für einen improvisatorischen Zugang. Jeder Spieler muss frei sein, etwas vom einen Abend zum anderen auch ein wenig anders zu spielen. Ich möchte nicht, dass man einfach wiederholt, was man eingeübt hat. Dagegen möchten wir angehen. Das ist eine der größten Herausforderungen im Orchester ganz allgemein.

Harnoncourt sprach einmal davon, dass es große Schwierigkeiten gäbe, Barockmusik im Studio einzuspielen, denn die eigentlich improvisatorischen Elemente gewinnen durch die Möglichkeit zu theoretisch unendlicher Wiederholbarkeit auf der Platte einen Status, der ihnen als Verzierung im Augenblick der Aufführung eigentlich zuwiderläuft.

Ich verstehe, was Harnoncourt gemeint hat und stimme ihm da komplett zu. Er favorisiert in den letzten etwa 20 Jahren vor allem Live-Aufnahmen. Die Idee der Live-Aufnahme ist gerade bei großen Besetzungen sehr gut. Ich habe in den vergangenen Jahren eine Menge Aufnahmen gemacht. Meiner Meinung nach ist es künstlerisch gleichwertig, eine Live- oder eine Studio-Aufnahme zu machen. Letztere unterscheidet sich von einem Konzert natürlich deutlich, vor allem, weil sie eben ein wiederholtes Anhören aushalten muss. Ich glaube, dass manches Repertoire sich für Aufnahmen besser eignet als anderes. Wenn man zum Beispiel – um mich auf Cembalomusik zu beschränken – italienische Toccaten, Präludien, sogar manche Suiten nimmt: Sie sind von Natur aus sehr improvisatorisch, das sollte daher von einer zur anderen Aufführung variieren. So etwas lässt sich nur schwer aufnehmen. Dann gibt es sehr durchdachte, vom Komponisten bis ins Detail ausgearbeitete Musik, etwa große Teile französischer Barockmusik oder ein Großteil des Werks von Johann Sebastian Bach, dort ist das improvisatorische Element viel kleiner. Zum Beispiel bei Bachs Cembalo-Konzerten, die wir vor Kurzem aufgenommen haben. Bei viel stärker improvisatorischen Stücken, vielen italienischen Violinsonaten beispielsweise, wo der Spieler wirklich improvisieren, ausschmücken muss, vor allem in den langsamen Sätzen, muss man wirklich bei jedem Mal ganz anders spielen – was bei einer Aufnahme nicht geht. Außer sie ist angelegt als Dokumentation einer einzelnen Aufführung sieht, weniger als gültiges Statement.

Gehen Sie gerne ins Aufnahmestudio?

Ja, ich mag es Aufnahmen zu machen: die Vorbereitung als auch die Postproduktion. Ich suche das Repertoire mit Blick auf die Aufnahme aus. Das Programm einer Aufnahme muss nicht unbedingt in einem Konzert gut ankommen. Die Aufnahme einer ganzen Serie von Werken, etwa die sechs Cembalo-Konzerte von Bach, hat eher den Charakter einer Publikation. Wenn man die sechs Konzerte in einem Konzert am Stück spielen würde, wäre das wohl kein sehr schönes Programm – und so wurden sie damals ja auch nicht aufgeführt. Aber Werke wurden damals meist als Werkgruppen veröffentlicht. Das hatte den Charakter einer Kollektion, einer Publikation der ganzen Werkgruppe. Und solche Aufnahmen mache ich gern. Eine Aufnahme ist eine Mischung aus Publikation und Aufführung.

In der Frühzeit Historischer Aufführungspraxis war es das Ziel, vergessene Werke wieder aufzuführen. Mittlerweile geht es eher darum, das bekannte Repertoire durch neue Zugangsweisen frisch und ungewohnt erscheinen zu lassen…

…aber meist es doch gar nicht sehr frisch, denn es hat sich ja, in der Barockmusik fast noch mehr als in der traditionellen Orchesterkultur, ein routinierter Stil breitgemacht. Vor allem in den großen Ländern der Alten Musik – Frankreich, Holland, Deutschland, England – gibt es einen erwarteten Stil für diese Musik, egal ob es sich um ein bekanntes oder unbekanntes Werk handelt. Eine solche Standardausführung bekommt man oft geboten. Das ist die große Gefahr, von der ich sprach. Es geht da nicht so sehr um die Frage des Repertoires, sondern um den Zugang: Von vielen Werken des Standardrepertoires bekommt man eine Standard-Interpretation. Und nur selten versuchen Musiker, einen neuen Zugang zu bekannten Werken zu schaffen, ob sie nun danach suchen oder ob das ihrem interpretatorischen Naturell entspricht. Wenn ich an Harnoncourt oder Goebel denke – das sind Leute, von denen erwartet wird, dass sie gründlich recherchierte, fundierte und ungewohnte Interpretationen anbieten. Das bedeutet aber auch, dass die Musiker den Stil total erfassen müssen, ihn im Griff haben, diese Sprache sprechen. Bei Musikern, die in stilistischer Hinsicht weniger kompetent sind, ist die Gefahr größer, auf diese Standardschiene zurückzufallen. Man muss die Offenheit mitbringen, vom Gewohnten abzuweichen. Und das ist natürlich bei Barockmusik viel stärker möglich als bei jüngerer, weil die Verantwortung viel stärker beim einzelnen Musiker lag. Komponisten schrieben zum Beispiel nicht die Artikulation, die Bogensetzung oder die Phrasierung vor; das gehörte in den Zuständigkeitsbereich des Musikers. Was wir also erwarten, ist unterschiedliche Lösungen von unterschiedlichen Musikern zu bekommen. Das wäre eine authentische Art, dieses Repertoire umzusetzen.

Wie gewichten Sie bekannte und unbekannte Werke? Ist es für Sie gleich wichtig, eine nicht-routinierte, fantasievolle Interpretation des Standardrepertoires zu bieten wie ein unbekanntes Werk?

Wir haben uns zum Beispiel der Sinfonien und Concerti von Agrell angenommen. Das ist praktisch komplett unbekannte Musik. Es ist für Musiker von Vorteil und bereichernd, wenn man sich Repertoire widmet, das man noch nie gehört hat. Dann hat man keine Erwartungen, wie es gängigerweise gespielt wird. Ein individueller Zugang lässt sich da natürlich viel leichter finden. Auch alternative Lesarten fallen einem leichter ein, wenn man nicht vorgeprägt ist. Manchmal ist das Standardrepertoire eine schwere Bürde, die man mit sich herumschleppt, weil es einfach eine Aufführungstradition gibt. Ob man diese nun mag oder nicht – man kann sie nicht abschütteln. Man muss sich mit ihr auseinandersetzen, denn man kann nicht so tun, als wäre man der erste, der diese Stücke spielt. Das ist auch der einzige Weg, um das Standardrepertoire, die großen Meisterwerke der Vergangenheit, lebendig zu halten. Entscheidend ist, was wir mit der Musik machen möchten und können. Es ist also schon ein unterschiedlicher Prozess bei der Interpretation von Standardrepertoire gegenüber unbekannten Werken. Aber das Ziel ist immer das gleiche: Es geht darum, aus jeder Aufführung eine Premiere zu machen.

Copyright Helsinki Baroque Orchestra

Auf Ihrer neuesten Aufnahme der Cembalo-Konzerte von Bach bieten Sie auch Neues, vor allem bezüglich des Soloinstruments. Was ist daran besonders?

Es ist ein sehr großes Instrument mit einem 16-Fuß-Register, das im klassischen Cembalo-Bau ziemlich selten war. Es weicht deutlich von der franko-flämischen Bauart damaliger Cembali ab. Aber es war zu Bachs Zeit in Gebrauch, vor allem in Thüringen, aber zum Beispiel auch in Hamburg. Es war ziemlich weit verbreitet; wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Bach ein solches Instrument kannte, vor allem in der Zeit, als er die Konzerte komponierte. Wir haben zum ersten Mal ein solches Cembalo bei diesen Werken eingesetzt. In gewisser Hinsicht handelt es sich also um eine Weltpremiere. Speziell für das Konzert als Genre bringt das 16-Fuß-Register eine orchestrale Qualität ein. Ich bin überzeugt davon, dass es neue expressive Elemente in die Musik einbringt. Das ist also das offensichtlichste Merkmal unserer Bach-Einspielung. Es gibt noch ein paar andere Aspekte, wieso das Ensemble besonders klingt. Manchmal werden die Konzerte mit einem Orchester mit chorischer Streicherbesetzung aufgenommen. Heutzutage wird es aber auch oft mit solistischer Streicherbesetzung aufgeführt. So haben wir das auch gemacht. Das ist aber nun keine Seltenheit mehr.

Das Klangbild ist auch entscheidend davon bestimmt, dass Sie im Orchester keinen 16-Fuß verwenden.

Das stimmt. Wir nutzen im Orchester keinen 16-Fuß-Streicherbass. Das ist vielleicht sogar eher ein kontroverser Punkt. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass Bach in einem solchen Ensemble keinen Kontrabass hatte. Aber es ist eine sinnvolle Besetzungsmöglichkeit, zwei 8-Fuß-Streicher einzusetzen. Es bringt einen eigenen Ensembleklang hervor. Ich glaube, dass dies die angemessene Besetzung für ein Ensemble für dieses Repertoire und für diese Art des orchestralen Satzes ist. Bei unserer Aufnahme kommen also einige Detailaspekte zusammen, die das Klangbild entscheidend bestimmen: der 8-Fuß-Violone, die solistische Streicherbesetzung, das 16-Fuß-Cembalo, das Orgel-Continuo – auf diese Weise konnte man diese Stücke bislang noch nirgends hören, weder in Konzerten noch auf Aufnahmen. In unserer Aufnahme der Cembalo-Konzerte von Johann Sebastian Bach finden sich auch einige improvisatorische Elemente, etwa Veränderungen bei Da-capo-Teilen. Wir suchten nach einer Balance zwischen improvisatorischer Freiheit und logischer Rationalität. Es gibt schon Dutzende von Aufnahmen dieser Stücke. Daher ist es wichtig, einen neuen Weg zu beschreiten, etwas Individuelles anzubieten, allerdings natürlich nicht um des bloß Neuen willen, sondern weil ich zum dem Entschluss kam, dass dieses Repertoire auf diese Weise am besten zum Klingen gebracht werden kann.

Sie haben angedeutet, mit dem Helsinki Baroque Orchestra regelmäßig im Ausland zu gastieren. Welche Länder bereisen Sie häufig?

Wir spielen vor allem in Deutschland und Spanien. Wir haben zum Beispiel bei den Göttinger Händel-Festspielen, in der Kölner Philharmonie und im Berliner Konzerthaus gespielt. Im Juni treten wir bei den Händel-Festspielen Halle auf. Wir geben ein Arien-Programm zusammen mit Vesselina Kasarova. Anschließend haben wir noch zwei Konzerte in Deutschland, eines in Villingen, das andere in der Dresdener Frauenkirche. In Dresden waren wir schon mal, bei den Dresdener Musikfestspielen; aber in der Frauenkirche haben wir bislang noch nie gespielt. In letzter Zeit haben wir ziemlich viel Händel gespielt. In der Finnischen Nationaloper haben wir ‚Giulio Cesare‘ aufgeführt. Für Barockmusiker ist es von grundlegender Bedeutung, sich mit der Oper auseinanderzusetzen, viel Oper zu spielen. Das ist ein grundlegender Teil, auch unseres Repertoires.

Welche Bedeutung hat für Sie und das Ensemble das Internet?

Zuerst einmal ist es natürlich von großem Nutzen für den täglichen Nachrichtenverkehr und als Informationsmedium. Selbstverständlich haben wir eine Website und nutzen das Internet als Informationsplattform, sowohl um uns selbst als auch um unsere Zuhörer über uns und unsere Konzerte zu informieren. Das Internet ist mittlerweile von großer Bedeutung. Jeder einzelne muss versuchen, auch technisch am Ball zu bleiben.

Nutzen Sie das Internet zum Beispiel auch als Kommunikationsmedium, um mit Ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben, etwa in Form eines Tour-Tagebuchs?

Ich bin mir dessen bewusst, dass wir unterschiedliche Möglichkeiten, mit unserem Publikum zu kommunizieren, in Zukunft stärker nutzen sollten. Das Problem ist dabei, dass wir ein kleines Ensemble sind, und auch die Verwaltung ist aufs Wesentliche beschränkt; sie ist mit dem laufenden Tagesgeschäft ausgelastet. Wir haben mittlerweile sehr oft in Deutschland konzertiert. Es wäre also wichtig, auch mit den Leuten dort in Verbindung zu bleiben und sie darüber zu informieren, was wir so machen. Dabei kann das Internet natürlich sehr hilfreich sein.

Das Gespräch führte Dr. Tobias Pfleger.
(05/2012)

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