Nikolas Kerkenrath über 100 Jahre Kulturarbeit bei Bayer
"Wir sind von Langlebigkeit und Vertrauen geprägt"
Die Kulturabteilung der Firma Bayer wird 100 Jahre alt. Aus dem anfänglichen Arbeiterbildungsangebot ist längst ein traditioneller Spielbetrieb mit jährlich bis zu 100 Veranstaltungen zwischen September und Juni geworden. Seit 1986 leitet Nikolas Kerkenrath, Dramaturg, Theaterregisseur und Kulturjournalist die Kulturabteilung von Bayer. Es ist nicht zu überhören und zu übersehen, dass sein Herz für Frankreich schlägt. An einer Wand seines Büros sieht man die gerahmten Ordensauszeichnungen der "République" - Kerkenrath ist Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates und engagiert sich aktiv im interkulturellen Dialog der zwei Nachbarnationen. Zwanglos wie sein Auftreten ohne Krawatte ist auch sein herzlicher Ton und seine Fähigkeit, kritisch über große Zusammenhänge nachzudenken. Miquel Cabruja sprach mit Nikolas Kerkenrath für klassik.com.
Herr Kerkenrath, auch wenn man es Ihnen nicht ansieht, mit 67 sind Sie in einem Alter, in dem andere bereits Rentner sind. Sie planten hingegen voller Energie die große Jubiläumsspielzeit der Kulturabteilung Bayer.
Das ist so vor drei Jahren entschieden worden. Man wollte bei Bayer ganz bewusst, dass der aktuelle Kulturchef die einhundertste Spielzeit konzipiert. Das ist übrigens symptomatisch für das Verhältnis von Bayer zu seinen Kulturchefs. Wir sind von Langlebigkeit und Vertrauen geprägt - in 100 Jahren gab es lediglich fünf Leiter der Kulturabteilung.
Ein Blick in Ihren aktuellen Spielplan verrät ein großes Angebot, das bei weitem nicht nur Musikalisches bietet. Seit wann ist das so?
Nicht von Anfang an. Die Kulturabteilung hat sich aus der Arbeiterbildung entwickelt. Vor einhundert Jahren sah man bei Bayer die Notwendigkeit, den Menschen über kulturelle Bildung mehr zu bieten als das, was die Arbeitswelt seinerzeit ausmachte: Malochen, Geld und weg. Carl Duisberg hat damals entschieden, dass man etwas für die Menschen an den Arbeitsplätzen tun muss. In der Tat zeichneten sich da schon die gesellschaftlichen Katastrophen ab, die sieben Jahre später in den Ersten Weltkrieg mündeten. Duisberg hat bewusst gegen die Verwahrlosung der Arbeitswelt gesteuert und dabei sehr intelligent gehandelt.
Was hat Duisberg getan?
Er hat sich zunächst auf sozialer Ebene agiert, hat Wöchnerinnenheime, Firmenkrankenkassen, Betreuungsangebote und Wohnräume geschaffen. Unmittelbar danach hat er auf der Sport- und Kulturebene nachgezogen. Der TSV Bayer 04 wurde 1904 aus der Taufe gehoben. Damals wurden auch die ersten Ensembles gegründet, die es heute immer noch gibt: 1901 das Blasorchester, 1904 die Bayer Philharmoniker und der Männerchor. Der erste Schritt war ein sozialer, der zweite einer zum Selbsttun. Als nächstes wurde eine Bibliothek eingerichtet, die der Ausgangspunkt für ein eigenes kleines Kulturleben mit didaktischer Stoßrichtung wurde. Damals waren Vorträge mit musikalischer Untermalung und Konzerte mit Erläuterungen die Regel. Der Bibliothekar Hugo Caspari wurde der erste Leiter der Kulturabteilung und fasste den Anspruch der Bayer Kulturarbeit in diesen wunderbaren Satz, der für uns heute noch gilt: „Kulturarbeit ist Bildungsarbeit“.
Damals gab es Leverkusen noch nicht.
Das stimmt. Es gab lediglich ein Fischerdorf am Rhein - Wiesdorf. Als Bayer sich 1891 ansiedelte, ging es auch um Arbeitgeber-Attraktivität. Man musste den Menschen etwas bieten, damit sie herkommen und hob damit auch gleichzeitig das Ausbildungsniveau an. Als 1930 die Stadt Leverkusen gegründet wurde, war bereits alles da. Eine komplette Infrastruktur, eine Arbeitswelt und eben das Kulturleben.
Diese Geschichte spiegelt sich im Namen der neu gegründeten Stadt.
Ja, den Namen hat Leverkusen vom Chemiker Carl Leverkus, von dem Bayer das Gelände erworben hat.
Wie entwickelte sich die Kulturarbeitung Bayer zum heutigen Vierspartenbetrieb mit Theater, Musik, Tanz und Kunst?
Bis in die 1930er Jahre hinein wurde zunächst das Kulturleben vergrößert, es kamen hochrangige Kammermusik, Sinfonik und Theatergastspiele dazu. Mit den Nazis folgte allerdings der Einbruch, auch hier wurde gleichgeschaltet und nivelliert. Die sind ja an nichts und niemandem vorübergegangen. Nach dem Krieg begann auch der kulturelle Wiederaufbau, es musste viel aufgeholt werden, und das ging bei Bayer sehr schnell. Schon in den 50er Jahren gab es wieder einen richtigen Spielplanbetrieb mit Konzerten, Ballet, einem Opernangebot - das man sich damals noch leistete - dem Schauspielbetrieb und Kunstausstellungen. All das wurde mit großer, ruhiger Kontinuität ausgedehnt und verfeinert.
Allmählich veränderte sich auch das Publikum. Noch in den 50er und 60er Jahren wurde dieses Angebot hauptsächlich von Bayer-Mitarbeitern und ihren Angehörigen genutzt. Dann vermischte sich die Zusammensetzung des Publikums, es kamen die Bürger dazu. Wobei man natürlich sagen muss, dass das Bildungsbürgertum in Leverkusen auch immer ein „Bayer-Bürgertum“ war: Eine Gesellschaft mit hohen Ansprüchen, die hier Spitzenensembles und -künstler geboten bekam: das waren im Schauspiel Gustaf Gründgens oder Bruno Ganz, im Ballett Pina Bausch oder Maurice Béjart, Pianisten wie Wilhelm Kempff, Alfred Cortot und viele, viele andere, die bei uns besonders hervorstechen, weil sie auch in der ganzen Welt hervorstechen.
Woran liegt es eigentlich, dass dieses reichhaltige Angebot in Leverkusen nicht den großen Namen in der Kulturszene hat?
Das hat wohl auch damit zu tun, dass sich Leverkusen in den 70er Jahren dagegen wehrte, von Köln als Steuerzahler einverleibt zu werden: die Stadt hat sich nicht eingemeinden lassen, was uns Köln bis heute vermutlich nachträgt. Ein bewusstes Nichtwahrnehmen der Leverkusener Kulturszene, ein ausdrückliches Distanzhalten ist in Köln bis heute zu beobachten. Das würde man in Köln zwar nie zugeben, aber das Verhalten spricht eine deutliche Sprache
Globalisierung als Weg aus der Nichtbeachtung?
Das ist sehr gut formuliert. Aber es wäre vermessen, es so darzustellen. Der Mechanismus stimmt jedoch schon. Ich möchte es anders formulieren: Die globale Struktur nutzen, um Kulturarbeit zu machen. Wir haben vor 20 Jahren damit begonnen, kulturell aus der Leverkusener Enklave herauszutreten. Zunächst einmal wurden die weiteren Bayer-Standorte in Nordrhein-Westfalen in den Spielplan miteinbezogen, danach Bayer-Niederlassungen in der ganzen Welt. Der Slogan lautete damals wie heute: „Wirtschaftsräume sind auch Kulturräume“.
Sie waren damals in der Schweiz tätig. Wie hat Bayer es geschafft, Sie dort wegzuholen?
Eigentlich wollte ich nicht mehr nach Deutschland zurück, in der Schweiz sind mir in über 20 Jahren Wurzeln gewachsen. Aber Bayer hat den Bedingungen zugestimmt, um die ich gebeten habe. Wie schon gesagt, wollte ich auch in Krefeld, Wuppertal und Dormagen Kulturflagge zeigen und bei den Spielplänen thematische Schwerpunkte setzen. Damit entstanden die großen saisonalen Schwerpunkte, die französische, russische, europäische Spielzeit etc. Man ließ mich schalten und walten. Was glauben Sie, musste jetzt in dieser Jubiläumsspielzeit mit der Unternehmensleitung abgestimmt werden?
Ich denke die Kosten?
Ich meine inhaltlich…
Ich hoffe recht wenig!
Nichts - und das ist Zeichen des großen Vertrauens, das in die Bayer-Kulturarbeit gesetzt wird. Ich wurde zwar immer zwischendurch gefragt: „Was machen Sie demnächst?“. Sobald ich ein Konzept skizziert habe, hieß es aber immer: „Ah, das ist aber interessant.“ Die Unternehmensleitung hat mir inhaltlich immer freie Bahn gelassen. Deswegen blieb ich auch gern und solange.
Das Konzept scheint aufzugehen. Ihr Publikum ist Ihnen sehr treu. Was tun Sie für das Publikum der Zukunft?
Wie in vielen Städten gibt es auch in Leverkusen eine recht starke Überalterung. Deswegen haben wir sehr früh damit angefangen, uns mit der Jugend zu befassen. Seit über 20 Jahren kooperieren wir mit Schulen, wenn es um das Ausarbeiten eines Jugendtheaterspielplanes geht. Dabei haben wir herausgefunden, dass die Schulen interessanterweise immer mehr um Theaterklassiker bitten. Die wollen keine modernen Jugendproblemstücke, sondern Hilfen, damit ihr Lehrstoff etwas reicher wird.
Ist die heutige Jugend kulturell gesehen eine „verlorene Generation?“
Teilweise schon; in einer Industriestadt wie Leverkusen fällt das besonders ins Auge. Wir haben keine Universität, kein Konservatorium, wir sind keine Großstadt und daher fehlt der natürliche Nachschub. Aber selbst in einer großen Stadt wie Köln ist eine gewisse Publikumsstagnation vorhanden, wenn es um die Klassik geht.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass diese Generation mit klassischer Musik wenig anfangen kann?
Es liegt an vielen Faktoren. Unsere Gesellschaft hat es zugelassen, dass eine unglaubliche Brutalisierung und Kommerzialisierung in fast allen Bereichen, auch in der Musik stattgefunden hat. Und da ist eine ganze junge Generation fast abhängig gemacht worden. Sie können jemanden, der seinen ganzen Alltag mit einem Kopfhörer im Ohr herumrennt und so laut Musik hört, dass es noch der Nachbar vom Nachbarn mitbekommt, nur schwer für klassische Musik interessieren. Wir können diese Jugendlichen nur schwer erreichen, weil auch in den Schulen der Musikunterricht heruntergefahren wurde. Es gibt da kaum noch Berührungspunkte.
Bildung unter merkantilistischen Gesichtspunkten?
Mit „Bildung“ hat das nichts mehr zu tun. Die Heranwachsenden werden stark darauf getrimmt , Teil des Konsummechanismus zu werden. Merkantilismus herrscht aber auch in der Kulturarbeit einiger Firmen. Inzwischen haben viele Unternehmen bemerkt, dass Kultur ein Wirtschafts- und ein Eventfaktor ist. Oft steht die Unternehmenspräsenz im Vordergrund, und nicht die kulturelle Aussage.
Wo sehen Sie da einen Ausweg?
Das kann ich nur auf uns bezogen beantworten. Bei Bayer hat die Kultursubstanz Priorität, mit einer besonderen Aufmerksamkeit für Jugendliche und Kinder. Bei den Kindern haben wir gemerkt, dass vor allem ihre Eltern nach Alternativen suchen, um aus diesem furchtbaren „Remmidemmi“ herauszukommen, der unseren Alltag umgibt. Deswegen gibt es bei uns Familienkonzerte und im Theater das Jugendabonnement. Wir tun somit etwas für das junge Publikum von heute, vielleicht sogar für das Publikum von morgen.
Stichwort Zukunft: Was bedeutet die klassische Arbeiterbildung für Bayer heute noch?
Die hat sich verlagert. Der Arbeiter ist heute gebildeter als er es vor 60, 70 Jahren war; auch weil er eine andere Schulbildung hat. Er ist auch kulturell neugieriger, weil in Europa die kulturellen Werte zum Alltagsleben gehören. Allerdings ist auch festzustellen, dass das Bildungsniveau insgesamt wieder absackt. Die musische Bildung hat sich zugunsten einer berufsorientierten Wissenserweiterung verlagert. Da wären wir wieder bei der Merkantiliserung.
Lassen Sie uns über die diesjährige Spielzeit sprechen. Sie haben eine große Menge an Veranstaltungen miteinander gekoppelt, die wie ein geschichtlicher Überblick wirken.
Der Jubiläumsspielplan soll diverse Themen transportieren. Die Geschichte ist ein großer Teil. Es geht um die Geschichte allgemein, aber auch konkret um die Bayer-Kulturgeschichte. Wir haben versucht, Beiträge aus Musik, Theater, Tanz und Kunst zusammenzustellen, die für historische Tendenzen und Entwicklungen stehen. Deswegen haben wir beispielsweise das Violinkonzert von Alban Berg oder den „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky als Marksteine künstlerischer Entwicklungen gewählt. Die „Leningrader Sinfonie“ von Schostakowitsch, Benjamin Brittens „War Requiem“ oder die Rekonstruktion des Anti-Kriegs-Tanzstückes „Der Grüne Tisch“ von Kurt Jooss haben direkte zeitgeschichtliche Bezüge. Daraus entsteht natürlich eine Plattform, anhand derer wir resümieren können: Wo kommen wir her, was sind wir und wo wollen wir hin?
Welchen Stellenwert hat die Musik für Sie persönlich in Ihrer Arbeit?
Die Musik ist eigentlich das Leichteste - aber dann doch wieder sehr schwer in ihrer Komplexität und Verwundbarkeit. Nach dem Krieg gab es einen regelrechten Kulturboom, bei dem alle Musikbereiche eine ganz wichtige Rolle gespielt haben, besonders auch im Radio. Mit dem Wirtschaftswunder ging es auch der Kultur besser, und jede Kommune wollte auf einmal einen Musentempel, einen Musiktempel haben. Musik wurde mit der Zeit für alles und überall genutzt und benutzt, die Geschmacksgrenzen wurden und werden dabei oft strapaziert, man hört heute überall Musik: ihre Banalisierung ist bald nicht mehr zu überbieten…
…Musik als „Einrichtungsgegenstand“,
... den sie dann aber auch genau so gut wegwerfen können. Doch schnell zurück zum klassischen Musikbetrieb. Als ich hier anfing, war ich einer der Ersten, der stringente thematische Ausrichtungen vorgeschlagen hat. Ich habe Musikprogramme und ganze Spielzeiten an Komponistengeburtstagen, Musikregionen oder großen historischen Ereignissen ausgerichtet. Wenn ich heute sehe, dass viele Festivals und Veranstalter sogenannte „Länder-Schwerpunkte“ herausstellen, muss ich schmunzeln. Besonders im Musikleben wurde mit der Festlegung auf Themen, mit dem Konzentrieren auf Aussagen Wichtiges erreicht und der Musikbetrieb interessanter. Musik ist so gigantisch, da geht einem der Stoff nie aus. Auf die Fokussierung kommt es an.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(09/2007)
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