Gerhard Oppitz feiert seinen 60. Geburtstag
Phantastisch sachlich
Gerhard Oppitz gilt vielen als letzter Vertreter der deutschen Klaviertradition. Er bewältigt das Kernrepertoire zwischen Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms zyklisch und enzyklopädisch. Zumal in Japan ist er ein Star, Sprache und Kultur dieses Landes sind ihm wie wenigen vertraut. klassik.com-Autor Daniel Krause befragte Gerhard Oppitz vor dessen 60. Geburtstag am 5. Februar 2013 über Japan, den „deutschen Klang“ und die Seele des Klaviers, über Bösendorfer und Steinway, Red Bull und Carlo Maria Giulini.
Herr Prof. Oppitz, kaum ein anderer westlicher Musiker von Rang unterhält eine so enge Beziehung zu Japan, dessen Sprache, Musik und Kultur. Sie haben, beinahe als einziger, Werke japanischer Komponisten aufgenommen. Warum interessiert sich Europa fast gar nicht für Japan? Warum bringt Japan für europäische Musik solche Begeisterung auf?
Das Interesse an westlicher Musik ist nicht erst nach 1945 erwacht, sondern hundert Jahre zuvor. Damals hat sich Japan, das jahrhundertelang abgeschottet gewesen war, unter amerikanischem Druck für das Ausland geöffnet. Ich glaube, es gab einen gewaltigen Nachholbedarf, auch in der Musik. Wie ein Schwamm hat Japan westliche Einflüsse aufgesogen. Vom urtümlichen Japan ist daher nicht mehr viel übrig. Ab und zu gelingt es mir, außerhalb der Städte einen Eindruck davon zu gewinnen, wie Japan ausgesehen haben mag, bevor die Öffnung erfolgt ist. Ich genieße diese Einblicke sehr. Andererseits bewundere ich die Fähigkeit der Japaner, exotische Musik mit Leidenschaft und Verständnis zu durchdringen. Ihre Neugier und Kraft der Anverwandlung ist enorm. Wir Europäer haben dem wenig entgegenzusetzen. Immerhin scheinen europäische Komponisten wie Bach und Beethoven universelle Strahlkraft zu entfalten und über Zeit und Raum hinweg auf Menschen, egal welcher Prägung, einzuwirken.
Darf man hoffen, dass es in Japan unentdeckte Beethovens gibt, Komponisten von vergleichbarer Statur?
In Japan hat bereits in der Beethoven-Zeit eine hochentwickelte höfische Musikkultur bestanden. Die Komponisten traten aber nicht als Individuen hervor. Die Idee musikalischer Individualität hat es überhaupt nicht gegeben. Namentlich bekannte Komponisten finden sich erst im 20. Jahrhundert und unter westlichem Einfluss. Ihre Musik ist daher im guten Sinne eklektisch. Sie verschmilzt europäische und japanische Traditionen. Das gilt zum Beispiel für Saburo Moroi. Ich konnte seine lang vergessene zweite Klaviersonate mit Hilfe eines japanischen Musikliebhabers wieder zugänglich machen. Hier ist der Einfluss Paul Hindemiths unüberhörbar. Ich hoffe, beide Klavierkonzerte Morois in näherer Zukunft aufnehmen zu können.
Sie sind häufig vor japanischem Publikum aufgetreten - wie hören Japaner?
Mich berührt, wie Japaner zuhören. Ihre Ruhe und Andacht schenkt mir tiefere Befriedigung als die Intensität des Beifalls. Dieser kann auch in Japan enthusiastisch ausfallen - nach dem Konzert, nicht während des Programms, zwischen den einzelnen Werken. Hier halten sich die Japaner höflich zurück, um die Sammlung und Konzentration des Interpreten nicht zu stören. Diese Bereitschaft, eigene Gefühlsregungen zurückzuhalten, ist charakteristisch für die japanische Kultur. Selbst nach der Atomkatastrophe von Fukushima war eine Contenance und Selbstbeherrschung erkennbar, die einem in Europa selten begegnet. Tatsächlich wird das persönliche Ausdrucksbedürfnis durch das japanische Schulwesen eher zurückgedrängt. Schon in Korea und China dagegen verhält es sich anders. Dort scheut man sich nicht, eigenen Befindlichkeiten Gehör zu verschaffen.
Nach einem Ihrer Brahms-Abende beim Tanglewood-Festival 2012 hat ein Rezensent folgende Feststellung getroffen: „Herr Oppitz’s [sic] playing is notably lacking in one quality: ego.“ Versuchen Sie, von persönlichen Befindlichkeiten und Bedürfnissen abzusehen?
Das ist in der Tat wesentlich. Auf dem Podium möchte ich hinter dem Werk zurücktreten. Es sollte nicht darum gehen, virtuose Fertigkeiten oder emotionale Befindlichkeiten ins Rampenlicht zu stellen. Ich verstehe mich als Sachverwalter des Komponisten. Diese Grundhaltung nehme ich auch bei meinen pianistischen Vorbildern wahr. Wilhelm Kempff, Claudio Arrau oder Rudolf Serkin ist es nie um Selbstdarstellung gegangen. Wenn es eine „deutsche Klavierschule“ gibt, dann ist sie durch Sachlichkeit und Werktreue bestimmt – die ebenso gut als japanische Eigenart durchgehen können, denn die Fähigkeit, sich zurückzunehmen und in den Dienst einer größeren Sache zu stellen, nicht Gewissheiten herauszuposaunen, sondern zuzuhören und Fragen zu stellen, zeichnet die japanische Kultur aus. Die Fähigkeit zur inneren Sammlung verleiht dem Naturerleben der Japaner besondere Intensität, und dieses kann das musikalische Erleben schärfen. Hier ergeben sich unvermutete Zusammenhänge. Ich bin im Bayerischen Wald aufgewachsen, fernab der Städte. Je mehr ich mich, seit vierzig Jahren, auf Japan, dessen Musik, Malerei und Literatur, einlasse, desto eher kann ich zum Naturerleben meiner Kindheit zurückfinden – und zu Komponisten wie Beethovens und Brahms, die von der Natur inspiriert worden sind.
Herr Prof. Oppitz, Sie haben von Ihrer Herkunft gesprochen. Oft werden Sie für die „deutsche“ Musiktradition in Anspruch genommen - ohne dass klar wäre, was damit gemeint ist. Gibt es einen besonderen deutschen Klangstil, eine besondere Weise des Musizierens? Sie haben beispielsweise die Beethoven-Konzerte mit dem Gewandhausorchester Leipzig aufgenommen, das häufig für „deutschen Klang“ reklamiert wird.
Es liegt auf der Hand, dass die Muttersprache Artikulation und Phrasierung beeinflusst. Die Wiener Philharmoniker phrasieren, entsprechend ihrer Mundart, geschmeidiger, weniger kantig und gerade, als norddeutsche Orchester. Andererseits können gute Dirigenten einem guten Orchester fast jeden Klang entlocken. Japanische Orchester können Brahms ähnlich brahmsisch erklingen lassen wie deutsche und österreichische. Wenn Carlo Maria Giulini das Chicago Symphony Orchestra dirigiert hat, eine Woche danach Georg Solti, hätte man nicht glauben mögen, dasselbe Orchester zu hören.
Mit Solti klang es nach Red Bull. Giulini ließ den Klang strömen.
Gewissermaßen. Was im Speziellen „deutschen Orchesterklang“ betrifft, so dürften die meisten, die diesen Ausdruck gebrauchen, Furtwänglers Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern im Ohr haben. Sie zeichnen sich durch ein kräftiges Bassfundament aus und durch Klangfülle mit hoher Durchsichtigkeit, die von der ‚deutschen Orchesteraufstellung‘ mit geteilten hohen Streichern begünstigt wird. Auch eine durchlässige Agogik, dichtes Sostenuto und der „sinfonische“ Blick auf das Ganze der Form zeichnen Furtwänglers Musizieren aus. Ich glaube übrigens, dass Carlo Maria Giulini, den ich verehre, viele als ‚deutsch‘ apostrophierte Tugenden des Musizierens in sich vereinigt hat. Darüber hinaus war ihm eine besondere Noblesse und Kultiviertheit eigen, im Leben wie in der Musik. Heftige Akzente, schroffe Kontraste, klangliche Individualität und einfallsreiche Interpretationen – so etwas hatte Giulini nicht nötig. Er war bereit und fähig, sich zurückzunehmen und der Musik Raum zu geben. Ich durfte die beiden Brahms-Konzerte mit diesem Dirigenten aufführen – unvergessliche Erlebnisse, die mich geprägt und mit Dankbarkeit erfüllt haben.
Herr Prof. Oppitz, Sie haben über „deutschen“ Orchesterklang gesprochen – und einen Italiener als Beispiel und Vorbild genannt. Wie verhält es sich mit deutschen Klavieren? Ihr Lehrer Wilhelm Kempff hat Bechstein bevorzugt. Viele andere seiner Generation haben Bösendorfer oder Blüthner gespielt, gewiss nicht Steinway. Ist der Klang der Alten durch die klangliche Globalisierung verloren gegangen? Lässt sich Kempffs Palette auf einem Steinway nachbilden?
Wilhelm Kempff konnte das. In späten Jahren hat er viele Konzerte auf Steinway gespielt und ähnliche Klänge erzeugt wie zuvor mit Bechstein oder anderen europäischen Marken. Dass deutsche Firmen, die vor dem Zweiten Weltkrieg den Weltmarkt für Flügel beherrscht haben, nach 1945 verfallen sind, ist politischen Umständen geschuldet. Teilweise hat die klangliche Qualität gelitten, sodass es auch unter musikalischem Aspekt wenige Alternativen zu Steinway gegeben hat. Ein anderer Fall ist Bösendorfer. Einige dieser Instrumente klingen human, romantisch, gesanglich, im Diskant glockenhaft rein, vor allem solche, die zwischen den sechziger und achtziger Jahren hergestellt wurden. Ich habe mich Ende der achtziger Jahre in einen Bösendorfer Imperial geradezu verliebt. Dieses Instrument habe ich für meinen Brahms-Zyklus, aber auch für die Liszt-Konzerte und Schumann verwendet. Wenn ich es recht sehe, hat Bösendorfer seit den späten neunziger Jahren versucht, seine klangliche Charakteristik Steinway anzunähern – eine Entwicklung, die man in jüngster Zeit zu korrigieren versucht. Mit den Flügeln dieser Jahre kann ich mich nicht anfreunden. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Klaviere so wandelbar sind wie Orchester. Entscheidend ist die Klangvorstellung des Pianisten. Wenn musikalische Phantasie und pianistische Technik vorhanden sind, lassen sich jedem Flügel, gleich welcher Marke, verschiedenartige Klänge entlocken. Es kann eine Herausforderung und Bereicherung sein, auf unterschiedliche Flügel und Säle - und deren besondere Probleme - reagieren zu müssen.
Da Sie auf Säle zu sprechen kommen - Sie nehmen häufig im Reitstadel Neumarkt auf, einem kleinen Konzertsaal im Norden Bayerns. Ist dies die ideale Aufnahmestätte?
Der Reitstadel kommt meinem Ideal nahe. Auch die Platte sollte ein natürliches Klangbild transportieren, sodass der Hörer räumliche Gegebenheiten des Saals zumindest erahnt und sich von Klang eingehüllt fühlt. Er soll das Gefühl haben, in der Mitte des Saals, nicht über, unter oder im Flügel zu sitzen. Daran arbeite ich, gemeinsam mit Toningenieuren. Eine synthetische, künstlich bereinigte Studioakustik ohne Nachhall und Leben ist nicht nach meinem Geschmack.
Das vergleichsweise reiche, großzügige Klangbild Ihrer Platten kommt auch durch den Einsatz des rechten Pedals zustande. Sie gehören nicht zu jenen Pianisten, die den Pedalgebrauch im Namen der Transparenz auf ein Minimum beschränken.
Das Pedal ist ein unschätzbares Werkzeug der Klangregie. Artur Rubinstein hat treffend gesagt, es sei die Seele des Klaviers. Wenn man auf dieses Mittel verzichtet, lässt sich die perkussive Charakteristik des Flügels kaum überspielen, denn im Grunde ist das Klavier ein Schlaginstrument. Dass wir im Deutschen von „Anschlag“ sprechen, ist kein Zufall. Meine Erfahrung nach dreißigjähriger Lehrtätigkeit ist, dass fein unterscheidende, zivilisierte Anschlagskultur nicht lehrbar und lernbar ist. Die Sensibilität für Klang ist kaum zu trainieren. Es geht um innere Kultur und Gefasstheit, um Sammlung und Dezenz, jene Eigenschaften, die wir im Zusammenhang Japans angesprochen haben.
Sie haben über Hall und Räumlichkeit gesprochen und über das Pedal als „Seele des Klaviers“. Ein weiteres Merkmal Ihres Klavierspiels liegt in der ungewöhnlich präsenten Basslinie. Es ist nicht ihr Ehrgeiz, schöne, ausdrucksvolle Melodien zu spielen, während die Nebenstimmen zu Notengeröll degradiert werden.
Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Die harmonische Struktur ist das Primäre. Alles weitere, auch die Melodik, leitet sich daraus ab. Deswegen muss das akkordische Fundament so deutlich wie möglich artikuliert werden. Die Vielstimmigkeit der Musik liegt mir auch deshalb am Herzen, weil das Klavier, mehr als andere Instrumente, die Chance bietet, den Klang eines Orchesters zu imitieren. Ich habe Klavierstücke zu Übungszwecken für Orchester arrangiert, um mir deren orchestrale Assoziationen vor Augen zu führen, ein wenig in der Art Leopold Stokowskis.
Kann es geschehen, dass Sie in musikalische Zwickmühlen geraten? Einerseits sind Sie um klanglichen Reichtum bemüht und verschmähen weder Hall noch Pedal. Andererseits können Vielstimmigkeit und akkordische Dichte nur dann fasslich werden, wenn Transparenz hergestellt wird, also Hall und Pedal eher sparsam dosiert werden.
Patentrezepte gibt es nicht. Man muss sich von vorgefassten Ideen zur Pedalisierung befreien und den Gegebenheiten des Saals Rechnung tragen. In einem halligen Ambiente ist wenig Pedal anzuraten. Im Studio empfiehlt es sich, großzügiger zu dosieren. Solche Wandelbarkeit ist für ausführende Musiker wichtig. Werktreue ist etwas anderes als die buchstabengetreue Befolgung des Notentexts und seiner Vortragsbezeichnungen. Es geht um die Einmaligkeit des Moments und die besonderen akustischen Bedingungen, unter denen Musik zum Klingen gebracht wird. „Sachlichkeit“ im Sinne Kempffs oder Rubinsteins schließt poetische Eingebungen keineswegs aus. Diese rechtfertigen sich aber nicht aus persönlichem Ausdrucksbedürfnis oder mangelndem Respekt vor dem Werk, sondern aus dem Versuch, das geistige Substrat der Musik erscheinen zu lassen. So verstanden gehören Werktreue und Phantasie, Kalkül und Spontaneität zusammen.
Es geht um Freiheit ohne Willkür?
Gewissermaßen. Leider nimmt bei einigen jüngeren Pianisten das Willkürmoment überhand. Dann werden Vorschriften zu Tempo, Dynamik oder Artikulation in ihr Gegenteil verkehrt, ohne dass eine nachvollziehbare Idee dahinter stünde. Gerade bei Kempff und Rubinstein konnte man erleben, dass es die Meisterwerke der Musik nicht nötig haben, durch nervöse Eingriffe, durch Übertreibung und Extravaganz „interessant“ gemacht zu werden. Die Mitte ist in der Tat „golden“, zumindest unter den Händen dieser Pianisten.
Nun gibt es viel bewunderte Interpreten, die Extravaganzen nicht abgeneigt waren. Das betrifft zum Beispiel Glenn Gould.
Glenn Goulds Eingriffe kann ich zumindest respektieren. Es macht einen Unterschied, ob Musiker aus mangelnder Reife und Ernsthaftigkeit „experimentieren“ oder Gründe für ihre Maßnahmen vorbringen können. Bei Gould dürfte Letzteres zutreffen, gleich ob seine Argumente im Einzelnen überzeugen.
Herr Prof. Oppitz, Sie haben von jungen und alten Pianisten gesprochen, Begabung und Training, Reife und innerer Kultur. Bitte lassen Sie uns über Ihre Lehrtätigkeit an der Münchner Musikhochschule sprechen, die Sie nach über dreißig Jahren vor kurzem beendet haben. Wie hat sich Ihr Selbstbild als Lehrer während dreier Jahrzehnte verändert? Schätzen Sie die Lehrbarkeit von Musik anders ein als zu Beginn?
Ich habe einsehen müssen, dass Begabung eine größere Rolle spielt, als ich dachte. Dabei geht es nicht um manuelle Talente, sondern um Sensibilität und Nuanciertheit des Ausdrucks. Ein Lehrer kann hier wenig bewirken. Das Profil eines Musikers dürfte schon während der Kindheit zu achtzig Prozent ausgebildet sein. Der Lehrer kann bestenfalls auf Ungereimtheiten der Interpretation aufmerksam machen, alternative Phrasierungen zeigen, ermutigen und begleiten, ein wenig wie ein Gärtner, der Wachstumsprozesse befördert und ausrichtet, aber das innere Gesetz und die Anlagen des Musikers nicht verändern kann. Bei alledem ist Nachhaltigkeit wichtig. Ein junger Musiker profitiert von langfristiger Begleitung. Meisterkurse mit kurzfristiger Unterweisung, an deren Ende sich die Beteiligten auf Nimmerwiedersehen trennen, sind von fragwürdigem Wert. Auch das dialogische Element ist wesentlich. Es geht um Austausch und die gemeinsame Suche nach Wahrheit oder Wahrhaftigkeit. Ich habe von meinen Studenten gelernt und ohne die Erfahrung des Unterrichts wäre ich ein anderer Musiker und Mensch.
Könnten Sie andeuten, wie sich Ihr Musizieren während der Jahrzehnte verändert hat?
Ich bin freier geworden. Heute bringe ich den Mut auf, der Phantasie Raum zu geben. Ich habe Selbstsicherheit gewonnen und wage, mich am Geist eines Werkes, weniger am Wortlaut des Notentexts, auszurichten.
Sie sind in jungen Jahren als Brahms-Spieler bekannt geworden, und Brahms ist die erste Ihrer Gesamteinspielungen gewidmet. Das ist nicht selbstverständlich, denn häufig trägt Brahms herbstliche Farben auf. Man könnte meinen, seine Musik ist für das Alter geschaffen, nicht für die Jugend.
Ich möchte kein Spezialist sein, weder für Brahms noch für deutsches Repertoire allgemein. Schon in jungen Jahren habe ich Skrjabin, Tschaikowsky oder Debussy gespielt, wobei ich die Tiefe und Glut dieser Musik damals nicht ermessen konnte. Was Brahms betrifft, glaube ich, dass zumindest sein Frühwerk auch jungen Musikern zugänglich ist. Generell kommt es bei Brahms, mehr als sonst, darauf an, orchestrale Aspekte des Klaviersatzes einzulösen. Anschlagsdifferenzierung, Artikulation, Pedalisierung sind in besonderem Maße gefordert. Dabei muss die Gesangslinie gewahrt bleiben - bei Brahms schwingt sie ungewöhnlich weit aus.
Vor kurzem haben Sie in Tanglewood Brahms‘ komplette Klavierwerke zu Gehör gebracht. Außerdem haben Sie Mozart, das c-Moll-Konzert KV 491, aufgeführt. Bei Mozart begegnet weder Brahms‘ Polyphonie noch dessen Spannweite der Phrasen. Die musikalischen Herausforderungen dürften anders gelagert, aber kaum geringer sein.
Wenn die Anzahl der Noten, wie bei Mozart, gering ist, kommt es auf jeden einzelnen Ton an. Jede Abweichung, jede Verhärtung des Anschlags fällt unangenehm auf. Diese Transparenz ist unübertroffen. Ich glaube, um Mozarts Einfachheit und Genauigkeit gewachsen zu sein, braucht es Lebenserfahrung, aber auch musikalische Reife. Der alte Artur Rubinstein hat unvergleichlich schöne Mozart-Aufführungen zuwege gebracht.
Herr Prof. Oppitz, ist für Sie selbst der Zeitpunkt gekommen, Mozarts Klavierkonzerte einzuspielen? Mittlerweile haben Sie Brahms, Grieg und Beethoven zyklisch dokumentiert, Ihr Schubert-Zyklus wird in Kürze vollendet sein.
Die Mozart-Konzerte liegen mir am Herzen und langfristig möchte ich sie aufnehmen. Dieses Projekt hat sich aber noch nicht konkretisiert. Etwas weiter sind meine Pläne mit Schumann gediehen. Vor vielen Jahren habe ich einen Schumann-Zyklus in Angriff genommen, den ich aus unterschiedlichen Gründen abbrechen musste. Da mir Schumann nahe steht, möchte ich auf dieses Vorhaben zurückkommen.
Sie zeigen im Konzert wie in der Aufnahmetätigkeit eine Vorliebe für zyklische Darstellungsformen und stellen das Werk einzelner Komponisten im Zusammenhang dar.
Das Einzelne erklärt sich vom Ganzen her. Das gilt für die Formteile einer Sinfonie oder Sonate, aber auch für einzelne Werke innerhalb eines Zyklus. Interpret und Hörer können über das künstlerische Anliegen und die Persönlichkeit eines Komponisten am meisten erfahren, wenn sein Entwicklungsgang nachvollzogen wird und die Hörerfahrung des Frühwerks ins Spätwerk mit eingeht. Dann können sich nachhaltige Wirkungen und Einsichten ergeben. Ich möchte nicht unterhalten und enthusiasmieren. Ich möchte zu denken geben, einen leisen, aber lang dauernden Nachhall erzeugen. Gerade Brahms‘ Musik kann solche Langzeitwirkungen entfalten. Auf den ersten Blick ist sie spröde, fast reizlos. Sie gibt uns harte Nüsse in die Hand. Nicht jeder mag sie knacken. Brahms wirbt nicht ums Publikum, er schmeichelt nicht und charmiert. Aber dem, der sich öffnet, senkt sich Brahms‘ Musik tief in die Seele.
Herr Prof. Oppitz, Sie haben den Pilotenschein erworben und gelegentlich reisen Sie auf dem Luftweg zu Konzertterminen, als Pilot, nicht Passagier. Gibt es Berührungspunkte zwischen dem Fliegen und der Musik?
Einmal kann sich beim Fliegen, wie in der Musik, eine Empfindung der Schwerelosigkeit und Entrückung einstellen. Zum anderen berührt das Fliegen den Zusammenhang von Einzelnem und Ganzem, der für die Musik so wesentlich ist. Im Steigflug tritt Einzelnes zugunsten des Ganzen zurück. Die Nahaufnahme weitet sich zur Totalen. Im Sinkflug findet die umgekehrte Bewegung statt. Eine ähnliche Dynamik ist in der Musik zu erfahren. Einzelheiten schließen sich kontinuierlich zu übergreifenden Formen zusammen, zumindest im Höhenflug gelingender Aufführungen. Dann weitet sich der Horizont und Musiker wie Hörer wachsen zusammen und über sich hinaus.
Herr Prof. Oppitz, Sie halten sich häufig in Übersee, Japan oder Amerika, auf. Dort können Sie nicht ohne Weiteres auf deutsche Zeitungen zugreifen. Nutzen Sie das Internet? Wie schätzen Sie den Musikjournalismus im Internet ein?
Ich gehe regelmäßig online. Die Email bleibt das brauchbarste Verständigungsmittel zwischen den Kontinenten. Außerdem informiere ich mich auf verschiedenen Seiten über das politische und musikalische Geschehen, zudem über Themen der Luftfahrt. Ich bin überzeugt, dass Institutionen wie klassik.com in Zukunft noch größere Bedeutung erlangen, während es Printzeitschriften schwerfallen wird, sich zu behaupten. Für die Qualität des Musikjournalismus muss dies kein Nachteil sein.
Das Gespräch führte Daniel Krause.
(02/2013)
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