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Montag, 27. März 2023

Von Buddha-Bar bis Mozart - der Countertenor Andreas Scholl im Gespräch

"Ich habe meinen Platz gefunden!"


Kaum ein Konzertbesucher stört sich heute noch an Sängern, die Ihre Kopfstimme kultiviert haben und in den Registern des Altus heimisch sind. Überwunden scheinen die traditionsbehafteten Klischees, die dem barocken Kastratentum und mit ihm den Countertenören der historischen Aufführungspraxis über Jahrzehnte anhingen. Ein Umstand, der nicht zuletzt Sängern wie Andreas Scholl zu verdanken ist. Der Altus gehört seit vielen Jahren zu den renommierten dieses Genres; legendär sind seine Bach-Interpretationen, unverwechselbar sein wohlig strömendes Timbre. Dieser Tage stellt der Wahlschweizer seine neueste Produktion vor - eine Platte mit Arien Georg Friedrich Händels, die ihn als flexiblen Virtuosen und geschmackvollen Musiker gleichermaßen präsentiert. klassik.com traf den gebürtigen Hessen auf einen mittäglichen Salat und ein ausgiebiges Gespräch in seiner Wohn- und Wirkungsstätte Basel.

Herr Scholl, Sie klingen ganz schön erkältet…

Oh ja, mich hat es erkältungsmäßig erwischt, aber es ist ein beglückendes Gefühl, dann krank zu sein, wenn man es sich auch leisten kann. Ich habe jetzt keine Konzerte für Wochen, weil als nächstes eine szenische Johannespassion auf dem Plan steht. Da ist die erste Aufführung erst Ende März. Also kann ich in Ruhe krank sein - das ist ein tolles Gefühl.

Wie oft sind Sie noch in Basel zum Unterrichten?

Ich bin übers Jahr gesehen sechsmal für zwei komplette Tage hier und unterrichte. Aber da ich ja in Basel lebe, bin ich auch flexibel genug, bei Bedarf außerhalb dieser festen Tage einmal Unterricht zu geben. Ich habe hier studiert an der Schola cantorum, bin in Basel seit 20 Jahren hängen geblieben und finde die Stadt fantastisch. In zehn Minuten bin ich mit der Straßenbahn in der Hochschule, und genau so schnell beim Shoppen in der City. Aber das wird sich ändern. Anfang nächsten Jahres ziehe ich dann wieder ganz offiziell zurück nach Deutschland…

Wie kommt’s?

Ich habe ein Haus gekauft in meinem hessischen Heimatort ... und fange jetzt im Sommer dort an zu renovieren, so dass wir, meine Freundin und ich, im Januar 2008 den Hauptwohnsitz nach Deutschland rückverlegen wollen. In Basel behalte ich aber eine kleine Wohnung, in der sich jetzt noch mein Tonstudio befindet.

Sie sprechen es schon gerade an: Warum halten Sie sich ein eigenes Studio?

Ganz einfach, weil ich Pop-Musik mache. Das ist mein großes Hobby. Ich habe knapp zwanzig verschiedene Synthesizer dort zu stehen und bastle meine eigene Musik.

Was muss ich mir darunter vorstellen?

Kommerzielle Unterhaltungsmusik, Popsongs, Balladen, tanzbare Sachen - mal etwas mehr akustisch, mal etwas mehr elektronisch. Aber alles sehr kommerzielle Popmusik, die man auch im Radio spielen kann. Einiges geht in die ‚Buddha-Bar’-Richtung, ein Stil, den ich persönlich sehr mag. Ich sing dabei auch mal, allerdings ohne eine zweite Shakira oder Christina Aguilera sein zu wollen. Die Stimme setze ich aber wie in der Alten Musik ein. Der Countertenorklang ist ja auch in der Popmusik nicht Fremd.

Wie kamen denn Sie dazu zu sagen, neben Händel und Konsorten möchte ich auch Popmusik machen?

Das war eine ganz frühe Entscheidung. Ich habe lange nicht gewusst, dass sich Gesang machen würde. Als Teenager hätte ich nie gesagt, dass ich Sänger werden will…

Copyright Eric Larrayadieu

...aber dann lassen Sie uns doch ganz am Anfang beginnen. Sie sind in Kiedrich in der hessischen Provinz Ende der Sechziger Jahre geboren…

...genau, beide Eltern waren Hobbymusiker. Mein Vater spielt Orgel und Klavier, hat auch über Jahrzehnte hinweg einen gemischten Chor dirigiert und singt bei den Männerstimmen der Kiedricher Chorbuben mit. Und da habe ich eben auch mitgemacht, wie auch meine Geschwister. Bis auf meine Mutter haben also alle im Chor gesungen. Das Singen war für mich keine Kunst sondern einfach eine Sache, die man jeden Tag gemacht hat - immer mit großem Spaß verbunden. Meine Eltern mussten mich nie zu den Gesangsstunden drängen, weil ich da ja auch meine Freunde getroffen habe. Der Chor war also der zentrale Treffpunkt für alle, unser soziales Netzwerk - im Winter haben wir Tischtennis gespielt, im Sommer Fußball und zwischendurch wurde gesungen. Und als Teenager habe ich eigentlich nur Popmusik gehört. Klassik oder Barockmusik wäre mir nicht in den Sinn gekommen; diese Richtungen habe ich erst viel, viel später entdeckt.

Und Sie singen heute noch die gleiche Stimmlage, die Sie als Teenager bei den Kiedricher Chorbuben auch sangen…

Im Chor war ich Knabensopran. Dann kam der Stimmbruch und ich habe einfach weiter gesungen. Unter Aufsicht der Stimmbildnerin sollte ich probieren, weiter in der Sopranlage zu singen. Solange die Stimme keinen Schaden nähme, wäre das doch in Ordnung, meinte mein Chorleiter. Und die Stimmbildnerin sagte dann irgendwann: ‚Mensch, jetzt bist du sechszehn und singst immer noch im Sopran, und es klingt auch gar nicht wie eine Kinderstimme, sondern das ist jetzt ein Countertenor - so nennt man das.’ Damals habe ich zum ersten Mal diesen Begriff gehört. Mit einem Freund habe ich nebenbei Popmusik gemacht, mir meinen ersten Synthesizer gekauft und elektronische Klänge selbst programmiert - damals noch alles auf einem Commodore 64. Das war also die Pionierzeit der elektronischen Musik.

Und wann kam der Punkt, wo Sie zum ersten Mal mit der Idee konfrontiert wurden, Gesang als Beruf auszuüben?

Das war auch wieder die Schuld meine Stimmbildnerin, die sagte: ‚Überleg dir doch mal, ob du das nicht studieren willst.’ Das ist für mich heute noch ein Wunder, weil ich nie das Bedürfnis hatte, Musik oder Gesang zu studieren.

Copyright Eric Larrayadieu

Hatten Sie keine Bedenken als Siebzehnjähriger ein solches Fach zu studieren? Ich kann mir gut vorstellen, dass die für Männer ungewohnte Stimmlage unter Gleichaltrigen zu manch Hohn und Spott führte.

Nein, an solche Dinge kann ich mich nicht erinnern. Ich habe mir ein paar Aufnahmen angehört, die ein Onkel von mir kopiert hatte. Das waren Recordings von James Bowman und Paul Esswood von Platte auf Kassette überspielt. Ich fand das ganz gut, aber so richtig fasziniert hat es mich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Da ich damals aber eh keine anderen Pläne mit meinem Leben hatte, hab ich es einfach probiert. Obwohl, ich wollte als Teenager auch zur GSG 9 gehen, die mich aber nicht genommen hätten, weil ich stark geschielt habe. Und es gab mal den Wunsch, Theologie zu studieren. Ich habe also nach dem Abitur noch fix meinen Wehrdienst absolviert und dann 1987 hier in Basel mein Gesangstudium begonnen.

Haben Sie den Beschluss in den Anfangsjahren manchmal bereut?

Zu Beginn war meine Auffassung: Wenn ich fertig studiert habe, bin ich 25 und kann, sollte es nötig sein, immer noch etwas anderes als Gesang machen. Doch es gab dieses kleine Schlüsselerlebnis in der Anfangszeit meines Studiums: Die Kölner Sopranistin Gundula Anders hat damals zusammen mit zwei anderen Sängern Monteverdis ‚Lamento della Ninfa’ gemacht. Ich habe das in einer Probe gehört. Es war das erste mal, dass mich jungen Erwachsenen Musik zu Tränen gerührt hat. Dafür war ich eigentlich gar nicht der Typ. Da dachte ich mir: Mensch, vielleicht bist du hier doch am richtigen Ort. Und alles musste so kommen wie es kam. Im Nachhinein könnte ich mir jetzt gar keinen anderen Beruf mehr vorstellen. Das Studium ist dabei sehr hilfreich gewesen: All die Informationen aus den Musikwissenschaften, der Theologie, der Musiktheorie und die vielen Lehrer, die einen an die Hand nehmen und die richtigen Anregungen geben. Da war es rückblickend ein Leichtes für mich, mit etwas Nachdenken zu erkennen, dass Sänger genau der Beruf ist, den ich ausüben möchte. Ich habe also so meinen Platz im Gesellschaftssystem gefunden. Das Kommunizieren von Musik ist für mich größtmögliche Erfüllung.

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Haben Sie sich damals bewusst für Basel entschieden?

Nun, man konnte zwischen der Schola Cantorum in Basel und einer Ausbildung in England wählen. Meinen Eltern war Basel lieber. Da war ich besser unter Kontrolle; in drei Stunden war man da und konnte, wenn nötig, dem Sohn mal auf die Finger (sc)hauen. Ich hatte den großen Luxus, dass meine Eltern mir mein Studium finanzierten und ich mich in aller Ruhe ausschließlich auf die Ausbildung konzentrieren konnte. Solange also keine negativen Berichte aus Basel an das elterliche Ohr drangen, floss das Geld. Wenn es Beschwerden gegeben hätte, wäre es vorbei gewesen. Diese Disziplin war sehr hilfreich und auch selbstverständlich bei uns. Meine Eltern hatten in dieser Zeit einen Gemüsegroßhandel und sind jeden Tag um 3 Uhr in der Früh raus und hatten einen 12 Stunden Tag, sechs Tage die Woche. Ich habe da als Kind auch oft mit geholfen. So war mir klar, das Geld, das ich hier bekomme, fällt nicht vom Himmel. Dafür arbeiten meine Eltern extrem hart. Und so war es selbstverständlich, dass ich die Chance in Basel nutzen wollte.

Und die Eltern haben das Experiment Sänger immer voll mitgetragen?

Ja, das haben sie. Damals gab es auch nicht so viele Countertenöre auf professionellem Niveau wie heute. Ich hatte ein Vorsingen bei dem Tenor Herbert Klein in Stuttgart und der sagte zu meinem Vater: ‚Herr Scholl, hier singen viele vor, aber das ist wirklich eine besondere Stimme. Wenn er nicht faul ist und seine Arbeit macht, dann kann er auch davon Leben.’ Ich glaube, dieses Urteil zusammen mit dem positiven Feedback von der Baseler Aufnahmeprüfung war für meinen Vater das Ausschlaggebende, um von meinen Absichten überzeugt zu sein. Auch wenn meine musiktheoretischen Kenntnisse wenig beglückend waren. Ich habe heute noch den Brief vom damaligen Direktor, in dem stand: ‚Sehr geehrter Herr Scholl, an ihre Gesangsdarbietung erinnern wir uns gern, an Ihre Theoriekenntnisse weniger.’

Copyright Eric Larrayadieu

Diese Lücke durften Sie ja sicher während des Studiums intensiv schließen. Lag Ihnen dieser Teil, oder war es mit viel Quälerei verbunden?

Nun, quälen gehörte leider dazu. Was mir absolut nicht lag, war das Generalbassspiel. Mein Generalbasslehrer war der gleiche, der mich auch auf dem Cembalo unterrichtete. Es war schnell abzusehen, dass nur eine der beiden Prüfungen zu bestehen ist. Ein Streichresultat hatte man ja frei. Und es war ganz schnell klar, dass wir Generalbass opfern müssen, so dass ich dann wöchentlich statt beider Fächer, immer eine Stunde Cembalo hatte und intensiv üben konnte, um hier sicher durchzukommen.

Hatten Sie denn damals ungefähr eine Ahnung davon, was der Sängerberuf an Herausforderungen mit sich bringen würde?

Nein, absolut nicht. Da bin ich reingewachsen. Ich hatte auch riesengroßes Glück mit meinen Lehrern. Ich habe ja sowohl mit Richard Levitt, der meine Stimme entwickelt und aufgebaut hat, wöchentlich gearbeitet, wie auch mit René Jacobs, der damals auf Kursbasis, so wie ich heute, hier unterrichtete. Das war eine super Kombination. Die zwei haben sich gut verstanden. Jacobs kümmerte sich um die musikalischen Belange, und Levitt war ein genialer Lehrer für Technik.

Was ist das Besondere an René Jacobs als Lehrer?

René trägt ja diese unglaubliche Begeisterung für die Musik, die er macht, in sich. Wenn er dirigiert, liest man ihm am Gesicht ab, was er will. Das Besondere ist wirklich, wie er einen stimuliert und antreibt - wie bildhaft intensiv er Musik vermittelt. Witzig auch, wie er immer am Ende der Stunden sagte: ‚Wenn du am Wochenende das Stück im Konzert singst, dann sag aber nicht, dass ich dir gesagt habe, du sollst das so und so singen.’ Es ging immer nach dem Schema: Hier ist meine Idee; brüte mal drüber, aber du musst alles am Ende selbst verantworten. Er ist also jemand, der dich unheimlich dazu anhält, dir eigene Gedanken zu machen. Lass dich nicht nur mit fremden Ideen füttern, sondern biete etwas Eigenes an. Vielleicht noch ein Beispiel: Ich hatte jüngst eine Schülerin, die in einer Stunde Mozarts ‚Abendempfindung’ sang und ich schlug vor, wenn sie nicht durchkäme, doch an einer bestimmten Stelle Extraatem zu nehmen. Und Sie antwortete, dass man ihr gesagt hätte, wenn Sie es nicht auf einem Atem sänge, sei bei Wettbewerben kein Preis zu gewinnen. Ich hab ihr gesagt: ‚Dein Gesicht zeigt, ob der Spannungsbogen unterbrochen wird oder nicht. Wir stellen hier ja keine olympischen Rekorde auf.’ Es gibt eine Jury, die das anhört - sei’s nun Bach oder Händel oder Mozart - und dann gibt es die Herren Bach, Händel und Mozart im Himmel sozusagen, die das anhören. Und denen ging es nicht um Rekorde im langatmigen Singen, sondern um die Botschaft. Und wenn mich ein Sänger bewegt, mit dem was er singt, dann hat er bei Herrn Bach (und bei mir) 100 Punkte - egal ob da nun zwei Töne etwas unsauber sind oder nicht. Es gibt also diese metaphysische Ebene, die eigentlich die Reelle ist, um die es bei Musik geht. Und es gibt diese technischen Aspekte. Oftmals vertauschen Leute die Gewichtungen beider Seiten. René Jacobs aber ist einer, bei dem immer klar ist worum es geht, nämlich: ‚Sie müssen singen, als ob ihr Leben davon abhängt!’

Stören Sie sich eigentlich nicht am eingeschränkten Repertoire des Counter-Fachs?

Aber es ist doch gar nicht eingeschränkt - wir reden von 350 Jahren Musik. Mir hat ein Sänger mal gesagt: ‚Mach dir darum keine Gedanken. Du kannst bis ans Ende Deiner Jahre englische Lautenlieder singen, ohne eines zweimal singen zu müssen.’ Dann habe ich Bach, Händel, Vivaldi, Oratorien und Opern, ich habe die frühen Mozart-Opern. Ich muss aber auch sagen, dass für mich die ehrlichste Art der Musikkommunikation in der Alten Musik zu finden ist. In einer Verdi-Oper zum Beispiel, zwischen Forte und Fortissimo, ist der Text nicht mehr so wichtig. In der Alten Musik ist er unbedingter Bestandteil des Rollenverständnisses. Meine Gestaltungsmöglichkeiten sind hier einfach ganz andere. Oder nehmen sie das Kunstlied: Aus technischer Sicht sind Schuberts Lieder eigentlich nicht schwer zu realisieren. Warum aber kommen sie in heutigen Aufführungen immer so gekünstelt und gestelzt daher? Ich persönlich möchte, dass man nach dem Hören einer Darbietung sagt: ‚Mensch, tolles Lied’ und eben nicht ‚Toller Sänger’. Ich kann mit dem nachklassischen, klischeebelasteten Repertoire einfach nicht viel anfangen. Mein Credo ist: Ich steh im Dienst der Musik und des Textes, und die Musik ist da, um den Text zu unterstützen. Dieses finde ich in der Alten Musik am Besten reflektiert.

Copyright Eric Larrayadieu

Sie haben jüngst eine neue Platte mit Händel-Arien produziert, jetzt wieder auf ihrem alten Label Harmonie Mundi france. Was hat sie nach fast 10 Jahren bei der Decca zurück in die Arme eines Independent-Labels bewegt?

Nun, man soll sich ja stetig umschauen und die eigenen Positionen hinterfragen. Als ich bei der Decca anfing, war das eine enorm spannende Angelegenheit. Ich traf auf ein unheimlich engagiertes, enthusiastisches Team, das sich sehr um mich bemüht hat. Und bis zur letzten Produktion basierte alles noch auf den Plänen des damaligen E&A Managers, der aber schon sechs Monate nach meiner Unterschrift wieder gefeuert worden war. Mit seinem Weggang hat sich das Klima und auch die Repertoireplanung verändert. Ich fühlte mich etwas alleingelassen, die Kommunikation in einem solch großen Konzern gestaltete sich nicht immer optimal. Auch meine Programmvorschläge trafen am Ende nicht auf große Gegenliebe. So hatte ich nach zehn Jahren das Gefühl, es ist an der Zeit sich wieder zu verändern, zurück zu einem Label, das für Kontinuität auf höchstem Niveau steht, wo ich nach 20 Jahren noch mit der gleichen Chefin zusammen arbeiten und mich auf jedes Wort verlassen kann.

Welchen Begriff bevorzugen Sie - Countertenor oder Altus?

Das ist mir eigentlich gleich. Ich habe keine geschützte Berufsbezeichnung. Mein Mathelehrer sagte früher immer: ‚Herr Scholl, sie dürfen sich auch Mathematiker nennen, solange sie sich nicht Diplommathematiker nennen. Dann wäre es eine geschützte Berufsbezeichnung. Counter oder Altus, bezeichnet für mich das Gleiche.

Copyright Eric Larrayadieu

Was fasziniert aus Ihrer Sicht die Hörer am Countertenor heute?

Da sind wir wieder bei den Klischees. Ich denke dass die Leute es mögen, zum einen, weil es etwas exotisches, etwas nicht Alltägliches ist. Das liegt sicher auch daran, dass es noch immer ein neuer Klang ist, an dem man sich nicht sattgehört hat. Auch das größer gewordene Repertoire spielt sicher eine Rolle. Wir haben ja heute schon Countertenöre, die in der Lage sind, mit opernhafter Strahlkraft zu singen. Und der gesteigerte Farbenreichtum in den Counterstimmen ist auch ein wichtiger Parameter. Die Zeiten, da man als Counter einen Exotenbonus hatte, sind längst vorbei. Wenn ich mich an manche Bachproduktion aus den Achtzigern und frühen Neunzigern erinnere, wo jeder Kantor, weil es gerade schick war, zu Passionsaufführungen einen Countertenor engagierte, dessen Qualitäten neben denen der Kollegen in der Regel deutlich abfiel, sind weitestgehend überstanden.

Wie kommen Sie mit Ihren singenden Counter-Kollegen klar - ist man als Altus so divenhaft, wie es das Klischee gerne sieht?

Um Himmelswillen, nein. Keine Diven. Ich erinnere mich beispielsweise an einen Wettbewerb in Polen, wo wir zu fünft in einer Garderobe waren. Plötzlich fing einer an zu lachen und sagte: ‚Fünf Countertenöre in einer Garderobe. Jetzt stellt euch mal vor wir wären Sopranistinnen. Wir hätten uns längst die Augen ausgekratzt.’ Es sind sogar eher freundschaftliche Verhältnisse. Bei Opernproduktionen gehört es dazu, dass man mit Kollegen abends ein Bier trinkt, zusammen kocht und Filmabende macht. Ich habe immer einen portablen Projektor dabei und komme da mit allen wirklich gut aus. Wir sind ja meist alle stimmlich auch sehr verschieden. Nehmen Sie David Daniels zum Beispiel. Ich denke, jemand, der David hören will, wird nicht mich hörten wollen und umgekehrt. Wir sind individuell genug, um nicht im Revier des anderen zu wildern.

Haben Sie Angst vor Regisseuren?

Eigentlich nicht. Und meine Erfahrungen mit ihnen sind auch weitgehend gute. Viele haben große Geduld mit mir bewiesen. Wenn ich mich an meine ersten Produktionen erinnere, da stand ich noch ganz schön steif und hilflos auf der Bühne herum. Ich habe eine große Freude am Spielen entwickelt; aber auch das war ein längerer Prozess. Schwierig wird es mit Regisseuren, die ohne inhaltliches Konzept - oder noch schlimmer - ohne musisches Wissen ausgestattet sind. Stringentes, konzentriertes Arbeiten ist mir wichtig. Die Spannung muss aufrechterhalten bleiben, egal zum wievielten Mal man eine Szene versucht. Wenn jede Szene das Ergebnis einer Improvisation ist, dann kann man auch keine Geschichte schlüssig erzählen.

Reizt es Sie denn, auch einmal selbst Regie zu führen?

Nein, das muss nicht sein. Ich bin kein Regisseur. Da fehlt mir einfach die Basis, die Grundlage. Wenn ich noch acht oder neun Jahre länger auf der Bühne gestanden habe, dann traue ich mir vielleicht mal eine kleine Produktion mit meinen Studenten in Basel zu. Aber aktuelle Ambitionen habe ich da gar nicht.

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Und die Popmusik bleibt Ihre heimliche Leidenschaft?

Unbedingt. Ich habe hier gerade einen Umschlag mit einem großen Demoband dabei, das ich an einen namhaften Produzenten schicken will, den ich letztes Jahr bei der Echoverleihung traf. Mein Tonstudio ist absolut professionell ausgestattet: Ich habe eine große Mikrofonsammlung - viel mehr als ich benötige, aber ich sammle sie unheimlich gerne, so wie andere Briefmarken oder Tauben. Bei der Deutschen Grammophon habe ich im letzten Jahr auch für eine Märchen-CD (gelesen von Wolfgang Joop) die Musik geschrieben und produziert. Und wenn ich dann nach Deutschland zurückgekehrt bin, möchte ich in mein neues Heim auch ein großes akustisches Tonstudio einbauen, in dem man mit mittelgroßem Barockorchester schöne Aufnahmen machen kann. Das ist mein großer Traum: Zunächst dort meine eigenen Platten aufzunehmen und später auch als Produzent tätig zu sein mit einem eigenen Label - Genreoffen: Pop, Jazz und Klassik. Bryn Terfel hat auch schon versprochen, dass er seine erste Lied-CD dann bei mir im neuen Studio aufnehmen will.

Das Gespräch führte Frank Bayer.
(03/2007)

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