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Mittwoch, 22. März 2023

Photo: Regine Körner

Der Dirigent Enoch zu Guttenberg über Haydn, die Aktualität großer Kunst und allgemeines Stehvermögen.

"Nicht nur schöne Musik"


Enoch zu Guttenberg engagiert sich gleichermaßen für die Kunst wie für die Welt, aus der sie kommt und auf die sie sich nach wie vor bezieht. Mit der Chorgemeinschaft Neubeuern und dem Orchester der KlangVerwaltung arbeitet er an inhaltlich pointierten Projekten, die auch musikalisch einem hohen Anspruch gerecht werden sollen. Für Publikum und Interpreten soll es aber nicht nur um ein "interesseloses Wohlgefallen" und eine entspannte Genusshaltung gehen. Mit klassik.com-Autor Tobias Roth sprach der Dirigent über Umweltschutz und Haydn, Herrenchiemsee und Politik und über Grundsatzfragen, in denen sich die verschiedenen Themen berühren.

Baron zu Guttenberg, gerade haben Sie mit dem Orchester der KlangVerwaltung das Oratorium „Die Jahreszeiten“ von Joseph Haydn auf CD vorgelegt. „Die Jahreszeiten“ und ebenso Haydns „Schöpfung“ sind auch Programmpunkt der anstehenden Festspiele auf Herrenchiemsee. Wie betten sich die beiden Werke in das diesjährige Motto „Stillleben – nature morte“ ein?

Für mich hat Kunst grundsätzlich, und vor allem die Musik, das beste Langzeitgedächtnis. Denken Sie zum Beispiel, wo der trojanische Krieg wäre, wenn es Homer nicht gäbe: Das wüsste kein Mensch mehr, es würde keine Rolle spielen, auch in der Geschichtsschreibung nur wenig. Dieses Langzeitgedächtnis wird sehr oft vergessen. Denken wir in diesem Zusammenhang auch an die Religion, die Bilder und Figuren aus dem Alten Testament. Das wäre fast alles aus dem Gedächtnis gewischt, wenn es die große religiöse Kunst nicht gäbe. Und gerade heute wird etwas aus Haydns langem Gedächtnis, das in den „Jahreszeiten“ ausgedrückt ist, wieder sehr aktuell. Ich bin seit vielen Jahren im Umweltschutz Aktivist und mache seit 40 Jahren Umweltschutz, also seit einer Zeit, als es dieses Wort noch gar nicht gab. Wir Umweltschützer haben natürlich mit Grauen die Entwicklung, die im Klimawandel ihren bisherigen Gipfel erreicht hat, gesehen und auch vorhergesagt. Unter diesem Gesichtspunkt ist das modernste, was man eigentlich machen kann: Umweltschutz. Der Klimawandel wird sicherlich viel problematischer sein als die jetzig gespürte Wirtschaftskrise, obwohl die Gründe eng zusammenhängen. Diesen Vortrag nun vorab, und jetzt zu den „Jahreszeiten“ und der „Schöpfung“. In den „Jahreszeiten“ zum Beispiel ist die Symbiose des Menschen mit der Schöpfung festgehalten, ich glaube zum ersten und letzten Mal. Das habe ich als Kind, kurz nach dem Krieg, fast und gerade noch erlebt: den Bauern vor dem Pflug und im Wesentlichen noch ein straßenloses Land. In Haydns „Jahreszeiten“ sind Dinge beschrieben, die z.B. meine Kinder, und die Enkel zumal, nicht mehr kennen: Gerade die friedliche und liebevolle Symbiose von Mensch und Natur, die nunmehr eine Gegnerschaft ist. Jetzt ist die Natur hilfsbedürftig geworden, damals, wie in den „Jahreszeiten“ beschrieben, hat der Mensch von der Natur empfangen. Darauf wollen wir bewusst hinweisen. Dieses Werk, „Die Jahreszeiten“ habt eine politische Wichtigkeit, eine Aktualität wie kaum etwas. Das gleiche gilt natürlich für die „Schöpfung“. Sich nur im Smoking in den Konzertsaal zu setzen und das Werk zu genießen, das ist einfach falsch. Letztlich sind diese beiden Werke sogar eine Art Anklage, wie wir in 60 Jahren, in einer Generation, den Globus beispiellos zerstört haben. Unter diesem Gesichtspunkt bekommen diese Werke ein ganz anderes Gewicht als nur: Wir setzen uns in den Konzertsaal und hören jetzt mal ein schönes Haydn-Oratorium.

Copyright Michael Giegold

Also wird dieses Langzeitgedächtnis der Kunst umso wichtiger, je mehr der Gegenstand dieses Gedächtnisses, wie etwa eine unberührte Schöpfung, verschwindet?

Wir brauchen wieder diese Symbiose. Wir gehören ja in diese Schöpfung. Aber mittlerweile nutzen wir sie und schinden sie zu Tode. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen. Man weiß aus Haydns Briefen, dass er die erste Welle der Industrialisierung in England schon erlebt hat, und das, was da passierte, furchtbar fand. Ich kann das nicht belegen: aber die Kunst hat schon oft im Unterbewusstsein Dinge vorausgesehen, und ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass es diese zwei Werke gibt. Wenn wir von einem Langzeitgedächtnis reden, dann meine ich zum Beispiel auch eine „Matthäus-Passion“, gerade in einer Zeit wie der heutigen, wo die Kirchen mehr und mehr – man könnte es hart formulieren – versagen, und die Menschen einen Grad der Aufgeklärtheit haben, der noch mal einen Schub zur ersten Aufklärung darstellt. Trotzdem rennen die Leute immer noch in eine „Matthäus-Passion“, und ich sage: nicht nur, weil das schöne Musik ist. Wenn man zusätzlich noch ein bisschen was von Theologie versteht, wie es meiner Meinung nach jeder Dirigent sollte, dann muss man also nicht nur die schöne Musik zeigen, sondern auch die Befindlichkeit der Aussage weitergeben. Es geht nicht darum, ob man selber glauben kann, aber man muss von der Theologie etwas verstehen, schon allein, um die Allegorien-Lehre, die Bach verwendete, zu verstehen. Wenn man wissen will, was Glaube ist, muss man einen Bach-Choral lesen, dann ist eigentlich schon alles klar. Aber das kann man, wie gesagt, auf tausend Dinge übertragen.

Aber glauben Sie, dass diese doch sehr pointierten Inhalte durch die Musik oder auch den vertonten Text noch getragen werden und so vehement ins Bewusstsein treten können, wie es nötig wäre und wie es die fortschreitende Zerstörung fordert?

Geändert hat die Kunst noch nie etwas. Aber sie hat immer Finger in die Wunden gelegt. Ich bilde mir nicht ein, dass man damit etwas ändern kann, aber es können immer wieder neue Wurzeln gelegt werden. Ich bin der tiefen Überzeugung: Wenn der, der die „Schöpfung“ oder die „Jahreszeiten“ singt, spielt oder dirigiert, ein bisschen mehr weiß, als nur den Notentext anständig umzusetzen, dann überträgt sich der Geist des Werkes nicht nur auf Chor, Orchester und Solisten, sondern auch weiter aufs Publikum. Es ist immer die Frage, wie der Interpret an ein Werk herangeht: und das kommt schon rüber.

Was Sie, vielleicht in diesem Sinne, auf der neuen Haydn-CD genutzt haben, wie auch schon bei der Aufnahme der „Matthäus-Passion“ (2003), ist die Möglichkeit des ganz expliziten Kommentars, der gesprochenen Werkerläuterung.

Ich glaube, das ist sehr nötig. Es wird auch immer häufiger gemacht, in Form von Einführungen oder Publikumsgesprächen. Es gibt eben viele Dinge, die zur Zeit des Komponisten selbstverständlich waren, z.B. die Allegorie-Lehre, die ich vorhin angedeutet hatte, die früher das Publikum, vor allem natürlich das kirchliche Publikum kannte. Daher ist es sehr wichtig, dass man zumindest das, was man von diesen Dingen selber weiß, an das Publikum weitergibt. Dann hört man ganz anders hin. Das ist, wie wenn Sie in eine schöne Barockkirche gehen. Erst einmal ist man platt von der überwältigenden Stuckatur oder den schönen Figuren. Wenn aber zufällig ein Priester da ist, der Ihnen erklären kann, dass die Maße des Gevierts ein Zitat aus dem Alten oder Neuen Testament sind, und die Antwort auf dieses Zitat in anderen Maßen der Kirche gebaut ist, dann blickt man mit anderen Augen auf das Gebäude. Das Gesehene wird dann sehr viel tiefer, sehr viel reicher und perspektivischer. Und genau so ist es auch mit der Musik.

In den Erläuterungen werden also die Komponenten im Kurzzeitgedächtnis ergänzt, die für das Verständnis des Langzeitgedächtnisses nötig sind?

Ganz genau. Es ist dringend notwendig, dass die Menschen überhaupt wissen, was da alles geschieht. Das Schlimme an unserer Zeit ist (das klingt so oberlehrerhaft, ich meine es aber trotzdem so), dass die große Kunst immer mehr und mehr zu einem abrufbaren Konsumgut wird. Wir leben in einer Zeit, in der es sogar „Verbraucherminister“ gibt. Das ist eigentlich eine Katastrophe. Man müsste eigentlich stattdessen „Bewahrungsminister“ haben. Wir lassen uns Verbraucher nennen; und wird sind’s ja auch. Wir verbrauchen alles, wir verbrauchen eben auch die große Kunst. Während man Briefe schreibt oder am Computer hockt, dudelt hinten Mozart. Dafür ist die große Musik sicher nie gemacht worden. Wir Interpreten sind verpflichtet, diese Musik da wieder wegzuholen, die Menschen wieder darauf hinzuweisen, was die große Kunst eigentlich erzählt.

Copyright Michael Giegold

Und dass sie die Menschen überhaupt noch angeht. Es herrscht ein gewisser Automatismus, dass etwa ein Beethoven nichts mit dem zu tun hat, was ich vielleicht gleichzeitig oder kurz vorher in der Zeitung gelesen habe.

Nehmen wir mal zum Beispiel die Dritte von Beethoven: Die ist natürlich ein hochmodernes Stück. Die Verzweiflung Beethovens über Napoleon können sie heute mit der Verzweiflung über diesen oder jenen Politiker gleichsetzen. Wenn man etwa sieht, dass nicht einmal die Grünen eine Geschwindigkeitsbegrenzung zu Stande gebracht haben, ist das nur ein kleines Beispiel. Kaum ist einer an der Macht, gelten die eigenen Wahrheiten nichts mehr. Und da ist die Dritte Beethoven hochmodern oder Mahlers Symphonien. Man muss das einfach umsetzen auf die Denke von heute. Dann wird man es auch deutlich machen. Man vergisst ja meistens, dass die großen Werke Inhalte oder Bilder vermitteln und den Menschen zu einer Auseinandersetzung zwingen sollten. Das ist eigentlich, worum es geht. Das ist ja nicht l’art pour l’art. Und das ist das ganze Herrenchiemsee-Festival. Seit es das gibt, haben wir jedes Jahr ein Überthema, das sich meistens auch an der ambivalenten Figur von Ludwig II. festmacht. Wir wollen zwar, dass die Menschen den Genuss dieser wunderschönen Insel, dieses irren Schlosses und der höchsten Qualität haben, aber sie werden auch konfrontiert und müssen sich auseinandersetzen.

Man sollte sich also nicht gehen lassen in diesem Genuss?

Wir überschreiben das Festival immer mit „Der Welt entrückt“. Das ist es auf der einen Seite schon, auf der anderen Seite werden die Menschen eben konfrontiert, und wir suchen etwas, das jeden einzelnen betrifft und wach macht.

Copyright Michael Giegold

Also ein Programm wie in dem schönen Satz von Goethe: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“

Genau. Das ist immerhin Goethe, besser kann man es nicht sagen. (lacht) Den müsste man als Dramaturgen anstellen. In Herrenchiemsee wollen wir, wie gesagt, dieses Jahr die Ambivalenz dieses Wortes „Stillleben“ oder „natura morta“ zeigen: Dass das Leben unweigerlich nur über den Tod formulierbar ist, und umgekehrt der Tod nur über das Leben und gleichzeitig, wie wir mit dieser uns anvertrauten Schöpfung umgehen. Das sind dieses Jahr die beiden Hauptthemen. Wir haben unter anderem auch den „Elias“ von Mendelssohn dabei. Im letzten Rezitativ des „Elias“ wird genau etwas gesagt, was mich als Vater unglaublich bewegt: „Darum ward gesendet der Prophet Elias, eh denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn. Er soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, dass der Herr nicht komme und das Erdreich mit dem Banne schlage.“ Wenn sie das auf Heute übersetzen, könnten Sie sagen: Wir brauchen keinen Propheten mehr, wir wissen ganz genau alles. Wir können mit unseren Satelliten alles messen, wir wissen wie schnell die Polkappen schmelzen, wir wissen, wie endlich die Ressourcen sind, wir wissen, wie endlich vor allem das Wasser ist, wir wissen, was für Katastrophen auf uns zukommen, wenn diese Entwicklung weitergeht, wir wissen letztlich, dass wir’s nicht überleben können. Und wir tun trotzdem nichts. Das ist das eine Zitat, das ich für unglaublich wichtig halte beim Thema des diesjährigen Festivals. Und dann gibt es noch ein anderes Rezitativ, aus der „Schöpfung“, ebenfalls das letzte: „Oh glücklich Paar, und glücklich immerfort, wenn falscher Wahn euch nicht verführt, noch mehr zu wünschen, als ihr habt, und mehr zu wissen, als ihr sollt.“ Auch das ist genau das, was uns jetzt bewegt. Das schreckliche ist, dass viele glauben, mit dem Klimawandel kämen ein paar Zecken mehr, und vielleicht in Europa wieder die Malaria. Ich sage voraus, dass der erste oder der zweite Weltkrieg wahrscheinlich ein Spaziergang war im Vergleich zu dem, was jetzt kommt. Die Szenarien stehen ja alle wissenschaftlich geschrieben, und in den letzten 40 Jahren ist leider alles eingetroffen, was Leute wie Konrad Lorenz vorausgesagt haben. Es ist ja nicht so, dass das alles nur Kulturpessimisten waren, sondern das waren Leute die eins und eins zusammengerechnet haben. Dieses Jahr haben wir in Herrenchiemsee eben dieses Thema: aber manchmal haben wir auch nicht so traurige Themen. (lacht) Wobei ich grundsätzlich finde, dass sich Festspiele mehr und mehr Themen widmen sollten. Heterogene Ansammlungen von guten Programmen und Sängern und Orchestern, das gibt s überall auf der Welt. Das ist schon ein wenig dieses Konsumverhalten. Ich will jetzt namentlich keine Festspiele nennen, aber es gibt eben wahnsinnig tolle Festspiele mit großen Namen, die aber letztlich austauschbar sind.

Das Mindeste an Thema, was sich immer mehr durchsetzt, ist die Jahres-Kultur. Jetzt haben wir Mendelssohn-Jahr und Haydn-Jahr und Händel-Jahr.

Das wächst sich dann in so schrecklichen Sachen aus wie einer Bach-Nacht oder einer Händel-Nacht, wo in jedem Zimmer etwas anderes gespielt wird. Diese Event-Kultur ist natürlich auch sehr gefährlich. Wir hätten zum Thema „Nature morte“ die „Schöpfung“ und die „Jahreszeiten“ auch ohne Haydn-Jahr aufs Programm gesetzt, und den „Elias“ auch ohne Mendelssohn-Jahr.

Copyright Festspiele Herrenchiemsee

Noch eine etwas andere Frage, Baron zu Guttenberg. Eine Frage zu einer Frage, die Sie wohl recht häufig zu hören bekommen: Sie werden ja sehr stark zu Ihrem Sohn und zu Ihrer Familie befragt, auch wenn der Kontext die Musik ist. Ist Ihnen das manchmal etwas zu viel?

Das hat sich in letzter Zeit wieder etwas gegeben. Was mich, und meinen Sohn auch, gestört hat, war, dass viel über seine vielen Vornamen geschrieben wurde, die schlicht und einfach mit Familientraditionen zu tun haben, und erzählt wurde, dass er Maßanzüge trägt, was nicht stimmt; und solcher Mist, der gar nichts mit dem zu tun hat, wofür er eigentlich geradesteht. Sie haben es sicherlich mitbekommen, dass er in dieser Opel- und Arcandor-Geschichte deutlich gezeigt hat, wes Geistes Kind er ist. Er steht zu den Dingen, die er sagt, und die er für richtig hält und kippt nicht um. Und in dem Moment, in dem das wahrgenommen wird, stört mich der ganze Rest gar nicht mehr. Störend war nur der Hype, der nichts mit Inhalten zu tun hatte, sondern nur mit seiner „exotischen“ Herkunft. Das war auch für mich in meinem Beruf lange ein Problem. Aber es stört mich nicht. Ich mache meine Musik genau so weiter, wie vorher. Das Problem ist das gleiche, wie auch in der Kunst, über das wir vorher gesprochen haben: Man schaut nicht auf die Inhalte, sondern auf Äußerlichkeiten, die jeder nach Gutdünken interpretiert, und aus denen eine Geschichte entsteht, die zu 90% nicht stimmt.

Die Oberfläche ist eben das, was sich am leichtesten abbilden lässt.

Ja, und selbst die stimmt meistens nicht. Das hat gestört, und da habe ich auch manchmal etwas harsch reagiert, das stimmt schon. Wie gesagt, wenn man ein Interview über die „Missa solemnis“ macht, und dann plötzlich über die Maßanzüge des Sohnes sprechen soll, dann ist das natürlich Humbug. Aber abseits davon bin ich stolz, wie er das macht. Er macht das aus meiner Sicht sehr gut, er ist ein verlässlicher Partner und ein sehr ernsthafter und sehr uneitler Mensch, dem es einfach um die Sache geht. Er war ja sogar bereit, zurückzutreten. Und insofern geht das auf, was wir in der Familie leben, jeder auf seinem Posten.

Gibt es da eine Art Gesamtkonzept oder eine Basis, von dem aus diese sehr verschiedenen Posten sich vergleichen lassen?

Das kommt ja nicht ganz von ungefähr. Ich halte es, auch in der Musik, für sehr wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen, den Wahrheitsgehalt zu suchen, und für den gerade zu stehen. Ich finde, dass man für alles, was man tut, gerade stehen können soll. Das gilt für alle Dinge in einem menschlichen Leben. Und das geht manchmal etwas verloren, sowohl in der Politik als auch in der Kunst oder anderswo. Unsere Familie ist da natürlich auch davon geprägt, dass sie in der Generation meiner Eltern und Großeltern geschlossen im Widerstand gegen Hitler war. Da ist auch ein teilweise hoher Blutzoll gezahlt worden. Ich bin kurz nach dem Krieg geboren worden; und wenn man als Kind, mit 4 oder 5 Jahren, beim Mittagessen viel von diesem Thema hört, das damals noch frisch und unverdaut war, dann prägt das unglaublich. So hat es mich auch nicht gewundert, dass mein Sohn gesagt hat: Ich halte den und den Weg richtiger als den andern, und damit allein im ganzen Kabinett gestanden ist. Das wird dann auch anerkannt. Aber es ist leider Gottes offensichtlich zu selten. Es ist doch tragisch, dass man ein riesiges Aufhebens darum macht, dass einer zu seiner Meinung steht. Das sollte doch eigentlich normal sein! In diesem Sinne halte ich es auch für falsch, dass man immer nach Mehrheiten schielt. Ich finde, man muss für seine Überzeugung leben und möglicherweise auch, wenn der Rest der Welt anderer Meinung ist. Natürlich muss man überprüfen, ob man Recht hat, das ist klar, aber sich dauernd Mehrheiten zu beugen, um wieder gewählt zu werden, das ist falsch. Denn wenn man immer nur nach Mehrheiten schielt, dann muss man zum Wankelmut neigen.

Wo wir wieder bei der barocken Metaphorik wären: das Schifflein, dem die Winde zusetzen.

(lacht) Es ist eben wahnsinnig einfach, sein Segel in den Wind zu setzen. Aber wenn es beispielsweise die wenigen Umweltschützer nicht gegeben hätte, hätte sich wahrscheinlich überhaupt nichts getan. So hat sich wenigstens einmal eine Partei entwickelt; wobei ich gar nicht finde, dass die das gut machen.

Copyright Regine Körner

Sie haben natürlich mit der KlangVerwaltung und der Chorgemeinschaft, um das Gespräch wieder ins Künstlerische zurück zu wenden, eine sehr große Möglichkeit der Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit.

Ja, das ist großes Glück. Ich habe in meinem Leben auch sehr viel mit bekannten und geschlossenen Orchestern gearbeitet. Man kann auch da sehr viel umsetzen. Aber natürlich kann man am meisten umsetzen, wenn man eine verschworene Gemeinschaft hat. Die KlangVerwaltung hat sich gebildet aus diesem Grund. Die Kollegen dieses Orchesters, so kann man wirklich sagen, stehen zu 100% hinter diesen Interpretationen und beeinflussen sie auch mit. Ich bin kein Dirigent, der mit erhobenem Haupt vorne steht und sagt: Das wird so gemacht! Ich bin bestenfalls ein primus inter pares. Jeder Musiker hat bei uns das Recht, in einer Art Workshop nachzufragen und mitzugestalten. Die Interpretationen der Werke entstehen wirklich aus einem Gemeinsinn heraus. Das ist es etwas sehr seltenes und ganz großartiges. Ich denke, dass das Orchester deswegen auch diesen Erfolg hat. Und etwas kommt noch hinzu, was eigentlich ganz simpel ist: Wir machen nur die Dinge, hinter denen wir ganz stehen. Es gibt Komponisten, die führen wir nicht auf, weil wir nicht glauben, dass wir da die richtigen sind. Oder anders herum: etwa die „Missa solemnis“ habe ich 40 Jahre lang vor mir her geschoben, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, für dieses Stück reif genug zu sein. Das ist ein Luxus; obwohl man den Werken immer so gegenübertreten müsste. Nur lässt das der Musikbetrieb nicht zu.

Das Gespräch führte Tobias Roth.
(07/2009)

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