Von der Rockorgel in den Orchestergraben - das Feuer des italienischen Dirigenten Paolo Carignani lodert auf verschiedenen Gebieten
"Bei Verdi kann man den Bühnenstaub riechen"
Paolo Carignani fehlt vielen Musikfreunden in Frankfurt am Main. Im September 1997 wurde der italienische Dirigent zu einem Dirigat von Verdis ‚Luisa Miller‘ an die Oper Frankfurt eingeladen. Mit dieser Repertoirevorstellung eroberte er sofort die Herzen der Musiker, wie ein Mitglied des Orchestervorstands erzählt. Als dann ein neuer Generalmusikdirektor für das Haus gesucht wurde, war Carignani der Wunschkandidat des Orchesters. Er nahm das Angebot an – ohne eigentlich zu wissen, wie vielfältig die Arbeit eines Generalmusikdirektors ist. Da der gebürtige Mailänder ein neugieriger Mensch ist, reizte es ihn, ein gänzlich neues Arbeitsumfeld, eine neue Sprache und natürlich das deutsche Musiktheatersystem kennen zu lernen. In neun Jahren hat Cargnani nun über 50 verschiedene Opern und eine Vielzahl an Konzerten in Frankfurt dirigiert. Über seine Frankfurter Zeit, das Reiseleben eines international gefragten Dirigenten und den Bühnenstaub in Verdis Werken sprach klassik.com-Autorin Midou Grossmann mit dem impulsiven Italiener.
Maestro Carignani, wann zeigte sich ihr Interesse für die Musik?
Das war eigentlich Zufall. (lacht) In meiner Familie gab es keine Musiker, auch keine musikalische Tradition. Aber es gab ein großes Einkaufszentrum in Mailand mit einem Geschäft, das elektronische Orgeln verkaufte – was mich ungeheuer faszinierte. Oft ging ich hin und versuchte, auf den Instrumenten zu spielen. Meine Mutter bemerkte das, und zu Weihnachten bekam ich eine dieser Orgeln geschenkt. Gleichzeitig meldete sie mich zum Musikunterricht am Mailänder Konservatorium an. Ich war damals 10 Jahre alt und wurde angenommen.
Was haben Sie dort studiert?
Es kam ein trauriger Tag für mich, denn ich bemerkte, dass man im Konservatorium das Fach elektronische Orgel gar nicht lehrte, sondern dass stattdessen nur Orgel auf dem Lehrplan stand. Aber ich hatte damals einen fantastischen Lehrer, der mich davon überzeugen konnte, Organist zu werden. 1980 habe ich dann in Rom angefangen, hauptberuflich als Organist zu arbeiten. Kirchenmusik erschien mir als Lebensaufgabe zu eindimensional und auch nicht sonderlich spannend. Nach einer kleinen Krise begann ich, in Bars Jazz- und Popmusik zu spielen. Letztendlich entschied ich mich für ein Dirigierstudium, um tiefer in die Musik einzudringen. Nebenbei spielte ich Klavier und auch wieder auf den Orgeln in den Mailänder Kirchen. Nach und nach kamen Studienkollegen dazu: Zuerst eine Geige, eine Flöte, dann auch Choristen, und somit wurde ich immer mehr zum Dirigenten.
Es macht den Eindruck, als habe bei Ihnen alles auf einer spielerischen Ebene angefangen. Wie ging es weiter?
Mein erster bezahlter Auftritt war 1987 mit dem Sinfonieorchester San Remo. Ich weiß noch, dass Schumanns Ouvertüre zu ‚Hermann und Dorothea‘ auf dem Programm stand, zusammen mit einem Stück von Franz Schubert und Ludwig van Beethovens Achte Sinfonie. Dann war ich zwei Jahre an der Oper von Triest als Assistent des künstlerischen Leiters engagiert. Ein enorm wichtiges Ereignis war mein Treffen mit Renato Bruson, dessen Begleiter ich wurde. Da ich ihn sowohl am Klavier wie auch mit dem Orchester begleitete, habe ich viel von ihm gelernt, besonders über Sänger und stilistische Aspekte. Natürlich hat mir Bruson auch geholfen, Engagements als Dirigent zu erhalten, so z.B. 1996 in Macerata ‚Attila‘. Dort sah mich Alexander Pereira und engagierte mich sofort für die Oper Zürich. Die internationale Karriere kam so in Bewegung und Frankfurt rief mich als Einspringer für den erkrankten Sylvain Cambreling für ‚Luisa Miller‘. 1999 wurde ich nach einem Probedirigat mit Carl Maria von Webers Freischütz GMD der Oper Frankfurt am Main.
War damals Bernd Loebe schon in Frankfurt?
Nein, Martin Steinhoff hatte mich engagiert. Er dachte sicherlich: Carignani ist ein Nobody, kommt aus Italien, spricht noch nicht mal Deutsch, der wird sich anpassen. Doch da hatte er sich geirrt. Unser Verhältnis erwies sich schnell als problematisch. Nach einem Jahr wollte ich meinen Vertrag auflösen, doch die Stadt Frankfurt mit Oberbürgermeisterin Petra Roth wollte mich unbedingt halten. So holte man Bernd Loebe aus Brüssel, wo dieser damals Operndirektor war.
Und dann blieben Sie doch eine ganze Weile am Main…
…ja, neun Jahre blieb ich als GMD in Frankfurt. Es gab viel zu lernen, denn ich hatte am Anfang keine Ahnung von den Aufgaben eines GMDs. Ich habe alles gemacht, was ich machen wollte, von Monteverdi bis hin zu zeitgenössischer Musik. Über 50 Titel habe ich im Opernhaus dirigiert und dazu noch die sinfonischen Konzerte. Die strengen Kompetenzabgrenzungen am Frankfurter Haus wurden für mich letztendlich sehr belastend. Vieles wurde über meinen Kopf hinweg entschieden, Gastdirigenten kamen, ohne dass ich informiert wurde. Im letzten Jahr waren mir 35 Dirigate vertraglich zugesichert, ich wurde aber nur für 20 Abende eingeplant. Es war an der Zeit, zu gehen. Wenngleich Petra Roth und einige andere Freunde des Hauses alles taten, um mich dem Haus zu erhalten. 2008 war dann endgültig Schluss. Als Gast hatte ich ja schon 1997 in Frankfurt angefangen.
Haben Sie diesen Schritt später bereut?
Ich bin ein sehr glücklicher Mensch und arbeite in den schönsten Städten der Welt, an den großen Opernhäusern, mit den besten Musikern und Sängern, das macht enorm viel Spaß. Ich arbeite zumeist mit der Champions League, wenn ich das so sagen darf, und ich freue mich immer neue großartige Kollegen kennenzulernen.
Ermüdet Sie das Hotelleben nicht?
Nein, ich wohne immer in denselben Wohnungen, habe also immer ein Art Zuhause in jeder Stadt. Ich bin kein Familienmensch, wollte nie Kinder haben. Also ergänzt mein Beruf ideal mein Freiheitsbedürfnis.
Sie dirigieren momentan überwiegend das italienische Fach. Wird das auf Dauer nicht eintönig?
Nein, ich habe mir in Frankfurt alle meine musikalischen Wünsche erfüllt. Ich habe fast alle Wagner-Opern dirigiert, Bergs ‚Lulu‘ sowie viele andere moderne Werke und finde es nun spannend, mich als italienischer Dirigent wieder intensiv mit Puccini und Verdi beschäftigen zu können.
Vermissen Sie nicht das sinfonische Repertoire? Da haben Sie ja in Frankfurt Hervorragendes geleistet.
Als Reisedirigent für sinfonische Werke hätte ich schon Probleme. Als Operndirigent bin ich doch einige Wochen an den jeweiligen Opernhäusern, aber für ein Sinfoniekonzert sind zumeist nur drei Tage Probe angesetzt. Im Idealfall folgen dann drei Konzerte, und nach einer Woche heißt es dann wieder Koffer packen. Als Operndirigent kann ich mein Leben besser planen und genießen.
Woher nehmen Sie die Kraft für die anstrengende Tätigkeit eines international tätigen Dirigenten?
Sport ist sehr wichtig für mich. Schon in Frankfurt habe ich mit dem Schwimmen angefangen, etwas laienhaft zwar, traf aber 2008 einen Trainer, der mir die Total Immersion Methode des Schwimmens näher gebracht hat. Man schwimmt dabei fast ohne Kraft, nur mit Schwung aus der Bewegung heraus. Im darauffolgenden Sommer habe ich mit einem guten Freund zusammen meine Liebe für die Berge entdeckt. Das war eine enorme Bereicherung. Zudem entdeckte ich noch das Mountainbike, und nun ist für mich die Bewegung in der Natur das Schönste im Leben. Das alles hilft natürlich auch bei meiner Tätigkeit als Dirigent enorm, da hier Spontaneität und Inspiration sehr wichtig sind.
Dann ist Ihr Engagement bei den Bregenzer Festspielen im Sommer 2015 mit Puccinis ‚Turandot‘ ein echter Glücksfall…
… ja, perfekt! Ich kenne die neue Intendantin Elisabeth Sobotka schon seit 1997 aus Wien. Wir haben uns immer wieder getroffen, so auch kürzlich, um die Zusammenarbeit für Bregenz zu besprechen. Ich freue mich sehr auf Giacomo Puccinis ‚Turandot‘ auf dem Bodensee und auf die Zusammenarbeit mit Marco Arturo Marelli.
Haben Sie Lieblingskomponisten?
Mozart, Wagner und Verdi, erste Liga!
Was macht die Genannten denn aus Ihrer Sicht zu Komponisten der ‚ersten Liga‘?
Das ist die Perfektion! Als ich als Student einen Klavierauszug einer Verdi-Oper zum ersten Mal gelesen habe, war ich wirklich enttäuscht. Das erschien mir ziemlich einfach, vor allem ‚La Traviata‘ oder ‚Rigoletto‘. Aber ein Lehrer hat mir gesagt: „Paolo, du musst Dir diese Musik immer auf der Bühne vorstellen, mit dem Staub, den Emotionen“. Und das stimmt. Nur in Verdis Musik kann man diesen so typischen Bühnenstaub, den Urgrund der Aufführungen, förmlich riechen, das ist einmalig! Mozarts Da-Ponte-Opern sind ebenso perfekt, einfach genial. Vielfach wird aber der subtile Humor in den Werken in den deutschsprachigen Ländern nicht verstanden. Man muss die italienische Sprache gut kennen, um die Ironie des Librettos verstehen zu können. Das ist subtilste Ironie im Stil von Woody Allen. Wagners Musik ist für mich die schönste Musik überhaupt, mit den schönsten Melodien, die komponiert worden sind, wenn auch die Sänger dabei oben auf der Bühne zu kämpfen haben. Bayreuth erscheint mir allerdings etwas suspekt - all die vielen Wagnerianer an einem Ort. Deshalb war ich noch nie dort. In Frankfurt habe ich jedoch fast alle Wagner-Opern dirigiert, das waren großartige Erfahrungen.
Treten Sie auch in Italien auf?
Die Musikwelt in Italien ist momentan etwas unberechenbar, doch ich plane ein Projekt mit dem Haus in Bari. Es würde mich sehr freuen, wenn es zustande käme und ich wieder einmal in meinem Heimatland auftreten könnte.
Das Gespräch führte Midou Grossmann.
(02/2014)
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