Die beiden Märchenliebhaber Gabriele Nellessen und Heike Hanefeld über die reizvolle Herausforderung einer Oper für Kinder.
"Die Schulpolitik wälzt ihre Verantwortung auf die Orchester und Opernhäuser ab"
Am 13. Dezember hat im kleinen Saal des Konzerthauses Berlin die Oper 'Dornröschen', des italienischen Komponisten Ottorino Respighi (1879-1936) Premiere. Das Stück richtet sich an Kinder ab sechs Jahren. Thomas Vitzthum nahm die Gelegenheit zum Anlass, um mit der Dramaturgin Gabriele Nellessen und der Regisseurin Heike Hanefeld über das reizende Stück, Fehler und Chancen der Musikvermittlung und den Traum einer Berliner Kinderoper zu sprechen.
Wer hat Ihnen als Kind das Märchen vom Dornröschen vorgelesen?
Gabriele Nellessen: Mir wurde es gar nicht vorgelesen. Aber meine Mutter hat mir Märchenbücher gekauft und als ich endlich lesen konnte, habe ich sie alle immer wieder verschlungen. Durch die Märchen bin ich zur Leseratte geworden.
Heike Hanefeld: Ich erinnere mich an ein Dornröschen-Buch, das ich als Kind unheimlich geliebt habe. Alle Figuren waren darin etwas überzeichnet, es war einfach sehr lustig illustriert. Mit diesem Buch hat dann auch meine Tochter, die inzwischen 20 ist, Dornröschen kennen gelernt.
Ist Dornröschen für Sie das Märchen schlechthin?
Hanefeld: Ich denke schon. Viele Elemente des Märchens tauchen als Motiv in unserer Kultur immer wieder auf, die Prinzessin, der Prinz, der Dornröschen-Schlaf, das Schloss. Diese Elemente beflügeln nicht nur unsere Fantasie, auch viele Künstler haben sich damit immer wieder auseinander gesetzt. Denken Sie an das Ballett von Tschaikowsky, die Filme der Defa, die tschechischen Märchenfilme, die Verfilmung von Walt Disney. Dornröschen ist ein zentrales internationales Kulturgut, höchstens vergleichbar mit Aschenputtel.
Ottorino Respighi hat seine Oper nicht Dornröschen genannt, sondern 'Die schlafende Schöne im Wald'.
Hanefeld: Wir haben uns die Freiheit genommen, das Stück dennoch als Dornröschen anzukündigen. Damit können die Menschen mehr anfangen. Respighi hat sich nicht auf die Grimmschen Hausmärchen bezogen, sondern auf die ältere Fassung von Charles Perrault.
Nellessen: Bei Perrault gibt es gar keinen Rosenstrauch, wohl aber große und kleine Bäume und Stachel- und Dornensträucher, die alles für hundert Jahre zuwuchern. Respighis Librettist hat sich dagegen eine Spinne einfallen lassen, die ihr Netz über das Königreich legt. Es liegt in der Natur dieses Märchens, dass es immer wieder neu und anders erzählt wurde. In einer noch früheren italienischen Version, küsst der Prinz die Prinzessin nicht wach, sondern schwängert sie im Schlaf. Sie wacht schließlich auf, weil ihr eines der beiden Kinder, die sie schlafend zur Welt bringt, am Finger saugt und den Dorn der Spindel herauszieht. Das ist sicher kein Stoff für Kinder, sondern eine erotische Geschichte für Erwachsene.
Wendet sich Respighi denn stärker an Kinder oder Erwachsene?
Nellessen: Das Stück ist zu Beginn der 20er-Jahre für ein Marionetten-Theater in Rom entstanden, das Teatro dei Piccoli. Das war ein Haus für Familien mit Kindern. Es gab keine Darsteller, sondern auf der Bühne agierten Marionetten. Eine Art Augsburger-Puppenkiste war es aber dennoch nicht, es ging vielmehr darum, dem traditionellen Bühnen-Realismus zu entkommen. Deshalb tauchen in Respighis Werk auch viele Elemente auf, die sich dezidiert an Erwachsene richten. Für unsere Version haben wir teilweise auf sie verzichtet. Respighi hat etwa Musik der 20er-Jahre eingebaut, einen Foxtrott zum Beispiel für den Auftritt eines gewissen Mr. Dollar. Damals war das sicher sehr witzig, aber heute versteht das keiner mehr.
Hanefeld: Respighi hat aber sicher auch an Kinder gedacht, indem er Frösche, Kuckuck und Nachtigall eingebaut hat. Daran werden Kinder Spaß haben. Vor allem im Finale mussten wir aber Hand anlegen. Ich bin zwar der Meinung, dass man den Intentionen eines Komponisten und Librettisten nachspüren sollte. Doch wenn Dinge dem Werk und seinem Verständnis schaden, dann habe ich kein Problem damit, etwas zu ändern.
Nellessen: Ich bin zwar eine hartgesottene Musikwissenschaftlerin, aber ich habe durchaus gelernt, dass man einmal eine Reprise wegstreichen kann (lacht). Respighi sieht wieder einen Foxtrott als Finale vor, zuvor gibt es ein großes Liebesduett zwischen Prinz und Prinzessin. Bei so viel Herzschmerz würden Kinder anfangen, nervös auf dem Stuhl hin- und herzurutschen. Deshalb haben wir das alles stark verändert. Respighi gehören aber natürlich die letzten Töne, wir haben uns für ein Tanzfinale entschieden, der Tarantella aus Respighis 'Rossiniana-Suite'.
Respighis Prinzessin muss 300 Jahre schlafen, bis sie in seiner Zeit erweckt wird. War dieser Zeitsprung nicht Anlass, das Werk zu aktualisieren?
Hanefeld: Ja und Nein. In einer solchen Kinderoper ist es erst einmal wichtig, dass die Erwartungshaltungen von Kindern erfüllt werden. Deshalb gibt es eine Prinzessin mit einem Krönchen. Es darf nur nicht zu kitschig werden, aber die Märchenwelt soll nicht ironisch gebrochen werden. Damit würde man Kindern den Zugang verbauen. Aber den Prinzen sehe ich durchaus als Typ unserer Zeit, damit folgen wir Respighis Absichten. In der finalen Tarantella wird es Anspielungen auf heutige Tanz-Bewegungen geben.
Und die Marionetten, für die das Stück einmal entstanden ist, spielen die eine Rolle?
Nellessen: Ja. Zu Beginn des Stücks singen Kuckuck, Nachtigall und Frösche. Im Gegensatz zu den Fröschen haben wir die Vögel nicht personifiziert. Die Sängerinnen bleiben im Off und die Vögel werden als eine Art Marionette dargestellt. Respighis impressionistisch angehauchte, poetische Musik und die Szene soll gleich Märchen-Atmosphäre erzeugen.
Hanefeld: Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass auf der winzigen Bühne des Kleinen Saals im Konzerthaus gleich zwei Sängerinnen mit Vogelkostümen auftreten. Ihre Partien sind auch nicht klein, aus dem Off klingt das nicht so überrumpelnd. Mit dem Auftritt der Darsteller der Frösche, auf den ich mich jetzt schon freue, wird dann ein humoriger Kontrapunkt gesetzt.
Brauchen wir eigentlich so etwas wie Kinderoper überhaupt? Können Kinder nicht alles hören?
Hanefeld: Im Prinzip ja. Ich habe als Kind ständig Opern gehört, lange bevor ich mit Rockmusik in Berührung gekommen bin. Auch meine Tochter habe ich in fast jedes Stück mitgenommen. Wenn der Babysitter absagte, dann auch mal in eine moderne Oper. Bei ihr hat mein Engagement funktioniert, sie studiert heute Musikwissenschaft. Kinder sollte man nicht unterschätzen. Die meisten Opern überfordern natürlich Kinder, die als normales visuelles Medium das Fernsehen gewohnt sind. Deshalb dauern unsere Stücke meist etwa eine Stunde.
Nellessen: Kinder sind sehr offen, aber ich bin der Meinung, dass Kinder nicht in jede Oper gehen sollten. In unserer Arbeit geht es nicht darum, Stücke, die für Erwachsene geschrieben und angelegt sind, für Kinder verdaulich zu machen. Mit dem Projekt „Junior“ am Konzerthaus Berlin leisten wir uns den Luxus, Stücke zu entwickeln, die für Kinder konzipiert sind. Deshalb haben wir Respighis Libretto auch neu ins Deutsche übersetzen lassen und an unser Konzept angepasst.
Trägt die Arbeit Früchte?
Nellessen: Ja, es gibt uns jetzt seit vielen Jahren und ich erhalte ganz oft Briefe von Kindern, Schulklassen oder Lehrern, die wirklich von prägenden Erlebnissen berichten. Wir können etwa für Grundschulen gar nicht so viele Termine anbieten, wie nachgefragt werden.
Ist der Schulpolitik nicht vorzuwerfen, dass sie die Musikerziehung mittlerweile Institutionen wie Orchestern und Opernhäusern überlässt?
Nellessen: Absolut. Die Schulpolitik wälzt ihre Verantwortung auf die Orchester und Opernhäuser ab. In den Schulen gibt es kaum noch Musikunterricht, oft nur eine Stunde in der Woche. Es ist doch verständlich, dass engagierte Lehrer sich dann bemühen, ihren Schülern irgendwie die Liebe zur Musik nahe zu bringen. Diesen Bedarf decken wir ein Stück weit, wir und alle anderen Orchester und Opernhäuser. Wir müssen das natürlich auch aus einem Motiv der Selbsterhaltung heraus tun. Aber ich fürchte, dass all unser Einsatz die Defizite, die durch die Nicht-Beschäftigung mit Musik entstehen, nicht ausgleichen kann. Dabei belegen Studien immer wieder, wie sehr Musik und Musikmachen die kognitiven und sozialen Fähigkeiten von Kindern entwickeln hilft. Doch diese Erkenntnis scheint im Schulsystem überhaupt nicht angekommen zu sein. Im Gegenteil.
In Ihren Stücken sitzen hauptsächlich Kinder bildungsbewusster Eltern. Wie erreichen Sie die Kinder aus Problem-Vierteln?
Nellessen: Es gibt eine Veranstaltung am Vormittag für Schulklassen. Darunter werden natürlich auch etliche Kinder sein, die noch nie mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind. Und dann gibt es eigens eine Benefizveranstaltung für sozial benachteiligte Kinder. Bei allen anderen Aufführungen weiß ich irgendwann, wann die Lacher kommen, wann der Applaus, wann die Schluchzer. Aber in dieser Aufführung ist alles anderes. Denn die Kinder sind nicht konditioniert, es gibt überhaupt keine musikalische Vorbildung, oft kennen die Kinder nicht einmal Märchen. Es herrscht natürlich ein höherer Geräuschpegel, weil sich die Kinder von dem, was sie sehen, unglaublich mitreißen lassen. Logisch, dass der ein oder andere sich da mit seinem Nachbarn austauschen will. Ich wünsche mir, dass das Konzerthaus mehr Kapazitäten schaffen würde, sprich mehr Geld bereit stellt, damit wir noch zwei Vormittagsveranstaltungen zusätzlich anbieten können. Für Dornröschen muss ich mittlerweile schon Karten für die Generalprobe drucken lassen.
Wo finden Sie Ihre Stücke?
Nellessen: Das ist tatsächlich sehr schwer. Denn spezielle Kinderopern wurden eigentlich erst im 20. Jahrhundert geschrieben. Ein Stück wie Hänsel und Gretel von Humperdinck ist eigentlich auch ein Werk, dessen musikalischer Anspruch sich an Erwachsene richtet. Ich kann ihnen gar nicht sagen, was ich schon alles gesichtet, gehört und gelesen habe, um immer wieder ein gutes Stück, wie Respighis Dornröschen zu finden. Ich freue mich über jede Anregung.
In Köln gibt es eine Kinderoper. Würden Sie eine Kinderoper in Berlin leiten wollen?
Hanefeld: Das wäre ein Traum von mir. Die Arbeit für Kinder macht mir riesigen Spaß. Kinder reagieren unmittelbar, das ist einfach toll. Hochtrabend formuliert sehe ich auch meine Mission darin, mitzuhelfen, dass Kinder klassische Musik mit allen Sinnen erleben können. Ich bedauere es sehr, dass viele Kinder nur noch in einer Welt mit Fernsehen und Computer aufwachsen und klassische Live-Musik nicht mehr kennen.
Nellessen: An den Berliner Opernhäusern gibt es bereits Kinderprogramme. An der Komischen Oper werden auch aufwendige Kinderopern produziert. Es geschieht also etwas. Natürlich wäre es schön, wenn sich diese Kräfte bündeln ließen und eine Kinderoper in Berlin entstehen könnte.
Das Gespräch führte Dr. Thomas Vitzthum.
(12/2008)
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