Helmuth Rilling ruht sich auf seinen wohlverdienten Lorbeeren nicht aus und fordert eine kritische Selbstbefragung und Erneuerung
"Die Sinndeutung ist die vordringliche Aufgabe des Dirigenten"
In diesem Jahr feiert Helmuth Rilling, der Grandseigneur deutscher Bach-Pflege - in der Presse nennt man ihn zuweilen den ‚Bach-Papst‘ - seinen 80. Geburtstag. Im Laufe mehrerer Jahrzehnte hat Rilling nicht nur Schallplattengeschichte geschrieben, sondern auch die Interpretationskultur, insbesondere der Werke Johann Sebastian Bachs, nachhaltig geprägt. So spielte der schwäbische Dirigent, Organist, Ensembleleiter und Hochschullehrer als erster alle geistlichen Kantaten ein und prägte mit seinem auf die theologische Aussage der Texte konzentrierten Zugang ein Interpretationsideal, das für viele zum Vorbild wurde. Mit seinen Ensembles, der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart feierte er auf der ganzen Welt Erfolge. Gleichzeitig war und ist ihm die Arbeit mit jungen Musikerinnen und Musikern seit jeher ein besonderes Anliegen. Junge Musiker können von ihm viel lernen, er sprüht selbst in gesetztem Alter noch vor geistiger Frische. klassik.com-Autor Tobias W. Pfleger verriet der Dirigent und Chorleiter, worauf es beim Musizieren vor allem ankommt, wie man Musiker motiviert und dass es in der Musik vor allem um eines geht: Veränderung.
Herr Rilling, Sie feiern in diesem Jahr Ihren 80. Geburtstag und schauen auf eine jahrzehntelange Laufbahn zurück. Wie kam es, dass Sie Musik zu Ihrem Beruf gemacht haben?
Ich komme aus einem musikalischen Elternhaus, beide Eltern waren Berufsmusiker. Mein Vater war Schulmusiker und ein guter Pianist und Organist, meine Mutter war eine Geigerin.
Auf welchen Wegen gelangten Sie dann zur Kirchenmusik? Über das Orgelspiel Ihres Vaters?
Das hat sich erst so allmählich herauskristallisiert. In einem musikalischen Elternhaus bekommt man als Kind natürlich intensiv mit, was die Eltern musikalisch machen. Das war bei mir auch so. Ich war davon sehr stark geprägt. Später bin ich in eine sehr spezielle Schule gegangen, in eines der evangelisch-theologischen Seminare, die es hier in Württemberg seit langer Zeit gibt. Dort wurde ein großer Akzent auf die Musik gelegt. Andererseits spielte natürlich in diesen Seminaren gerade der Bereich der humanistischen Bildung und auch der Theologie eine große Rolle. So hat sich dort schon eine gewisse Verbindung der beiden Bereiche Musik und Theologie eingestellt.
Wie verlief dann der weitere Ausbildungsweg?
Ich habe später dann an der Hochschule in Stuttgart Schulmusik studiert und hatte die wunderbare Chance, danach zwei Jahre in Italien Orgel zu studieren. Anschließend kam ich dann als relativ junger Mann in mein erstes Amt als Kirchenmusiker an der Gedächtniskirche in Stuttgart.
Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Ausbildung und die Lehrjahre – wen würden Sie als prägende Persönlichkeiten bezeichnen?
Natürlich gab es da immer wieder Persönlichkeiten, die mir sehr geholfen haben, mich in diesem Beruf zurechtzufinden. Auf der Orgel war damals der Organist an der St. Peters-Kirche in Rom Fernando Germani ein für mich außerordentlich wichtiger Lehrer. Dirigentisch gesehen hatte ich dann etwas später die Chance, einige Zeit bei Leonard Bernstein in New York zu studieren. Und die praktische Kirchenmusik hatte ich in Baden-Württemberg oder ganz allgemein in Deutschland ja nun ständig um mich. Ich habe vieles gehört und dadurch vieles gelernt.
Bernstein beeinflusste ja viele Dirigenten, gerade was den Umgang mit dem Orchester betrifft. Was konnten Sie aus der Begegnung mit seinem Musizieren für sich selbst mitnehmen?
Es war damals so, dass ich einfach das Bedürfnis hatte, außerhalb des deutschen Bereiches etwas zu lernen. Ich war damals in New York und habe die Arbeit beobachtet, die Bernstein mit dem New York Philharmonic Orchestra gemacht hat, auch die Probenarbeit. Mich hat dabei die völlig natürliche Art sehr beeindruckt, wie Bernstein mit den Musikern umging. Also nicht autoritär diktierend, was zu machen sei, sondern sich mit ihnen in einer beinahe freundschaftlichen Art verständigend. Das war etwas, was mir sehr lag und was ich auch in meine eigene Arbeit übernommen habe.
Wer nicht diktiert, ist darauf angewiesen, das Orchester zu motivieren. Wie schafft man es, ein Musikerkollektiv, seien es nun Sänger im Chor oder Instrumentalisten im Orchester, zu Höchstleistungen zu bringen?
Nun, zuerst einmal dadurch, dass man selbst als Dirigent das Werk, das man musiziert, wirklich genau kennt. Auch das ist etwas, was man lernen muss: nämlich dass man viel Zeit für die Vorbereitung von Proben und den daraus entstehenden Konzerten einsetzen muss. Man darf sich also nicht einfach damit zufrieden geben, dass man es schon irgendwie hinkriegen wird, sondern es kommt darauf an, dass man das Werk gut kennt. Ich habe im Laufe meines Lebens immer mehr begriffen, dass die vor einem sitzenden Musiker oder Sänger sehr gern in den Sinn eines Stücks eingeführt werden wollen.
Insider berichten oft, dass Musiker in der Regel lieber spielen und singen, anstatt Reden eines Dirigenten zuzuhören …
… nein, sie möchten gerne wissen, warum ein Komponist so und nicht anders schreibt und warum man es dementsprechend so und nicht anders interpretiert. Das habe ich ein bisschen zu einem Markenzeichen meiner Arbeit gemacht: Ich habe mir vorgenommen, in Proben auch über die Musik, die gerade musiziert wird, etwas zu sagen. Es reicht nicht, dass man ein Stück nur auf seine Schwierigkeiten hin untersucht und sagt: Dort sind wir nicht zusammen, dort ist eine schwierige Stelle, die muss geprobt werden, dort ist die Intonation nicht gut usw. Es darf nicht bei solchen Sachen allein bleiben. Ich versuche darauf hinzuweisen, was das Stück bedeutet, welchen Ausdruck und welchen Charakter es haben soll.
Sind Sie der Ansicht, dass man etwas über die Hintergründe eines Werkes wissen sollte, um die wirkliche Tiefe der Musik zu ergründen?
Das halte ich für sehr wichtig, ja. Wenn jemand einfach nur Musik hört, dann wird er von manchem angesprochen sein, aber er wird das gar nicht fassen können, was jetzt akustisch, aber auch für sein inneres Erleben auf ihn zukommt. Sich die Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken, das schien mir immer etwas besonders Interessantes, und es hat sich vielfach bestätigt, dass solche Gesprächskonzerte zu einem persönlicheren Verständnis und auch Erleben der Musik führten.
Der große Erfolg vier zeitgenössischer Passions-Kompositionen, die im Jahr 2000 in Stuttgart uraufgeführt wurden, hat seinen Grund nicht zuletzt in der intensiven Kommunikation mit dem Publikum. Ist die verbale Vermittlung also auch ein Weg, das Publikum für die unterschiedlichen Musiksprachen zeitgenössischer Komponisten zu sensibilisieren?
Ja, absolut. Mir war es immer sehr wichtig, dass ich bei der sehr starken Betonung der Werke Johann Sebastian Bachs – Bach ist gewissermaßen das Rückgrat meiner Arbeit – immer auch viel zeitgenössische Musik gemacht habe und wir Kompositionsaufträge vergeben haben. Sie haben gerade eben einen erwähnt. Das war im Bach-Jahr 2000, im 250. Todesjahr Bachs. Wir haben damals vier Kompositionsaufträge an Komponisten aus ganz verschiedenen Kulturkreisen vergeben. Die Werke wurden damals hier in Stuttgart uraufgeführt, und wir haben jeweils einen Abend vorab mit solchen Gesprächskonzert-Einführungen begonnen. Ich war sehr beeindruckt davon, dass das Publikum gerade diese Gesprächskonzerte angenommen hat und unbedingt vorher wissen wollte, weshalb ein Komponist nun so und nicht anders komponiert. Das war in diesen vier Stücken natürlich völlig verschieden und sehr beeindruckend.
Die Musik von Bach bildet das Rückgrat Ihres Schaffens, in der Presse werden Sie als ‚Bach-Papst‘ bezeichnet. Die jüngere Musikgeschichtsschreibung versucht, Bach vom Image des ‚geborenen‘ Thomaskantors zu lösen. Welche Rolle spielt in Ihren Augen die Kirchenmusik im Schaffen Bachs?
Ich denke, dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass Bach primär ein Kirchenmusiker war. Nicht nur die Vielzahl seiner für die Kirche und damit für den Gottesdienst geschriebenen Werke, sondern eben auch die außerordentliche Wichtigkeit, die die Bedeutung der Kantatentexte für Bach offensichtlich hatte, zeigt das. Dass nun ein solches Amt wie das eines Thomaskantors in diesen Zeiten nicht nur ein sehr angesehenes, sondern auch mit schwierigen Arbeitssituationen verbundenes Amt war, das wissen wir. Und unsere Bewunderung ist für Bach umso größer, da er trotz dieser Behinderungen nun so vieles an wunderbarer Musik geschrieben hat – denken wir an seine 200 geistlichen Kantaten, denken wir an die Oratorien, die Matthäuspassion, die Johannespassion, das Weihnachtsoratorium und natürlich die h-Moll-Messe.
Ist Ihnen Bach im jahrelangen intensiven Umgang mit seiner Musik nie überdrüssig geworden?
Nein, Bach kann einem nie überdrüssig werden. Ich habe in diesen Jahren, in denen wir die Kantaten für den Hänssler-Verlag zum ersten Mal aufgenommen haben, unendlich viel von Bach gelernt. Er ist ein Komponist, der so vielfältig ist, dass man wirklich erst selbst lernen muss, was er zu sagen hat, bevor man in der Lage ist, so etwas gültig auszudrücken. Das waren für mich wunderbare, arbeitsreiche, aber auch erlebnisreiche Lernjahre.
Steht für Sie Bach in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts als Solitär oder sehen Sie Bezüge zu Telemann, Händel, Graupner und anderen Komponisten der Zeit?
Wir haben sehr viel auch aus der frühbarocken Zeit gemacht, viel Schütz, Schein und Scheidt. Natürlich auch Händel und die Komponisten des Frühbarock. Es zeigte sich aber dann doch schnell, dass Bach ein Komponist ist, der gewichtiger ist als die meisten seiner Kollegen. So kam es, dass wir uns mehr und mehr Bach zugewandt haben. Obwohl ich das am Anfang aber nicht gemacht habe. Ich habe damals immer gesagt: Ach, Bach, das ist kompliziert und schwierig, da bin ich noch nicht weit genug, das will ich mir für die Zukunft zurückstellen. Die Johannespassion, die im Gründungsjahr des Bach-Collegiums Stuttgart 1965 erarbeitet wurde, war meine erste Johannespassion. Da war ich immerhin schon fast dreißig Jahre alt.
Seit vielen Jahren, mittlerweile Jahrzehnten wird die Musik Bachs meist auf historischen Instrumenten aufgeführt. War es für Sie nie von Interesse, Bach unter den Vorzeichen seiner eigenen Zeit und mit den gängigen Klangmitteln seiner Zeit zu deuten?
Ich halte es für eine geradezu selbstverständliche Voraussetzung, dass sich jeder, der an seine Werke heutzutage herangeht, über die Aufführungspraxis der Bach-Zeit – die Frage, wie Bach das wohl selbst gemacht hat –, so gut es überhaupt möglich ist, informiert. Und tatsächlich ist es so, dass wir heute nun schon seit etlichen Jahren viel mehr über die Aufführungspraxis der Bach-Zeit wissen als das früher der Fall war. Dennoch ist für mich die Wiederherstellung eines historischen Klangbildes nicht das Primäre in der Darbietung seiner Werke. Das Primäre ist für mich immer, zum Ausdruck zu bringen und hörbar zu machen, was der Komponist mit seiner Musik wollte. Es geht mir um die Frage der Sinndeutung: Was will er sagen? Womit will er seine Hörer befassen? Wohin will er sie lenken? Diese Frage, diese Aufgabenstellung ist mir wichtiger als die Rekonstruktion eines Klangbildes, wie es vor ein paar hundert Jahren einmal entstanden sein mag.
Entscheidend sind für Sie also nicht unbedingt die Mittel, sondern die Tiefe der Musik und ihr Sinn?
Genau. Das hat natürlich sehr viel Auswirkungen auf alles Mögliche, nicht nur auf die Instrumente und Stimmen, die man einsetzt – Frauenstimmen statt Knaben –, sondern auch auf Fragen des Tempos, der Artikulation und der Dynamik. Das sind ja gerade die Bereiche, in denen man eine Musik verändern kann. Und das nun für eine Sinndeutung einzusetzen, das scheint mir die vordringliche Aufgabe eines Dirigenten zu sein.
Wie hat sich Ihr musikalischer Zugang zu Bach oder auch zu anderen Komponisten im Laufe der Zeit verändert?
Meine Sicht auf das Werk Bachs konnte erst mit viel Erfahrung zu dem Aufführungsstil führen, der typisch für mich ist. Wenn ich heute zurückblicke auf viele Aufnahmen, die ich früher gemacht habe, dann hatte ich damals diese Erfahrung noch nicht. Ich meine, dass eine Wiedergabe Bachscher Werke (aber nicht nur dieser), eigentlich jedes Mal wieder anders aussehen muss. Man darf nicht sagen: Vor einem halben Jahr haben wir eine wunderbare Aufführung der h-Moll-Messe gemacht, hoffentlich wird sie jetzt wieder so gut. Sondern man muss immer neu nachdenken über alle Details, über Fragen der Dynamik, der Artikulation, der Tempi und vieles andere, und muss neue Wege finden, das jetzt aktuell zu machen. Bei einem Konzert – natürlich nicht nur mit Bachschen Werken – muss immer etwas dem Jetzt verpflichtet sein, etwas Neues sein. Man darf sich nicht wiederholen.
Es gibt also keine Idealinterpretation, die losgelöst von ihren Entstehungsbedingungen absolut und überzeitlich gültig wäre?
Nein, Musik ist kein Museumsstück, das man immer wieder mal hervorholt, sondern etwas jetzt Lebendiges.
Hören Sie Ihre eigenen Aufnahmen an, wenn Sie sich einem Stück nach längerer Zeit wieder zuwenden?
Der Zugang geschieht bei mir immer mit der Partitur. Aufnahmen brauche ich nicht zu hören, denn ich kann mir die Musik ja aus der Partitur vorstellen. Und hieran immer wieder neu zu arbeiten ist mir sehr wichtig.
Sie haben Bachs Musik in aller Welt aufgeführt. Inwiefern unterscheiden sich die Reaktionen in den unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen?
Das ist natürlich sehr verschieden und hängt davon ab, mit welchen Voraussetzungen Menschen in anderen Ländern auf Bachs Musik stoßen. Nehmen wir europäische Länder: Da kann man noch voraussetzen, dass Bezüge zum Christentum deutlich da sind und das Wissen der Menschen über die Texte und die Theologie des Bachschen Werks noch vorhanden ist. Das ist natürlich etwa in asiatischen Ländern – wir waren in China, Japan, Korea und anderen Ländern – ganz unterschiedlich. Das Besondere scheint mir, dass die Menschen zunächst auch völlig unabhängig von einem vorhandenen Wissen über theologische Bezüge von der Musik Bachs beeindruckt sind. Bevor man irgendetwas erklärt hat, finden sie einfach diese Musik schön, vor allem junge Menschen. Gerade junge Menschen sind hier in einer Weise enthusiastisch – das fand ich immer etwas ganz besonders Schönes.
Wie wichtig ist Ihnen die Arbeit mit jungen Musikern?
Die Arbeit mit jungen Leuten ist mir sehr, sehr wichtig. Ich habe sie immer, während meines ganzen Lebens, betont und versucht, Möglichkeiten für junge Leute zu schaffen, die Musik, die ich vertrete, zu erleben. Wir hatten vor Kurzem eine Bachwoche in Stuttgart, deren Thema die Matthäuspassion war. Da haben wir ungefähr hundert junge Leute aus der ganzen Welt hier zusammengezogen. Wir haben zwei Wochen lang an der Matthäuspassion gearbeitet, haben sie dann in Gesprächskonzerten hier vorgestellt, und die Gesprächskonzerte haben natürlich auch dazu gedient, gerade diesen jungen Leuten selbst bewusst zu machen, was Bach in diesem großartigen Werk auszudrücken versucht. Danach sind wir auf Tournee gegangen. Die jungen Leute haben das mit großem Enthusiasmus, Freude und Begeisterung gemacht – wunderbar!
Es ist zuweilen die Rede davon, dass junge Musiker technisch immer besser werden, aber die inhaltliche Seite der Musik zu kurz komme. Stellen Sie in Ihrer Arbeit ähnliche Entwicklungen fest?
Nein, das stimmt überhaupt nicht. Gerade die jungen Leute sind in besonderer Weise an der Sinnfrage interessiert. Nicht die Fragen, welche Fingersätze sie spielen sollen, wann ohne Vibrato und wann mit, sind die wirklich entscheidenden in Proben, sondern: Was bedeutet das? Das ist es, was die jungen Musiker wissen wollen, gerade bei Menschen aus Ländern, in denen solche Fragen nicht an der Tagesordnung sind. Wir hatten einen Kursteilnehmer, einen Sänger aus Sri Lanka, und man kann sich vorstellen, dass dort andere Fragen den Tagesablauf bestimmen als solche. Aber gerade er war einer, der am interessiertesten war.
Gehen wir von der sängerischen Jugend von heute in Ihre Anfangsjahre zurück. Wie kam es damals zur Gründung der Gächinger Kantorei?
Das war eigentlich eine Studentenerfindung von mir. Ich ging damals mit meinen Mitstudenten und anderen jungen Leuten in das kleine Landhaus von Freunden meiner Eltern; das war in Gächingen auf der Schwäbischen Alb. Dort haben wir als junge Leute mit Spaß und Freude musiziert, eigentlich ohne die Absicht, einen Chor zu gründen. Das ergab sich dann so allmählich, weil wir das immer wieder gemacht haben. Es war eine sehr schöne Zeit für uns alle, uns zum ersten Mal so richtig verantwortungsvoll mit Musik zu befassen.
Erfolgte die Gründung des Ensembles auch mit dem Ziel, eigene Dirigiererfahrung zu gewinnen?
Das ergab sich dabei, aber ich war damals nicht der einzige Dirigent. Es war eine Gruppe begabter junger Leute, dort gab es wunderbare Musiker und neben mir auch andere, die dirigiert haben.
Ihre Tätigkeit fällt in die goldenen Jahre des Tonträgermarktes. Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Entwicklungen der Aufnahmeindustrie, die davon gekennzeichnet ist, dass neben den Vertriebswegen übers Internet Musik immer mehr zu einer virtuellen Ware wird?
Dazu kann ich eigentlich nicht so viel sagen. Ich freue mich natürlich, dass wir die Dinge in früheren Jahren festhalten konnten. Heute ist die Verbreitungsmöglichkeit ja so unendlich vielfältig, dass man diese Art des Festhaltens von Musik, die man einmal aufgenommen hat, in gewisser Weise nicht mehr braucht. Wie sich das weiterentwickeln wird, das möchte ich nicht prognostizieren.
Neben den Vertriebsmöglichkeiten ist auch die Berichterstattung über Musik im Internet vielfältig…
… natürlich hat ein Musikjournalist in diesem Medium ein viel breiteres Forum als das früher Zeitungen, Zeitschriften oder Radiosender gehabt haben. Das finde ich ganz wunderbar, weil auf diese Weise etwa die Musik, die ich vertrete, ein viel breiteres Spektrum an Menschen erreicht. Es liegt aber natürlich auch eine große Verantwortung darin, so etwas mit Kenntnis zu machen. Wenn das gut gemacht ist, wie bei klassik.com, gilt dem meine große Bewunderung.
Welche Rolle spielen denn die Möglichkeiten des Internets für Sie persönlich?
Für mich persönlich eher wenig. Ich bin da immer von meinen Kindern abhängig, die bei mir im Orchester mit musizieren und mich dann immer über das Neueste informieren. Selbst bin ich kein „Internetmensch“.
Auf Ihrer Website ist eines der letzten Gesprächskonzerte als Video hinterlegt. Dient das eher der Dokumentation oder der Erweiterung der Zuhörerschaft über das bei dem Konzert anwesende Publikum hinaus?
Natürlich ist letzteres das Ziel. Das Gesprächskonzert war davon allerdings in keiner Weise beeinflusst. Ich habe das einfach live so gemacht, ganz ohne nachträgliche Bearbeitung oder Nachaufnahmen. Ich finde so etwas sehr schön, wenn etwas aus dem ganz normalen Ablauf heraus entsteht und dann auch dessen Lebendigkeit besitzt.
Sind Sie noch genauso neugierig auf Musik wie früher?
Aber natürlich! Gerade jetzt haben wir wieder ein neues Stück in Auftrag gegeben. Der Komponist Wolfgang Rihm hat für mich ein neues Stück geschrieben, das wir vor Kurzem uraufgeführt haben, ein Stück für Chor und Orchester nach einem Text des romantischen Dichters Novalis mit dem Titel ‚Stille Feste‘. Rihm hat ein sehr sicheres Gespür für die Texte, die er vertonen möchte. Das ist ein etwa halbstündiges Stück, das uns sehr viel Arbeit gemacht hat bei der Einstudierung, eine völlig neue Musik. Der Komponist selbst war bei den Proben und auch beim Konzert da. Das war für mich eine ganz spannende Aufgabe, mich etwas ganz Neuem zu stellen und es dann herauszubringen. Die Aufführung hat große Freude gemacht, auch das Publikum war deutlich beeindruckt.
In Deutschland gibt es die Tendenz, aufgrund allgemeiner Verunsicherung und fehlenden Vertrauens zu den derzeit Agierenden und Regierenden dem Wort von ‚elder statesmen‘ großes Gewicht beizumessen. Gibt es von Ihnen als ‚elder statesman‘ der Musik einen Rat für die jüngere Generation?
Ich blicke mit großer Dankbarkeit auf die vielen Möglichkeiten, die ich in meinem Leben hatte. Ich möchte dazu ermuntern, immer wieder auch unbekannte, neue Wege zu gehen, nie starr an etwas festzuhalten, was man glaubt richtig erkannt zu haben, sondern es immer wieder zu verändern und vor allem junge Menschen in die Musik hineinzuführen, auf einem Weg, der einem bedeutsam scheint – das sollte für jeden Musiker eine große und schöne Aufgabe sein.
Das Gespräch führte Dr. Tobias Pfleger.
(05/2013)
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