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Donnerstag, 30. November 2023

Photo: NMC

Das englische Label NMC feiert seinen 20. Geburtstag.

"Es fehlt der britischen Kultur an Ernsthaftigkeit"


Colin Matthews gehört zu den bekannten britischen Komponisten. In Deutschland kennt man vor allem seinen "Pluto’, der Gustav Holsts Orchesterzyklus "Die Planeten’ komplettiert. Anlässlich des 20. Geburtstags seines CD-Labels NMC sprach Thomas Vitzthum mit dem 63-Jährigen über zeitgenössische britische Musik, das Glück des Internets und Matthews liebste Musik.

Mr. Matthews, wofür steht NMC?

Es steht für New Music Cassettes – also Neue Musik Kassetten.

Das klingt heute im Zeitalter von mp3 etwas kurios, warum haben sie sich diesen Namen gegeben?

Als wir 1989 die ersten Planungen für ein Label mit britischer Gegenwartsmusik anstellten, war die Musikkassette noch das wichtigste Medium für Aufnahmen. Wir bekamen damals von der EMI das Angebot, ihr Equipment für die Kassetten-Produktion nutzen zu können. Benutzt haben wir es aber nie. Als das Label dann wirklich startete, war die CD gerade dabei, den Markt zu erobern. Im Ganzen sind nur fünf Veröffentlichungen auf Kassette entstanden. Der Name ist aber geblieben.

Copyright NMC

Es ist ungewöhnlich, dass ein Komponist ein Label gründet. Wie kamen Sie auf die Idee?

Einen großen Teil meines Lebens hab ich damit zugebracht, die Nachlässe von Gustav Holst und Benjamin Britten zu verwalten. Anders als viele andere Komponisten mache ich mir nicht besonders viel aus Unterrichten. Einer meiner Hauptinteressen bei dieser Arbeit war, wie ich das Geld aus den Stiftungsvermögen wieder in neue Musik investieren könnte – der größte Geldgeber für NMC ist die Holst-Foundation. Das war der praktische Grund, weshalb ich ein Plattenlabel gegründet habe. Der ideelle war, dass zeitgenössische englische Musik auf dem britischen Plattenmarkt total unterrepräsentiert war.

Wie wichtig waren egoistische Motive? Immerhin sind sie ja selbst ein lebender zeitgenössischer Komponist?

Ich hoffe, dass die überhaupt nicht wichtig waren. Natürlich profitiere ich davon als Komponist und meine eigene Musik ist ganz gut repräsentiert bei NMC, obwohl ich das in den ersten Jahren vermieden habe. Das zentrale Motiv war und ist wirklich, zeitgenössische Musik der Öffentlichkeit zugänglicher zu machen.

Wo haben sie angefangen? In einer Garage?

Im Keller eines Gebäudes im Zentrum von London, das die Gesellschaft zur Förderung neuer Musik beherbergt.

War es immer klar, dass sie sich auf britische Musik konzentrieren werden?

Anfangs ja, denn hier gab es die größten Lücken. Ab und zu haben wir Projekte gestartet, die sich mit nicht-britischer Musik beschäftigen sollten – Stockhausens ‚Gruppen’ wollten wir aufnehmen, Musik von Mauricio Kagel und Elliott Carter zum Beispiel. Umgesetzt wurde das dann am Ende doch nie. Vielleicht irgendwann einmal.

In welchen Aspekten unterscheidet sich britische Musik von moderner deutscher?

Eine große Frage. Ich glaube, manchmal erstaunt britische Musik das europäische Publikum weil sie keinen definierten Mustern folgt. Es gibt keine „Schulen“ und wenige, die behaupten würden, einer bestimmten Ästhetik zu folgen. Komponisten wie Ferneyhough, Dillon and Barrett sind dem, was ich als deutsche Ästhetik ansehen würde, viel näher. Aber sie zeigen nur eine, in einigen Aspekten auch extreme Facette, wie man sich moderner Musik nähern kann. Ach, ich müsste Hunderte Wörter machen, um das wirklich zu erklären.

Ist das britische Publikum zeitgenössischer Musik gegenüber aufgeschlossener als andere?

Diejenigen, die sich für neue Musik interessieren, sind sehr aufgeschlossen. Ansonsten muss ich sagen, dass ich das Publikum in Deutschland, den Niederlanden und Skandinavien als viel offener erlebt habe. Es fehlt der britischen Kultur an Ernsthaftigkeit. Hohe Kunst wird kritisch beäugt und es fehlt der Wille, sie zu unterstützen.

Ignorieren nicht Komponisten heute auch die Erwartungen ihrer Zuhörer?

Ich glaube, sie versuchen die Erwartungen auszureizen. Aber leider scheint das Publikum nicht bereit, herausgefordert zu werden und bevorzugt eine bequeme Haltung. Das ist das Frustrierendste für mich: Es gibt so wahnsinnig viel neue Musik. Dieses neue Land zu betreten, dafür sieht aber die Mehrheit überhaupt keinen Grund.

Gehört es noch zum Konzept moderner Musik, das Publikum zu schocken?

Ich hoffe nicht. Und ich habe eine große Abneigung gegen die so genannte Konzeptkunst, der es nur um Ideen geht – oft um kindisch schockierende – ohne jeden Sinn für handwerkliche Meisterschaft.

Gibt es Musik, die sie bei NMC nie herausbringen werden?

Lange haben wir nur Werke von lebenden Komponisten aufgenommen. Das sehen wir jetzt nicht mehr so streng und haben in unserer Archiv-Serie auch ältere Musik herausgebracht. Im Hinblick auf unseren bevorzugten „Stil“ haben wir uns nicht mit den Minimalisten und der leichten konservativen Schule von Komponisten beschäftigt. Ich glaube, dabei wird es auch bleiben.

Ihr Label ist in Deutschland ziemlich unbekannt. Liegt das daran, weil auch neue britische Musik hierzulande wenig gespielt wird?

So muss es wohl sein. Der Grund ist wohl der, den ich bereits ansprach. Britische Musik lässt sich nicht leicht kategorisieren. Für mich ist das etwas positives, aber ich kann verstehen, dass die Schwierigkeit zu sagen, was britische Musik eigentlich heute darstellt, ihre Verbreitung schwieriger macht. Bis 2008 hatte NMC auch keinen regelmäßigen Vertreiber in Deutschland. Dass wir nun von Note 1 vertreten werden, macht uns sehr glücklich.

Copyright NMC

Nachdem Sie das Label gegründet hatten, wie hat es das Publikum angenommen?

Es gab langsame Fortschritte in den ersten zehn Jahren, obwohl eine kritische Würdigung von Anfang an da war. NMC hat eine sehr loyale Hörerschaft, aber wir müssen unser Publikum noch erweitern, es ist immer noch viel zu klein. Der Katalog ist nun umfangreich genug, dass darin ganz unterschiedliche Geschmäcker bedient werden. Wir würden ja nicht von den Hardcore-Modernisten erwarten, dass sie unsere jüngsten Veröffentlichungen für Brass Band kaufen. Umgekehrt hoffen wir natürlich schon, dass die Brass-Fans auch abenteuerlustig genug sind, unsere anderen Aufnahmen zu hören. Seit es das Internet gibt, bemerken wir, dass die Zuhörer mehr werden. Mit der Hilfe von Google und Co. und sozialen Netzwerken können die Leute sehr schnell Informationen zu NMC einholen. Auch die Download-Zahlen unserer Aufnahmen sind gestiegen. Neben unserer Website haben wir auch eine MySpace-Seite und ein Facebook-Profil. Wir machen Podcasts, unser Vodcast für das NMC Songbook ist unser erster Schritt auch auf Youtube präsent zu sein. Was große Labels immer als existenzbedrohend darstellen, nämlich das Internet, hilft uns kleineren ungemein.

Haben Sie jemals Werke für NMC in Auftrag gegeben?

Einmal, nämlich jetzt zu unserem 20-jährigen Jubiläum. Das Songbook (NMC D150) bringt 96 neue Stücke. Ansonsten gab es immer wieder Pläne, Aufträge zu erteilen, aber bei den Plänen ist es dann auch geblieben.

Können sie den Komponisten mit ihrer Arbeit eigentlich helfen?

Das ist eher die Aufgabe der Verleger. Aber natürlich hoffe ich, dass das, was wir tun, eine Werbung für die Komponisten ist. Zumindest das Feedback, das wir von ihnen bekommen, zeigt, dass es ihnen hilft.

Welche Aufnahmen würden sie uns empfehlen?

Ich bin wahnsinnig stolz auf Harrison Birtwistles 'The Mask of Orpheus’. Aber ich will Ihnen gerne meine Favoriten nennen: Julian Anderson: ‘Book of Hours’, Elgar/Payne: Symphony 3, Brian Ferneyhough: ‘Shadowtime’, Michael Finnissy: ‘Red Earth’, Jonathan Harvey: ‘Body Mandala’, Robin Holloway: 2nd Concerto for Orchestra, Jonathan Lloyd: Symphony 4, Judith Weir ; ‘Welcome Arrival of Rain’, John Woolrich: ‘Ghost in the Machine’.

Welche Aufnahmen sind die erfolgreichsten?

Ohne Zweifel ist die erfolgreichste Platte Anthony Paynes Vervollständigung von Edward Elgars Dritter Symphonie (NMC D053). Gut verkaufen sich auch die genannte Birtwistle-Platte und Howard Skemptons 'Lento’ (NMC D005).

Wie beziffern sie Erfolg überhaupt, an den Verkaufszahlen?

Nein. Natürlich wollen wir so viel verkaufen wie möglich. Aber wir können und dürfen uns nicht von Verkaufszahlen leiten lassen. Die CDs, die uns die größte Befriedigung geben, sind genau die, die wir ohne jede Kompromissbereitschaft realisiert haben.

Das Gespräch führte Dr. Thomas Vitzthum.
(05/2009)

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