Von der Doppelbelastung, Dirigentin und Intendantin zu sein
"Ich kann zehn Minuten vor einem Tristan nicht an Urlaubsscheine denken"
Simone Young ist eine herzliche Person. Wenn sie spricht, verbindet sie Zielstrebigkeit mit einer angenehmen, warmen Ausstrahlung. Young redet schnell und korrigiert sich selten. Ihre präzisen Formulierungen verraten viel über ihren wachen Geist und ein reges Innenleben, in dem Musik stets auch als Farbe sichtbar wird. Simone Young hat nämlich die seltene Gabe der Synästhesie. Menschen mit einem synästhetischen Gehör nehmen Klänge vor ihrem inneren Auge auch als Farben wahr. Vielleicht ist diese außergewöhnliche Fähigkeit ein Grund für Youngs glänzende musikalische Karriere, die sie von Australien zunächst nach Köln führte. Eine ihrer prägendsten Erfahrungen war die vierjährige Assistenz bei Daniel Barenboim. 1995 wurde Young an der Berliner Oper Unter den Linden engagiert. 1996 gab sie ihr Debüt an der New Yorker Met. Weitere Engagements folgten und führten sie in die großen Musikmetropolen der Welt. Seit August 2005 ist Simone Young Intendantin der Staatsoper Hamburg und Hamburgische Generalmusikdirektorin des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Die australische Dirigentin gehört zu den renommiertesten Vertretern der jüngeren Dirigentengeneration und unterscheidet genau zwischen Problemen und Fakten. Miquel Cabruja sprach für klassik.com mit Simone Young.
Eines der wichtigsten Ereignisse in Ihrer steilen Karriere war das Stipendium, das Sie 1986 nach Europa und ein Jahr später nach Köln geführt hat. Was hat es für Sie bedeutet, von Australien aus nach Deutschland zu gehen?
Nach Deutschland zu kommen war für mich sehr wichtig. Ich befand mich damals noch in einer Entscheidungsphase. Ich wollte herausfinden, ob ich diese Dirigenten-Karriere wirklich durchziehen sollte oder ob es besser wäre, wenn das Dirigieren eine exotische Nebenbeschäftigung für mich bliebe. Es war mir wichtig herauszufinden, wie ich mich in der europäischen Kunstlandschaft positionieren konnte. In Australien hatte ich ja schon einiges gemacht, aber die australische Musikwelt ist sehr überschaubar. Mit diesem Stipendium begann meine lange europäische Karriere. Man denkt sich ja oft: „Ich gehe für ein Jahr irgendwohin“ - und dann ist man nach 20 Jahren immer noch dort.
Sie sind dem deutschsprachigen Raum in dieser Zeit immer verbunden geblieben.
Sogar in der Zeit zwischen 1995 - 2005, als ich mit meiner Familie meinen Hauptwohnsitz in England hatte, war ich eigentlich immer vier bis fünf Monate des Jahres im deutschsprachigen Raum tätig. Ich war entweder in München, Berlin, Hamburg oder Wien. Vor allem Berlin und Wien sind in dieser Zeit für mich besonders wichtig gewesen. Die Wiener Staatsoper und die Staatsoper Unter den Linden sind gewissermaßen meine beiden Heimathäuser, an denen ich durchgehend tätig gewesen bin.
Berlin, das bedeutet ja auch Ihre Zusammenarbeit mit Daniel Barenboim.
Und es bedeutet Bayreuth. Mit Barenboim habe ich während der letzten beiden Jahre zusammengearbeitet, in denen noch der Harry Kupfer-Ring in Bayreuth lief. Das war 1991/92 und wahnsinnig prägend für mich. Daniel Barenboim hat mich im Anschluss dazu als Gast nach Berlin eingeladen. Dann hat er vorgeschlagen, als seine Assistentin und Hauskapellmeisterin ein Fest-Engagement für zwei Jahre einzugehen. Ich war bis 1995 dort und dann erst einmal frei. Aber war Berlin dennoch weiterhin verbunden. Es ist gewissermaßen mein zweites Haus geblieben.
Bayreuth ist für seine Akustik berühmt.
Diesen wahnsinnig tollen Klang aus dem Bayreuther Orchestergraben live zu erleben, das war für mich eine regelrechte Offenbarung. Ab da wusste ich, wie es eigentlich sein sollte. Wagners Festspielhaus hat für sein Spätwerk die vollkommene Akustik. Als Assistentin habe ich dort enorm viel darüber gelernt, was an diesem Repertoire dran ist und habe meine Vorstellung vom idealen Klang entwickelt. Das ist ja auch genau das, wonach man als Dirigent sucht: ein Klangideal, an dem man arbeiteten kann.
Wenn Sie von idealem Klang sprechen: haben Sie Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?
Das hängt natürlich sehr vom Repertoire ab. Aber für das große deutsche, romantische Repertoire sind es vor allem Barenboim und Furtwängler.
Dabei sind Sie bei Ihrer neuen Bruckner-Einspielung mit den Philharmonikern Hamburg geradezu zielstrebig, frisch und direkt. Ritterlich hätte man dazu früher wohl am ehesten gesagt.
Schön, dass Sie das sagen. Wir haben ja die Urfassung der Zweiten Sinfonie gewählt. Und da lege ich in der Tat sehr viel Wert darauf, dass es noch sehr frisch klingt. Mir ist es wichtig, über Beethoven und Schumann zu Bruckner zu kommen - nicht von Wagner ausgehend zurück zu Bruckner. Bei den schnellen Sätzen lege ich deshalb sehr viel Wert auf rhythmische Präsenz. Ich gehe da eher von einer klassischen Regelmäßigkeit in den Sätzen aus - nicht unbedingt vom typisch spätromantischen Ansatz. Aber was die langsamen Sätze angeht, da ist mir die Welt von Furtwängler und Wagner als Ansatz am wichtigsten. Bruckners langsame Sätze unterscheiden sich ohnehin sehr von seinen anderen.
Das stimmt, die haben eine ganz andere Transzendenz.
Genau. Ich bin aber auch wirklich zufrieden mit der Aufnahme. Ich finde Bruckners Erstfassungen ohnehin sehr spannend. Es gibt sehr wenige Aufnahmen auf dem Markt, und man muss diese Fassungen wirklich gründlich studieren, um ihre Struktur zu erfassen. Die Urfassungen sind durchaus nicht leicht. Sie sind alle viel komplizierter in der Verwirklichung als späteren Fassungen. Dafür haben sie eine Kühnheit, für die wir vielleicht heute erst bereit sind. Vielleicht sind die Urfassungen nicht so perfekt wie die späteren Fassungen. Aber sie haben dafür eine Modernität, die den späteren Fassungen fehlt.
Sind sie denn grundsätzlich für die Aufführung von Erstfassungen? Würden Sie etwa auch für Aufführungen von Puccinis erster „Butterfly“-Fassung plädieren?
Für mich ist es immer wichtig, genau zu wissen, warum ein Komponist Revisionen vorgenommen hat. Bei Mahler war es stets eine Frage der Akustik und der Instrumentierung. Alle seine Bearbeitungen und Veränderung haben das Ziel, die orchestralen Farben und die Artikulation immer klarer und deutlicher zu fassen. Aus diesem Grunde ziehe ich bei Mahler auch die revidierten Fassungen vor. Die Erstfassung von „Madama Butterfly“ würde ich hingegen nicht favorisieren. Aber auch bei Verdi, der sich viele seiner Werke immer wieder vorgenommen hat, würde ich das eher nicht tun. Meistens hat Verdi seine Revisionen ja deshalb vorgenommen, weil sich sein dramaturgisches Verständnis und Können weiterentwickelt haben. Daher sind seine späten Opern auch so perfekt. Natürlich ist die fünfaktige französische Fassung des „Don Carlo“ interessant, weil es eine völlig anderer Oper ist. Sie hat eine ganz andere Struktur als die vieraktige italienische Fassung. Aber ich ziehe die spätere vieraktige Fassung wegen ihrer Dramaturgie vor. Gleichwohl möchte ich keine strenge Linie ziehen. Nach Möglichkeit möchte ich immer alle Fassungen kennen und auf dieser Grundlage dann zu einer informierten Entscheidung gelangen. Dazu gehört auch das Quellenstudium, etwa anhand von Briefwechseln der Komponisten. Ich frage mich immer, wieso Komponisten Änderungen vorgenommen haben. Wenn es wie bei Bruckner aufgrund äußerlichen Drucks geschah, dann ist es in jedem Fall an der Zeit, sich die Urfassungen noch einmal anzuschauen. Mit den technischen und virtuosen Möglichkeiten unserer modernen Orchester und der Aufgeschlossenheit unseres Publikums können wir uns dann heute fragen, ob Bruckner mit seiner ersten Fassung nicht doch Recht gehabt hat.
Wenn Sie von informiertem Spiel sprechen: Spielen die Erkenntnisse der Alten Musik für Sie eine Rolle?
Nur in der Theorie eigentlich. Ohnehin schließe ich für mich die Musik vor Mozart ganz aus. Meine musikalische Welt beginnt mit Mozart und reicht bis heute. Da man natürlich auch für Mozart, Beethoven und Haydn die Aufführungspraxis kennen sollte, die zu deren Zeit und auch kurz davor maßgeblich war, muss man sich mit ihrer Epoche auseinandersetzen. Man sollte schon Leopold Mozarts „Gründliche Violinschule“ gelesen haben, um Fragen des Bogenstrichs usw. zu studieren. Das muss man verwendet, verstanden und auch ausprobiert haben um zu einer eigenen Musik-Sprache zu kommen. Aber wo wir schon von Mozart sprechen - er war durch und durch Theatermensch und liebte die Bühne. Wenn man das weiß, muss man sich aber fragen, was denn an erster Stelle stehen soll: eine sogenannte richtige Aufführungspraxis oder ein lebendiger Theaterabend? Darüber kann man am Ende stundenlang diskutieren. Die Hauptsache ist für mich, dass man seine Entscheidung in informierter Weise trifft. Man muss seine Entscheidung so fällen, dass man sie begründen und auch verteidigen kann. Nur wenn man von etwas überzeugt ist, kann man es überzeugend vermitteln.
Gleich zu Beginn Ihrer Hamburger Zeit haben Sie Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler“ als erste Premiere dirigiert. Das CD-Dokument kommt am 20. Juli auf dem Markt.
Es ist für mich sehr erfreulich, dass diese Aufnahme, die vom NDR aufgezeichnet und übertragen wurde, jetzt erscheint. Wir haben „Mathis der Maler“ ungekürzt gegeben, was enorme Anforderungen an alle Beteiligten stellte. Für mich ist das Stück wirklich eines der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Es ist viel zu wenig bekannt, und der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass es einige Hauptpartien verlangt, die man von ihrem Anspruch her durchaus mit großen Wagnerrollen vergleichen kann. Die Hauptpartie ist einfach mörderisch. Unser Sänger Falk Struckmann hat es jedoch einfach toll bewältigt. Die Liebe und Sorgfalt, die er dem sehr dichten Text seiner Rolle gewidmet hat, war auch das Ergebnis der intensiven Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christian Pade. Dadurch, dass diese CD eine Live-Aufnahme ist, kann man das genau nachvollziehen und bekommt ein wirklich lebendiges Operndokument in die Hand. Der Zuhörer zuhause hat wirklich das Gefühl, mitten im Theater zu sitzen.
Ich hatte beim Hören Ihres „Mathis“ den Eindruck, dass Sie bei ihrer Arbeit mit dem Orchester sehr auf Durchhörbarkeit geachtet haben. Ist Transparenz Ihr Ideal?
Das ist für mich ein Grundthema. Ich versuche, bereits bei den ersten Proben die Partitur so verständlich zu machen, dass die Musiker - und durch sie auch die Zuhörer - alle Details hören können, die zu dem Werk gehören. Deswegen arbeite ich mit dem Orchester immer sehr ausführlich an der Artikulation und der Balance zwischen den einzelnen Instrumentengruppen. Auch das Tempo ist für mich letztlich ein Resultat dieser Suche nach dem idealen Klang und nicht umgekehrt. Ich arbeite daran, dass man jeden Ton, jedes Instrument hören kann. Das ist für mich das A und O. Und die Philharmoniker Hamburg sind besonders offen dafür. Deshalb verstehen wir uns auch so gut. Ich versuche bei jedem Stück, eine Art kammermusikalische Mitarbeit unter den Musikern zu erzielen. Das bieten mir die Hamburger an, und so finden wir uns gegenseitig immer wieder bei den Proben.
Gibt es für Sie Unterschiede zwischen der Arbeit mit Sängern und der Arbeit mit einem Sinfonieorchester?
Der einzige Unterschied ist eigentlich, dass es bei der Oper mehr Dinge gibt, die mich ablenken können (lacht herzlich). Ich gehe an die Partitur einer Oper genau so heran wie an ein Konzert oder eine Sinfonie. Natürlich hat man bei der Oper eine Textvorlage, die einem eine feste Struktur bietet. Ich bin ohnehin sehr strukturell veranlagt und muss ein Werk immer erst einmal aus der Struktur heraus verstehen. Alles andere kommt dazu. Darüber hinaus gibt es für mich viele Berührungspunkte zwischen dem Opern- und dem sinfonischen Repertoire. Ich bin mir sicher, dass meine jahrelange Auseinandersetzung mit den Werken Wagners einen direkten Einfluss auf meinen Bruckner hat. Ich bin mir genau so sicher, dass es meinem Wagner zugute kommt, dass ich mich stark mit dem sinfonischen Repertoire seiner Zeit auseinander gesetzt habe. Puccini kann uns wahnsinnig viel über die Musikkultur der Jahrhundertwende erzählen. Die Sinfonien von Schostakowitsch zeigen mir sehr viel darüber, wie Benjamin Britten klingen sollte. Da kann man viel von einer Sparte in die andere übertragen. Das gleiche kann für die Werke eines einzelnen Komponisten gelten. Wenn man an Beethovens Neunter arbeitet, muss man eigentlich schon den „Fidelio“ gemacht haben. Aber wenn man „Fidelio“ macht, sollte man wiederum schon die Neunte gut kennen, weil eben beide Werke so sehr miteinander verwandt sind. Allerdings gibt es schon gewisse Unterschiede: Als Operndirigent braucht man im Orchestergraben eine gewisse Flexibilität, eine Schnelligkeit der Reaktion, die man nicht auf dem Konzertpodium lernen kann. Ich bewundere meine Kollegen, die jahrelang Konzerte dirigieren und dann damit anfangen, Opern zu dirigieren. Ich weiß gar nicht, wie die das alles lernen sollen. Das Erarbeiten einer Opernpartitur am Klavier mit den Sängern und dem Chor - das ist unersetzlich.
Wagner spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Repertoire. Es wird oft geklagt, dass die Wagnerstimmen aussterben. Haben Sie eine Erklärung?
Ich glaube, es gab in jeder Generation eigentlich nur eine handvoll Menschen, die für dieses Repertoire wirklich geeignet waren. In den 50er Jahren gab es anscheinend eine große Welle guter Wagnersänger, von denen die meisten aber nur kurze Karrieren hatten. Was soll man sagen? Genau deswegen planen Häuser ihre Wagneropern auch so weit im Voraus, weil es eben in jeder Generation nur eine begrenzte Anzahl von Sängern gibt. Wenn man innerhalb von zehn Jahren drei passende Brünnhilden findet, dann ist das schon ein Glücksfall. Wenn das Schicksal es gut mit einem Dirigenten meint, dann trifft er vielleicht einmal in seinem Leben eine perfekte Brünnhilde oder einen Wotan. Aber das gilt nicht nur für Wagner. Was ist mit den guten Tenören für das italienische Fach oder den dramatischen Alt-Stimmen? Wie viele gibt es da? Es handelt sich dabei einfach um sehr rare Stimmen. Auch eine perfekte Tosca ist ein seltenes Ereignis. Ich habe immer sehr viel Verständnis für Sänger und glaube, dass sie die allerschwerste Karriere der Welt haben. Sie arbeiten jahrelang hart, und an die Spitze kommen nur die Wenigsten. Darüber hinaus können sie sich nie von dem trennen, was sie machen. Sie sind ja selbst ihr Instrument. Das ist eine geistige Belastung, die nicht zu unterschätzen ist. Sie machen eine großartige Arbeit, aber ich bin dankbar, dass ich keine Sängerin bin.
Können Sie denn singen?
Nein. Ich singe ganz schlecht! Ich klinge am ehesten wie Ella Fitzgerald mit Grippe ... einer ganz schwere Grippe! (lacht)
Das Hamburger Staatstheater ist das älteste Stadttheater Deutschlands. Was bedeutet Ihnen diese Tradition?
Hamburg ist das älteste nichthöfische Haus in Deutschland und hat eine lange bürgerliche Tradition. In Hamburg war das Bildungsbürgertum immer sehr aktiv, und das ist es immer noch. Für eine Kulturstadt und eine Stadt, die sich als Musikmetropole profilieren will, ist das eine ganz wichtige Sache. Ich fühle mich in Hamburg sehr wohl.
Wie kam es dazu, dass Sie in dieser Doppelfunktion als Intendantin und Dirigentin nach Hamburg kamen?
Das ist beim Aufbau der meisten heutigen Häuser in der Tat ungewöhnlich. Heute ist das Modell des Berufsintendanten, der weder Regisseur noch Musiker ist, fast schon üblich. Aber schauen wir zurück zu den alten Modellen: da war fast immer ein Künstler der Kopf eines Hauses. In den 60er, 70er und 80er Jahren, waren die meisten Intendanten zwar Regisseure, aber letztlich sehe ich da keinen Unterschied zu einem Dirigenten. Und gerade als Dirigent ist es für mich sehr nützlich, dass ich auch entscheiden kann, wie das Budget aufgeteilt wird. So kann ich einfach das beste Ergebnis erzielen. Natürlich muss ich oft mit mir selbst kämpfen. Aber ich kann so auch die Entscheidung treffen und muss nicht mit den Entscheidungen Anderer leben.
Damit haben Sie große Verantwortung.
Es ist eine riesige Verantwortung. Eigentlich ist das ein unmöglicher Job. Vierzehn Stunden Arbeit täglich und eine Siebentagewoche. Aber ich finde es trotzdem faszinierend.
Können Sie da gut schlafen?
Nein. Aber das kann ich eigentlich seit Jahren schon nicht mehr (lacht) Aber das ist OK. Ich habe mich dazu gedrillt, dass am Tag einer Vorstellung meine Büroarbeit spätestens um 15:00 Uhr zu Ende ist. Manchmal heißt das, dass ich schon um 8 Uhr beginnen muss. Ich fahre dann nach der Büroarbeit ohne Ausnahme erst einmal nachhause und lege mich für eine Stunde hin. Selbst wenn ich nicht schlafen kann, meditiere ich eben eine Stunde lang, damit ich mich auf den Abend konzentrieren kann. Das ist überlebensnotwendig. Ich kann schließlich zehn Minuten, bevor ich an einen Tristan herangehe, nicht an Urlaubsscheine denken.
Wenn Sie wichtige Entscheidungen treffen müssen, sind Sie doch sicher auch schon einmal in der Zwickmühle. Es gibt finanzielle Aspekte und künstlerische Wünsche. Beide lassen sich oft schwer vereinbaren. Wer gewinnt bei solchen Konflikten meistens? Die Intendantin oder die Dirigentin?
Am Ende müssen einfach die Zahlen stimmen. Ich arbeite ja hier mit Steuergeldern, und es gibt auch einen Riesenapparat, der dafür Sorge trägt, dass alles seine Richtigkeit hat. Ich kann mir natürlich alles Geld der Welt wünschen. Aber ich kann mir eben nur Dinge erlauben, die ins Budget passen. Manchmal muss man jedoch abwägen. Ein Abend, der zunächst sehr teuer erscheint, kann etwa für den Erfolg anderer Abende einen positiven Effekt nach sich ziehen. Ich muss eben manchmal sehr pragmatisch denken und andererseits sehr kreativ sein, um herauszufinden, wie ich die Dinge ermöglichen kann, die wünschenswert sind. Andererseits ist es blauäugig zu sagen: „Das will ich auf jeden Fall, und wenn ich es nicht bekomme, dann gehe ich!“ Manchmal fällt es mir natürlich schwer, negative Entscheidungen zu treffen, wenn ich mich ganz besonders auf ein Projekt gefreut habe und es nicht realisieren kann. Aber das Leben ist halt so.
Was können Sie als Verantwortliche dafür tun, dass sie einerseits gutes Theater machen und andererseits auch das Publikum an Ihr Haus binden?
Also wenn ich darauf eine Antwort hätte, dann wäre ich nicht nur Intendantin für Hamburg, sondern für ganz Deutschland. (lacht) Wir alle wollen doch lebendiges, anspruchsvolles, abwechslungsreiches, interessantes Theater zeigen. Und letztlich kann man es dem Publikum ohnehin nie recht machen. Entweder ist man zu bieder oder zu modern, zu aggressiv oder zu schwach. Es wird immer jemand geben, dem es nicht passt. Deshalb muss man eben ein klares Konzept von dem haben, was man erreichen möchte. Ich finde, mit einer Staatsoper wie Hamburg und mit einem Orchester wie den Philharmonikern Hamburg trägt man die Verantwortung, seinem Publikum ein vielfältiges Programm zu bieten. Wir sind als Oper eine der zentralen kulturellen Institutionen in der Stadt und müssen auch etwas bieten, damit das Publikum zu uns kommt. Andererseits wäre es fatal, wenn wir das Publikum diktieren ließen, was auf der Bühne geschieht. Eben dafür engagiert man eine künstlerische Leitung oder einen Intendanten, weil man an deren künstlerische Vision glaubt.
Mit welchem Repertoire versuchen Sie das Publikum an die Staatsoper zu binden?
Wir fahren mehrgleisig. Im Augenblick arbeiten wir an einem neuen Ring-Zyklus. Der letzte Ring in Hamburg ist schon zehn Jahre her, und es wird Zeit, dass diese Stadt wieder einen Ring erhält. Wir arbeiten auch an einem neuen Britten-Zyklus. Britten wird ja zum Glück wieder populärer. Da ist die Idee eines Zyklus, in dem man konsequent verschiedene Werke präsentiert, sehr reizvoll. Wir haben auch eine starke Präsenz der Barock-Oper. Gerade haben wir „Radamisto“ von Händel als Neuinszenierung herausgebracht. Aber es gibt auch Lücken im Bereich der Strauss-Opern, des französischen und slawischen Repertoires. Ich kann bei vier oder fünf Premieren im Jahr natürlich nicht alles auf einmal angehen. Aber ich denke, dass die Lücken bei Strauss und im französischen Repertoire Priorität haben. Danach können wir an die slawischen Werke herangehen.
Sie lernen ja auch Russisch.
Ja, mühsam, seit Jahren. Das Problem ist, dass ich zwar drei Monate lang vielleicht regelmäßig ein- oder zweimal in der Woche zum Unterreicht gehen kann, dann aber wieder für ein halbes oder ganzes Jahr gar nicht. In dieser Spielzeit hatte ich leider nur zehn Unterrichtstunden.
Welche Sprachen sprechen Sie denn? Ich lese immer, es seien sechs.
Gut spreche ich Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Ich kann auch etwas Norwegisch und arbeite an Russisch.
Rolf Liebermann hat als einer ihrer Vorgänger sehr stark auf Uraufführungen neuer Opern gesetzt. Ist das eine Linie, die sie fortsetzen möchten?
Ich bin sehr dafür. Gerade Rolf Liebermann war jedoch in finanziell sehr viel entspannteren Zeiten tätig. Wenn ich es mir erlauben könnte, würde ich jedes Jahr eine Uraufführung machen. Aber das kann ich nicht. Und da bräuchten wir ehrlich gesagt auch mehr Unterstützung von den Medien. Wir können nur wenig Geld für den Marketing-Bereich ausgeben, weil wir das Geld bereits für unsere Produktionen benötigen. Aber gerade neue Werke sind auf gute Werbung angewiesen. Ich will gerne neue Werke und solche bringen, die nicht zum Kernrepertoire gehören. Das Problem ist, dass die meist in der Premierenserie eine gute Publikumsresonanz bekommen, dann aber oft sehr schlecht besucht sind. Das können wir uns auf Dauer einfach nicht erlauben. Wenn ich viel Geld in eine Neuproduktion stecke, dann muss ich auch davon ausgehen können, dass das Stück ein Leben im Repertoire haben wird. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich zeitgenössische Partituren, die ich von Komponisten und Verlegern vorgelegt bekomme. Und ich nehme mir dafür Zeit, denn ich bin mir sicher, dass da irgendwo ein Juwel auf seine Entdeckung wartet. Etwas, das mir aber genau so wichtig ist, sind die Folgeaufführungen neuer Werke. In dieser Spielzeit werden wir beispielsweise die deutsche Erstaufführung von Hans Werner Henzes „L’Upupa“ in Hamburg haben. Die Oper hat 2003 in Salzburg ihre Uraufführung gefeiert. Ich finde es sehr wichtig, dass solche neuen Werke nicht nur einmal an einem Ort aufgeführt werden und dann in der Versenkung verschwinden…
... dass sie also ins Repertoire übergehen
... dass sie überhaut eine Chance erhalten, ins Repertoire zu kommen.
Apropos Uraufführung: Sie haben Komposition studiert. Komponieren Sie denn auch?
Nein, nicht mehr. Ich war auch nie gut. Eigentlich ist das eine hervorragende Messlatte für mich: Wenn ich mir Partituren ansehe und denke: „Das hätte ich genau so gut schreiben können!“, dann ist es nicht gut genug. (lacht)
Die Medien greifen das Thema, dass Sie eine Frau sind, immer wieder reflexartig auf. Können Sie das überhaupt noch hören?
Ich kämpfe damit seit 20 Jahren. Es ist eigentlich ein Thema, dass ich, so gut es geht, zu umgehen versuche. Denn es hat eigentlich nichts mit meiner Arbeit zu tun. Im Orchestergraben spielt es, glaube ich, ohnehin nicht so eine große Rolle. Auf dem Konzertpodium hat der Dirigent natürlich auch eine optische Funktion. Dennoch verstehe ich ehrlich gesagt nicht den Wirbel darum. Aber Sie haben Recht: es wird zumindest meistens kommentiert. Und es wird wohl noch einige Generationen so bleiben, bis es keine Ausnahme mehr ist.
Wobei es ja schon eine Menge Dirigentinnen gibt. Die Probleme fangen wie bei anderen Berufsgruppen offenbar dort an, wo es um Führungspositionen geht. Wenn eine Frau unter die Top 50 der Dirigenten will, dann hat die Macho-Gesellschaft ein Problem, oder?
Man hört schon blöde Bemerkungen. Als einmal eine Kollegin an einem Haus vorgeschlagen wurde, an dem ich bereits eine starke Präsenz hatte, hieß es plötzlich: „Da haben wir schon eine Frau.“ Das ist eine völlig unlogische Aussage. Aber man kann sich genau so gut fragen: Wieso gibt es eigentlich immer noch keine Frauen bei den Wiener Philharmonikern? Aber es kommt auch Bewegung hinein: Vor 50 Jahren gab es fast keine Regisseurinnen. Jetzt ist es fast schon üblich. Ungewohntes braucht Zeit, und der Musikbereich ist in dieser Frage vielleicht einfach etwas langsamer.
Wie gehen Sie damit um?
Ich denke, eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man braucht, ist die, zwischen Fakten und Problemen unterscheiden zu können: Fakten sind Tatsachen, die negativ sein können, die man aber trotzdem hinnehmen muss, weil man sie nicht ändern kann. Probleme sind nachteilige Umstände, die man in die Hand nehmen und verbessern kann. Daher lohnt es nicht, sich mit den Fakten zu quälen. Sie bleiben Fakten. Bei Problemen, für die man Lösungen suchen kann, lohnt es sich hingegen, Zeit zu investieren. Man kann das auch auf meine Anfangszeit in Deutschland beziehen. Ich kam nach Köln, war 25 Jahre alt - für einen Dirigenten viel zu jung - ich war Ausländerin, mein Deutsch war schlecht und ich war eine Frau. Das waren also drei Fakten: Alter, Herkunft und Geschlecht. Das Alter ändert sich ja von allein, aber an den beiden anderen Punkten konnte ich nichts tun. Das waren die Fakten. Das einzige, was ich als Problem sehen konnte, war meine Sprachkompetenz. Also habe ich daran gearbeitet, mein Deutsch zu verbessern. Ich glaube, es ist auch Teil meines Erfolges in Deutschland gewesen, dass ich immer gut kommunizieren konnte. Es ist wichtig, dass man die Fakten von den Problemen trennt und an den Problemen arbeitet. Dann kommt man auch weiter.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(07/2007)
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