Matthias Berg - Multitalent am Hang und auf der Bühne
Der Hornist mit Killerinstinkt
Er ist vielfacher Paralympics-Sieger, Deutscher Meister sowie Weltmeister in der Leichtathletik und im Alpinen Skisport, war Mitglied im Gremium "Sport and Law" des Internationalen Olympischen Komitees und ist gern gesehener Co-Kommentator der Paralympics-Übertragungen des ZDF. Seinen Lebensunterhalt verdient Matthias Berg als Volljurist - doch das Horn ist seine wahre Leidenschaft. Dass eine durch Contergan verursachte Behinderung dabei für ihn nie ein wirkliches Hindernis darstellte, illustriert das eloquente Multitalent auf ausgesprochen farbige Weise. Im Gespräch mit klassik.com verrät der junge Familienvater, wie Profisport, Musik und Juristerei unter einen Hut zu bekommen sind, warum Thomas Quasthoff den Boden der Realität verlassen hat und wozu ein Killerinstinkt von Vorteil ist.
Herr Berg, Sie sind hauptberuflich Jurist, Erster Landesbeamter und Stellvertreter des Landrates im Landratsamt Esslingen. Und jetzt haben sie eine CD herausgebracht, auf der Sie sich als versierter Hornist präsentieren. Bleibt denn neben der Juristerei überhaupt Zeit für das Konzertieren?
Oh ja, da bin ich immer noch ziemlich aktiv und habe gut 25 Konzerte im Jahr.
Und das Repertoire ist dabei eher kammermusikalisch oder solistisch?
Bei mir als Hornist geht das Querbeet. Am liebsten spiele ich natürlich solistisch. Das Spielen mit Orchester ist immer die Krönung. Solche Engagements sind bekanntlich ja eher schwierig zu bekommen. Was ich deutlich mehr habe, sind Konzerte für Horn und Orgel. Ich habe einen Organisten, Helmuth Brand - Kirchenmusikdirektor in Tuttlingen, mit dem ich regelmäßig zusammen konzertiere. Er hat für unsere Besetzung auch schon komponiert - ein sehr schönes, hoch interessantes Werk. Auch mit meiner Frau, die Klavier spielt, und meiner Schwester, die Sängerin ist, gebe ich oft zusammen Konzerte. Das besonders Schöne ist: Ich muss mich gar nicht um Konzerte aktiv bemühen, habe so viele Kontakte und bekomme so viele Anrufen mit Konzertanfragen, dass für Nachschub immer gesorgt ist. Für einen Musiker sind das eigentlich paradiesische Zustände.
Wahrscheinlich darf dann auch das obligatorische Hornquartett nicht in Ihrem Betätigungsfeld fehlen...
Oh ja genau, ich bilde mit drei Horn-Kollegen ein Quartett - ‚Classics Horns’ - mit denen ich regelmäßig Konzerte gebe. Das sind alles Berufsmusiker, die ich noch aus meinen Freiburger Studienzeiten kenne.
Betrachten Sie es als Makel im Vergleich zu ihren Kammermusikpartnern, nicht Vollprofi zu sein?
Ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Es hat einen ganz entscheidenden Vorteil. Als Berufsmusiker muss ich nehmen was kommt, weil ich ja mit der Musik meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich habe jedoch mit meiner Juristerei rein ökonomisch ein festes Standbein, das mir erlaubt, bei musikalischen Auftrittsangeboten wählerisch zu sein. So kann ich mich dort voll auf die spannenden, künstlerisch herausfordernden Projekte konzentrieren.
Sie haben in Freiburg Horn studiert und parallel zur Musik auch ein Jura-Studium betrieben. Ich stelle mir eine solche Konstellation enorm zeitaufwendig vor, vor allem wenn man beides auf hohem Niveau betreiben will…
... und vergessen Sie den Leistungssport nicht. Ich habe in dieser Zeit auch im Sommer Leichtatethik und im Winter vor allem Ski Alpin als Leistungssport betrieben und war dort auch immer ganz vorne mit dabei. Ich habe in dieser Zeit gelernt, ein enorm effektives Zeitmanagement zu betreiben. Nur so kann man diese Belastungen vernünftig bewältigen. Nicht zuletzt deswegen, weil ich auch gerne faul bin und mit Freunden gerne mal rumhänge.
Wieso musste es das Horn werden - wieso lernten Sie ein Instrument, das von der muskulären Veranlagung her ein gewisses Talent braucht?
Fangen wir doch bei der Genese ganz vorne an: Meine Eltern sind beide Musiker; die Mutter hat u.a. Orgel studiert und mein Vater ist Schulmusiker und hat auch ein Klavierstudium absolviert. Die Schwester ist wie erwähnt Mezzo-Sopranistin und mein Bruder ein professioneller Schlagzeuger - wir haben alle einen musikalischen Schlag mitbekommen. Da lag es nahe, dass auch ich etwas Musikalisches machen wollte. Meine Behinderung schränkt die Instrumentenauswahl ja ernorm ein. Eigentlich kam nur das Horn in Frage: es benötigt drei Finger für die Ventile und man kann es gut im Sitzen auf dem Schoß ablegen. Hinzu kam, dass meine linke Hand, da ich Rechtshänder bin, in jungen Jahren eine Trainingmöglichkeit benötigt hat. Da kam das Horn, dessen Ventile ja in der Regel mit links bedient werden, meinen Eltern gerade Recht; sie förderten so Musikalität und körperliche Entwicklung. Und Panflöte wollte ich nun wirklich nicht lernen.
Und so hat man Ihnen also als Kind ein gängiges Waldhorn vor die Nase gesetzt...
Nicht ganz. Zuerst haben wir mit einem Jagdhorn begonnen - also diesen kleinen, grün umwickelten Dingern, die man bei der Jagd spielt. So ein Ding habe ich mit sechs Jahren geschenkt bekommen. Dann haben mein Vater und ich gleichzeitig angefangen, aus dem Kopf heraus ein Jahr lang Jagdmelodien à la ‚Fuchs tot’ zu üben.
Ihr Vater hat mit Ihnen zusammen angefangen, Horn zu spielen?
Wie erwähnt war er ein sehr guter Pianist und hat auch vorzüglich Fagott gespielt. Ein Blechblasinstrument fehlte ihm aber in seiner Fähigkeitenpalette, und so hat er das zusammen mit mir begonnen. So konnten wir eben auch von Beginn an zu zweit spielen, was viel interessanter ist. Offensichtlich hatte ich großen Spaß daran und meine Fertigkeiten haben sich schnell entwickelt, so dass meine Eltern dann nach einem Jahr mir ein richtiges Waldhorn gekauft haben.
Ließ denn Ihre Behinderung die Benutzung eines regulären Waldhorns zu?
Nun, das Gewicht war ja kein Problem, da ich das Instrument ja auf dem Schoß zu liegen hatte. Der Aufbau des Horns wurde meinen Bedürfnissen angepasst. Wir lebten damals in Detmold und hatten die Hornfirma Finke direkt in der Nachbarschaft. Damals sind wir wie bei einem Maßschneider alle paar Wochen hin und her gefahren und haben geguckt, wie groß das Instrument bei mir sein darf, wo die Ventile sitzen müssen, wie das Mundrohr gebogen sein muss, damit ich im Sitzen auch spielen kann, ohne mich seitlich zu verdrehen. Dabei ist dann das Instrument entstanden, das ich heute in der Struktur auch noch habe, nämlich ein ganz normales F/B-Doppelhorn, bei dem die innere Maschine ein wenig im Uhrzeigersinn gedreht wurde, so dass die Ventile ein weniger höher sitzen. Und die letzten 30 cm des Mundrohres haben eine andere Biegung, damit es genau gerade auf mich zukommt - ähnlich einem Susaphon.
Was ist mit dem Umschaltventil geschehen und der Möglichkeit des Dämpfens bzw. Stopfens?
Da haben wir eine sehr schöne Lösung gefunden. Das Umschaltventil wurde einfach mit einer Stabverlängerung auf die rechte Hand gelegt. Und für das Dämpfen haben wir eine Konstruktion entwickelt, die es mir erlaubt, den Dämpfer mit dem Fuß über einen Ständer in den Schalltrichter zu schieben und wieder heraus zu ziehen. Alles ist unauffällig gestaltet und als Veränderung kaum zu sehen. Mir war es als Kind immer wichtig, möglichst alles so zu bekommen wie andere auch. Ohne Extrawürste oder Sonderbehandlung. Egal ob Instrument oder Fahrrad. Ich fand es immer furchtbar, mit etwas fahren zu müssen, das anders aussah. Und so war es mir auch beim Horn wichtig, dass es nicht ‚behindert’ aussah. Das hat der Finke damals wirklich toll hinbekommen.
Sechs Jahre ist ein recht junges Alter, um mit einem Blechblasinstrument zu beginnen. Taten Sie sich schwer mit der Entwicklung?
Überhaupt nicht. Mit Sieben bekam ich wie gesagt mein erstes Waldhorn und mit neun Jahren habe ich dann bei Jugend Musiziert mitgemacht, hab den zweiten Satz des ersten Mozart Hornkonzertes gespielt, und auf Bundesebene den zweiten Preis gewonnen. Es ging also super los. Später kam dann auch noch ein Sieg bei Jugend Musiziert hinzu.
Geschah dies alles aus eigenem Antrieb oder gab es da auch einen gewissen Ehrgeiz von Außen, der diese Entwicklung vorantrieb?
Also als Druck von Außen oder durch meine Eltern habe ich das alles nie empfunden. Vielmehr war Jugend Musiziert eigentlich so eine Art Retter für mich; ich hatte immer einen sehr willkommenen Zielpunkt, auf den ich hinarbeiten konnte. Ohne diese Wettbewerbe hätte ich wohl nicht stramm genug geübt. Mit 13 Jahren bekam ich ein Stipendium des Südwestfunks wegen meiner hohen Begabung und wurde damit Vorstudent an der Freiburger Musikhochschule. Da hat sich also gezeigt, dass ich offenbar über eine Begabung verfüge, die den Beruf des Musikers zulassen würde. Jaroslav Kotulan war dort mein erster Lehrer, bevor ich bei Ifor James mein richtiges Studium aufnahm. Kotulan hat mir die Grundlagen gelegt, von denen ich heute noch zehre. Nach seinen Methoden mache ich bis heute mein tägliches Training, das Warm-up ebenso wie die Konditionsübungen. Im Studium wie auch heute habe ich nie mehr als 1,5 Stunden am Tag geübt.
Blechbläser werden schnell bemerken, dass das enorm wenig ist…
Für mich hat es immer genügt, konditionelle Probleme kamen dabei nicht vor. Es ist eben eine Frage der Intensität, der Konsequenz, also der Übequalität und nicht der Quantität. Bei mir gab es das nicht, dass ich mal 3 Minuten Pause gemacht habe. Meine maximale Pause beim Üben bestand im Umblättern, dem Wasser ausschütten oder dem Holen eines neuen Stückes. Da half mir sicher auch mein Know How vom Leistungssport. Ich wusste von dort ja, wie muskuläres Training aussehen sollte, welche Pausen und Belastungsphasen es für Höchstleistungen braucht. Man muss eigentlich nur die Methoden aus dem Sport auf das Hornspielen übertragen und erzeugt dadurch ähnliche Effekte.
Wo Sie es gerade erwähnen: Wie kamen Sie denn überhaupt zum Leistungssport?
Oh, das mit dem Sport hat eigentlich eher zufällig begonnen. Als meine Eltern aus dem Westfälischen nach Trossingen kamen, gab es ein Rundschreiben einer örtlichen Gruppe, die Familien und deren Kinder mit Behinderung für eine Skifreizeit suchte - Württembergweit. Dort sind wir mitgefahren und am Ende gab es ein Abschlussrennen, mehr so zu Spaß. Doch ich hatte einen Narren an der Sache gefressen. Im Jahr darauf wurden die Rennen auf Zeit gefahren. Ich hatte einen riesengroßen Spaß an der Sache und wollte mehr. So bin ich dann Stück für Stück in den Leistungssport reingerutscht. Die gleiche Gruppe war es auch, die gesagt hat: „Komm doch auch mal im Sommer; komm auf die Laufbahn und mach mit.“ Und dort haben wir gemerkt, dass ich naturgegeben ohne viel Übung zu den Schnellen gehörte. Hinzu kam etwas Training, und ganz schnell gehörte ich zur deutschen und auch zur internationalen Spitze. So schnell und einfach ging das. Seit 1994 mache ich aber keinen Leistungsport mehr - meine drei Weltrekorde in der Leichtathletik (100 Meter, Weitsprung und Hochsprung) gelten aber heute noch.
Haben Sie in Ihrer musischen Laufbahn auch Orchestererfahrung sammeln können?
Ja sicher, vor allem in der Jugend- und Studentenzeit, wo ich die typischen Jugendorchester einer Region durchlaufen habe. Übrigens waren da auch sehr viele Blasorchester bei - nicht verwunderlich, wo wir doch im süddeutschen Raum, also in Trossingen wohnten. Hier habe ich die Arroganz des klassischen Musikers gegenüber der Gattung Blasmusik abgelegt. Wenn Sie als Hornist einmal in einem Höchststufenorchester Filmmusik mitgespielt haben, dann werden Sie sehr vorsichtig werden mit dem Satz: Das ist ja nur Blasmusik.
Aber den Wunsch, richtiger Orchestermusiker zu werden, hatten Sie nicht?
Doch durchaus. Es gab einen Scheidepunkt. Ich habe ja durch „Jugend musiziert“ gemerkt, dass ich durchaus als Hornist etwas tauge. Nach dem Bundeswettbewerb 1981 hatte ich ein Jurygespräch mit dem Vorsitzenden Michael Höltzel, der damals noch die Hornsprofessur in Detmold innehatte. Ihn habe ich gefragt, wie er meine Chancen einschätzt, in einem guten Orchester als Hornist unterzukommen. Vom Spielen her sah Höltzel gar keine Probleme. Er sagte aber auch, dass ich damit rechnen müsse, dass deutsche Orchester konservativ sind, d.h. sie werden keine Experimente eingehen. Wenn man in einem Probespiel zwischen mir und einem anderen Kandidaten mit gleichen musikalischen Fähigkeiten entscheiden müsste, würde man sicher nicht den nehmen, dessen Stopftechnik risikoreich erscheint, der nicht im Stehen spielen kann und optisch etwas anders dasitzt. Darauf müsse ich mich einstellen. Das war ernüchternd aber einleuchtend. Und wenn Ihnen ein absoluter Fachmann wie Michael Höltzel also sagt, dass Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Ihre Behinderung einen Nachteil haben werden, dann ermuntert das zum Umdenken. Deswegen habe ich mich auch für das Jura-Studium entschieden. Das sollte mein Beruf werden.
Trotzdem haben Sie die Musik nicht aus Ihrem Leben verbannt.
Musik wollte ich ja keinesfalls aufgeben. Ich wollte mich auf diesem Sektor verbessern und entwickeln. Also habe ich mich an der Musikhochschule in Freiburg beworben - wo ich ja schon sechs Jahre lang Vorstudent war - und bin auch ohne Probleme genommen worden. In den ersten Semestern habe ich mich aber zugegebenermaßen vorwiegend auf Jura und meinen Sport konzentriert und die ganzen Nebenfächer des Musikstudiums ausgespart…
Wie haben Sie es bloß geschafft, drei Dinge - also ein Musikstudium, eine Jurastudium und den Leistungssport - auf höchstem Niveau parallel zu betreiben?
Das Studium habe ich etappenweise absolviert und mich immer schwerpunktmäßig auf Musik oder Jura konzentriert. Man kann nicht drei Dinge im Leben auf höchstem Niveau parallel machen. Die Intensität des Leistungssports habe ich immer nach dem Terminkaleder der großen Events ausgerichtet - alle 2 Jahre waren entweder Paralympics oder Weltmeisterschaften, die ich dann immer mit einem Jahr Vorlauf an intensivem Training angegangen bin. Das Musizieren lief jedoch als eine Art Kontinuum parallel mit - es war ja meine Haupteinnahmequelle. Eine Skisaison kostete mich im Jahr gut 14.000 DM - das ist für einen Studenten eine Riesenhaufen Geld. Also habe ich zusehen müssen, immer genug Geld mit dem Hornspielen zu verdienen.
In diesen Lebensabschnitt fällt auch Ihre Zeit als Hornist in Manfred Schreiers Orchester ‚Musik der Jahrhunderte’ in Stuttgart …
...genau. Den Manfred Schreier hatte ich bei einem Projekt kennen gelernt, wo er dirigierte und ich solistisch auftrat. Ihm gefiel, was ich machte und so fragte er mich, ob ich Lust hätte, bei ihm im Orchester zu spielen. So wurde ich dann von 1984 bis 1989 fünf Jahre lang sein erster Hornist dort. Wir haben sehr viel moderne Musik gemacht, häufig auch als Orchester bei Kompositionswettbewerben. Im gesamten süddeutschen Raum bis hin nach Österreich und auch Holland haben wir gespielt. Da war natürlich alles bei - von genialer Musik bis hin zu unspielbarer Musik. Die Klassik und Romantik war bei Schreier fast komplett ausgespart; dafür hat er viel Bach gemacht. So kam ich auch zu meinen ersten Weihnachtsoratorien und h-Moll-Messen - als absoluter Neuling auf diesem Feld. Das war durchaus mutig von ihm.
Haben Sie sich denn je dem Stress eines Probespiels um eine Orchesterstelle ausgesetzt, trotz der Warnung von Michael Höltzel?
Ja habe ich, beim Orchester des Südwestfunks in Kaiserslautern. Das war in meinem fünften oder sechsten Semester des Studiums. Mir ging es darum, herauszufinden, ob das, was der Höltzel mir damals sagte, wirklich stimmt; ob ich wirklich keine Chance habe. Ich habe das Probespiel um die Stelle dann gewonnen und steckte ein wenig in der Zwickmühle. Ich wollte ja nur austesten. So musste ich meine Geschichte erzählen und habe dann darum gebeten, einen der anderen beiden Kandidaten, die es in die letzte Runde geschafft hatten, zu nehmen. So bekam dann eine Kollegin die Stelle, die diese bis heute noch hat.
Sind Sie ein kompetitiver Mensch? Suchen Sie den Wettstreit?
Ich denke ja, absolut. Natürlich im Sport, aber nicht nur dort. Allerdings nicht in der ‚ich will es allen zeigen’-Form, die man als Behinderter schnell als eine Art Überkompensation an den Tag legen kann. Um im Leistungssport ganz vorne zu sein, müssen Sie einfach mit einem Killerinstinkt ausgestattet sein, ganz unabhängig von einer Behinderung. Dieser Wunsch, alle Leistungsbereiche voll auszuschöpfen, überträgt sich bei mir vom Sport auf alle Bereiche des Lebens - auf das Hornspielen ebenso wie auf meinem Beruf. Man muss jedoch immer auch Teamfähig bleiben und erkennen, dass man als Einzelner nur wenig erreichen kann.
Wie sehen Sie denn den Wunsch des Baritons Thomas Quasthoff, selbst ja contergan-geschädigt, nur als Künstler losgelöst von der Behinderung gesehen zu werden? Ein an sich ja leicht nachvollziehbarer Wunsch.
Haben Sie kürzlich das Interview mit ihm in der Zeit gelesen? Das hat mich nämlich sehr enttäuscht. Ich kenne Thomas Quasthoff persönlich ein wenig, hab einmal einen ganzen Tag mit ihm in den USA verbracht. Ich habe eine sehr große Hochachtung vor ihm. Deshalb finde ich es enttäuschend, wenn er sagt, dass das, was er macht, mit Behinderung nichts zu tun hat. Das verkennt, dass wir in unserer Position, exponiert aufzutreten mit der Behinderung ein Gesamtprodukt sind. Sie können niemals unterscheiden, kommen die Leute, weil da ein Behinderter singt, oder weil er eine phänomenale Stimme und eine tolle Bühnenpräsenz hat. Und wenn er dann anfängt zu sagen, wer wegen meiner Behinderung kommt, den mag ich nicht - ich will, dass man nur mein Singen hört - dann verkennt er, dass man ein Gesamtprodukt ist. Diesbezüglich denke ich, hat Thomas Quasthoff den Boden der Realität verlassen. Seine Stimme für sich ist sicher schön - zum bewunderten Star macht ihn jedoch erst die Kombination aus Stimme und Behinderung - also das Gesamtprodukt.
Lassen Sie uns noch ein paar Gedanken Ihrer neue Plattenproduktion widmen. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Pianistin Reiko Honshoh?
Ich habe Reiko Honshoh auf einer meiner Tourneen nach Japan über die dortige Horn Foundation kennen gelernt und durfte dort einige Male mit ihr zusammen spielen. Sie ist eine phänomenale Künstlerin mit einer reichen musikalischen Erfahrung als Solistin mit allen großen Orchestern des Landes. Wir haben schon damals vereinbart, dass, wenn ich mal eine Platte machen sollte, nur sie als Partnerin in Frage kommt. Nachdem wir so lange über dieses Projekt gesprochen und uns ausgetauscht hatten, haben wir es nun endlich realisiert.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Werke ausgewählt? Das Horn-Repertoire ist ja bekanntermaßen eher ein übersichtliches.
Ich hatte seit vielen Jahren eine kleine Liste mit den Werken, die ich gerne auf eine CD pressen wollte. Die finden sich nun auch alle auf dem ‚Debut’-Album. Das sind zum Teil ja Stücke, die noch nie eingespielt wurden. Der Mendelssohn zum Beispiel: den hat mein Vater ausgesucht, und wir haben ihn gemeinsam bearbeitet fürs Horn. Dass zwei Werke von Ifor James mit drauf sind, war mir auch wichtig. Schließlich war er mein Lehrer, ihm verdanke ich sehr viel. Und das Werk von Giselher Klebe gehört auf die Platte, weil es ganz einfach tolle Musik ist - genau so wie die Bearbeitungen der jiddischen Folklore von Lev Kogan. Es gab für mich bei der Auswahl zwei entscheidende Kriterien: es sollten keine Stücke für Hornfreaks sein, und ich wollte schöne Melodien, also Werke, die einfach schön klingen.
Mit Blick auf Ihren ausgesprochen reichen Lebenslauf: was sind ihre künstlerischen Pläne für die nächste Zeit?
Es gibt zwei Dinge, die mich noch sehr reizen: Zum einen würde ich sehr gerne wieder mehr solistisch mit Orchester spielen; da arbeite ich dran. Und ich würde sehr gerne noch eine große Japan-Tournee machen - natürlich auch mit der CD im Petto - verbunden mit Benefiz-Konzerten zugunsten von Vereinen, die Eltern von Behinderten helfen. Die Behindertenförderung ist leider gar nicht mit der hiesigen zu vergleichen. Da kann man noch viel Gutes tun.
Das Gespräch führte Frank Bayer.
(01/2007)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!