Ivan Fischer über Orchester, Freiheit und Neue Musik
"Ich fische lieber, als dass ich mit dem Schleppnetz fange"
Klarheit, Freiheit und ein legendäres Rubato. Das sind die Markezeichen von Iván Fischers Interpretationen, ganz gleich, ob er eine Mozart-Oper oder Ravel dirigiert. Das 1983 von ihm gegründete Budapest Festival Orchestra gilt heute als das führende Sinfonieorchester Ungarns. Tourneen und Aufnahmen des Klangkörpers sind ausgesprochen erfolgreich. Die Freude an der Musik, die man den Mitgliedern des Orchester auch ansehen kann, ist förmlich ansteckend. Im winterlichen Köln traf Miquel Cabruja den sympathischen Dirigenten vor einem Konzert in der dortigen Philharmonie.
Ihr Budapest Festival Orchestra gilt als eines der interessantesten Orchester Europas. Manchmal gehen sie Ihren Ungarn aber auch fremd. Ich erinnere mich da an diese zauberhafte „Così fan tutte“, die sie mit dem Orchestra of the Age of Enlightement eingespielt haben.
Das stimmt. In den 1980er Jahren war ich Musikalischer Direktor an der Kent Opera. Viele Mitglieder des Orchesters kannte ich noch von meinen Studien in Wien und Salzburg. Das war eine ganz junge Generation, die viel auf Originalinstrumenten gespielt hat, Alte Musik-Pioniere, die dann später ihr eigenes Orchester gegründet haben: das Orchestra of the Age of Enlightement. Es sind gute, alte Freunde, wenn man so will - meine englische Familie! Und die ungarische Familie ist das Orchester, das ich gegründet habe: das Budapest Festival Orchestra. Mit Beiden habe ich eine sehr lange Beziehung.
Sie sprechen von Orchestern als Familien. Ist es Ihnen der enge Kontakt zu Ihrem Orchester wichtig?
Sehr wichtig, ich glaube nicht, dass ich ein typischer Gastdirigent bin. Natürlich nehme ich auch Verpflichtungen als Gastdirigent an. Ich möchte mich nicht ganz isolieren. Aber das sind Randerscheinungen bei mir. Wichtig sind mir die langfristigen Kontakte, durch die eine Fähigkeit, auf hohem Niveau zu musizieren, erst entsteht. Das kann man nicht in einer Woche erreichen.
Erklären sich aus dieser Langfristigkeit der gemeinsame Pulsschlag und die Freiheit, die Ihre Interpretationen auszeichnen?
Es freut mich sehr, dass Sie das hören, denn es ist mir sehr wichtig. Bei der Così, von der Sie gerade sprachen, haben wir die Entscheidung getroffen, dass wir keine Auf- und Abstriche mit Bleistift in die Musik notieren. Das klingt vielleicht wie eine rein technische Frage, hat aber sehr weitreichende Wirkung. Die meisten modernen Orchester benutzen eingerichtetes Material. Das bedeutet, dass die Musiker feste Instruktionen in der Partitur darüber vorliegen haben, wie sie spielen müssen. Wir wollten dazu eine Alternative schaffen. Das war ein wichtiges Experiment für mich.
Man nimmt sich heute allgemein weniger Freiheiten beim Musizieren als noch vor 50, 60 Jahren. Das Einmalige, Flüchtige der Musikinterpretation ist zugunsten der Werktreue in den Hintergrund geraten. Hat das möglicherweise etwas mit den Aufnahmen zu tun? Die Konserve als Hörerlebnis?
Ich denke, da ist etwas dran. Diese ganze Idee, dass man Musik festhalten kann, hat viel verändert. Bevor es Aufnahmen im jetzigen Ausmaß gab, hat man in einem Saal für den Moment, für ein bestimmtes Publikum gespielt und wusste, dass man diese Interpretation nie wieder hören würde. Da konnte man sich Dinge erlauben, die für den Augenblick an Ort und Stelle wirksam waren. Aber wenn man darüber nachdenkt, dass man seine Interpretation so einrichten muss, dass sie für die Zukunft auch wirkt, dann wird man vorsichtiger.
Ist Toscanini da ein Vorreiter gewesen?
Toscanini hat Disziplin gepredigt. Aber man muss ihn verstehen. Er hat mit dem chaotischen Musikleben in Italien zu tun gehabt. Da hat jeder gemacht, was er wollte und es galt, Eitelkeiten gezielt abzubauen. Ich glaube, dass unsere „moderne Steifheit“, wenn man so will, andere Wurzeln hat. Und meiner Meinung nach liegt die in der Selbstständigkeit der Orchester begründet. Vor dem Krieg waren Dirigenten echte Orchesterleiter. Furtwängler, Toscanini, Mahler und all die anderen waren hochrespektiert und die Orchestermusik sind ihnen blind gefolgt. Die Dirigenten hatten totale Macht, und Einige haben diese Macht auch missbraucht. Diese Tyrannei der Vorkriegsdirigenten hat nach dem Krieg eine Gegenwelle ausgelöst. Die Orchestermusiker haben sich hinter Gewerkschaften, Regeln, Tarifverträgen usw. verschanzt. Daraus ist eigentlich erst die typische Institution entstanden, die man heute Orchester nennt, eine Institution mit sehr vielen Regeln. Das wirkt sich auch auf die Musik aus, die plötzlich messbar wird. Eine Sechzehntel ist eben doppelt so schnell wie eine Achtel. Und wenn es nicht genau ist, dann heißt es sofort: „Es ist nicht genau!“. Die Alten haben über ganz andere Dinge gesprochen…
z. B. über Metaphysik…
Ja. Aber auch über Ausdruck und darüber, was Musik bewirken kann. Stattdessen will man nun richtig und genau spielen, so dass es ins Raster passt. Bloß kein Risiko und ja keine Fehler. Das Resultat ist erstarrtes Musizieren, das kein einziger Popmusiker, Jazzer oder jemand aus der Zigeunermusik akzeptieren würde. Das fänden die lächerlich. Aber ein Orchester lebt so.
Ist das ein Grund, warum Sie Ihr eigenes Orchester gegründet haben?
Es ist der einzige Grund! Ich wollte ein Orchester gründen, in dem man freier, kreativer und risikofreudiger musiziert. Das kann ganz unterschiedlich aussehen. Bei der Così z. B. habe ich Wert darauf gelegt, dass die Orchestermusiker zuhören und erfassen, was die Sänger machen, um dann zu versuchen, den Ausdruck aufzunehmen und selbst darauf zu kommen, wie es klingen muss. Auf diese Weise arbeitet man stark mit der Kreativität der Musiker, die dann auch ein wichtiger Teil der Interpretation wird. Natürlich kann nicht jeder machen, was er will. Aber ob man nun sagt: „Die Note muss kurz sein!“ oder: „Atmet mit dem Sänger!“ - das Resultat ist am Ende möglicherweise gleich. Nur finde ich das Zweite letztlich sehr viel interessanter.
„Atmet mit dem Sänger!“, diese Fähigkeit ist bei vielen heutigen Dirigenten scheinbar verloren gegangen.
In der Tat ist es für mich sehr wichtig. Aber es geht ja nicht nur ums Atmen. Manchmal muss man miteilen oder mitschleppen (lacht), man kann die Initiative übernehmen, etwas befeuern oder anschieben. So viele wunderbare Dinge sind möglich. Und genau da gibt es den größten Reformbedarf, denn scheinbar haben viele Orchester etwas in ihrem Wesen versteinern und verkrusten lassen. Vor allem in der Oper besteht darüber hinaus eine ungute Polarisierung. Es ist die Bühne, die gewissermaßen die erneuernde Funktion ganz für sich eingenommen hat und mit der Regie und den Sängern für die Moderne steht. Das Orchester und die Musik wird demgegenüber in die andere Ecke gestellt. Sie stehen für die konservativen Elemente einer Aufführung, die meist vom Urtext ausgehen und damit noch konservativer sind. Dirigenten, Korrepetitoren und Orchester stehen gewissermaßen für die Erhaltung der Wahrheit, während die andere Gruppe da ist, um die Wahrheit zu zerstören und sich etwas neues einfallen zu lassen. Dadurch entsteht ein Gegensatz, der gar nicht notwendig ist. Und die einzige Methode um die gespannte Situation aufzulösen, ist meiner Meinung nach, das Orchester mitgestalten zu lassen. Vielleicht war unsere Così ein kleiner Schritt in diese Richtung.
Historisch informiertes aber lebendiges Musizieren?
Lassen Sie uns kurz darüber nachdenken, was „historisch informiert“ eigentlich heißt. Wir haben ein paar Jahrzehnte hinter uns, in denen wir uns fleißig über Spielweisen und Instrumentenbau informiert haben. Aber ich möchte vor einem zu großen Dogmatismus warnen, denn ich glaube, dass die letzte große Dirigentengeneration der Vorkriegszeit auch informiert war. Sie ist nur zu anderen Ergebnissen gekommen, weil ihr andere Dinge wichtig waren. Wir sollten uns mit unseren Informationen, Instrumenten und aufführungspraktischen Weisheiten davor hüten, überheblich zu sein. Wir besitzen auch nicht die absolute Wahrheit, und ich glaube sogar, dass unsere historisch informierte Spielweise sehr viel mit unserem Zeitgeschmack, persönlichen Vorlieben und auch Moden zu tun hat. Irgendwann werden auch die einmal überholt sein.
Denken Sie gerade an ein konkretes Beispiel?
Wenn ich mir z. B. die Bach-Passionen anhören, die in den letzten 20, 30 Jahren aufgenommen wurden, stoße ich auf sehr schnelle, tänzerische Tempi, die wenig mit der religiösen Andacht und tragischen Dramatik des Inhalts zu tun haben. Das kann ich nicht anders verstehen, als dass es sich dabei um eine säkularisierte Modeerscheinung handelt. Ich glaube, das ist Zeitgeist. Auch glaube ich nicht, dass diese Spielweise der Wahrheit entspricht. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich gibt es viele wichtige Informationen. Es sollte immer ein Zweifel bestehen bleiben. Dinge als wahr oder falsch zu etikettieren wird schnell problematisch.
Sie sind vom Majorlabel Phillips zu dem kleinen Label Channel Classics gewechselt. Wieso haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden?
Die großen Labels haben den Musikmarkt von den 1960ern bis zu den 1980ern beherrscht. Als dann immer weniger Platten gekauft wurden, wurde es schwieriger für die Plattenfirmen, die ganzen Mehrkosten aufzubringen. Darauf haben sie dann reagiert, indem sie kommerzieller wurden, zu Crossover wechselten oder andere Kunstgriffe erfanden. Dieses schöne, alte Zeit, als man einfach ein Brahms-Violinkonzert mit dem bestmöglichen Künstler einspielte und sich das wunderbar finanziert hat, ist vorbei. Mir ist klar geworden, dass nur noch ganz kleine Firmen den Idealismus besitzen, das aufzunehmen, was sie wirklich machen wollen. Sie tragen nicht die Last, das Ganze dann über 20.000-mal verkaufen zu müssen. Eine idealistische Zukunft sehe ich vor allem bei den kleinen Plattengesellschaften.
Sie haben vor einiger Zeit die Josephslegende von Richard Strauss aufgenommen. Ist das auch Idealismus?
Dazu muss ich etwas ausführlicher werden. Richard Strauss hat die Josephslegende ja für Nijinsky geschrieben. Dieser Tänzer war das Sexsymbol seiner Zeit. Auf der einen Seite war er ein virtuoser Künstler, andererseits wurde er gefeiert wie ein Popstar, und die Figur des Joseph war geradezu prädestiniert für ihn. Joseph ist ein schöner Mann, der von Männer und Frauen gleichermaßen verehrt wird. Dabei ist er aber eine unschuldige, unberührbare Figur, die auch nach der Szene mit der Frau Potiphars rein bleibt. Just vor der Uraufführung gab es aber einen Streit zwischen Nijinsky und Sergei Djagilew, dem Direktor der Ballets Russes. Dadurch hat Nijinsky dieses ganz auf seine Persönlichkeit ausgerichtete Ballett nie getanzt. Das gab ein Riesen-Fiasko, und in Folge dessen ist dieses fantastische Stück von Strauss seit der Premiere mehr oder weniger in der Schublade geblieben. Natürlich hat das auch etwas mit der Frage zu tun, wie man das Stück heute aufführen soll. Als Orchesterstück ist es über 60 Minuten lang. Das ist sehr üppig und verlangt viel vom Orchester und vom Publikum. Allerdings möchte ich nicht entscheiden, ob es heute noch für die Bühne tauglich wäre. Denn es hat unglaublich viel mit seinem Zeitgeist, der Sezession und einem eklektischen Bühnenstil zu tun. Diese überreiche, dekadente Stimmung am Hof des Potiphar, das ist „Fin de Siècle“ und „K. & K.-Dekadenz“.
Makart-Stil?
Ja, genau! Und deshalb bräuchte es einen ganz herausragenden Choreographen und Regisseur, der das modern auf die Bühne bringen könnte. Aber die Josephslegende ist ein Meisterwerk und gehört für mich zu den allerbesten Kompositionen von Strauss. Es ist letztlich ein Unglücksfall, dass es sich nicht im Repertoire etabliert hat und in der Schublade geblieben ist. Deswegen dachte ich: „Raus damit!“ (lacht)
Sie haben auch einige Mahler-Sinfonien aufgenommen. Wie viele sollen es werden?
Zwei habe ich gerade fertiggestellt. Nr. 2 und Nr. 6 gibt es bereits und die Nr. 4 erscheint auch bald. Aber ich möchte auf keinen Fall einen ganzen Zyklus machen. Warum muss man auch immer einen ganzen Zyklus aufnehmen? Ich habe nicht zu allen Sinfonien die gleiche persönliche Beziehung. Die Achte möchte ich z. B. nicht einspielen. Zu ihr besitze ich einfach nicht den Schlüssel. Ich würde sagen, dass ich sie nicht gut genug verstehe. So überlasse ich sie gerne den Dirigenten, die das gut können: Bitteschön! (lacht überschwänglich) Aber es ist auch ein Prinzip für mich. Ich fische lieber, als dass ich mit dem Schleppnetz fange. Ich möchte mich auf Einzeldinge konzentrieren.
Mahler hat in unseren Konzertsälen den Platz des Klassikers eingenommen. Was wird nach ihm kommen?
Nach Mahler wird es schwer. Er war sicher einer der genialsten Musiker aller Zeiten und hat neue Wege in der Musik eröffnet. Gerade sein assoziatives Vorgehen und seine eklektische Praxis waren Wegweisend. Ich meine damit nicht, dass Mahler frühere Musik zitiert hätte, sondern dass er Musik aus allen Bereichen in seine Musik aufnimmt. Also von Herdenglocken über Kirchenglocken bis hin zu chinesischen Glocken, um nur bei den Glocken zu bleiben. (lacht) Eigentlich nimmt er fast Abfall von der Straße…
Wie Objets trouvés…
Ja! Einen Militärmarsch, den er irgendwo gehört hat, dann ein Volkslied, ein wenig jiddische Musik. Und dann kommt wieder Bach. Diese Vielfalt und diese Motivik, die von der Straße kommt, das hat viele Wege eröffnet.
Wobei das natürlich auf seine Weise auch die K. & K.-Monarchie reflektiert…
Sicher. Das ist die Welt um ihn herum. Aber das ist ein ganz anderer Weg als bei Schönberg, der intellektuell an alles herangeht. Mahler hat einfach die Inspiration kommen lassen. Und ich glaube, das hat sich bewährt. Ich sehe immer deutlicher, dass die neueste Musik, die ich von modernen Komponisten des 21. Jahrhunderts höre, mehr mit Mahler zu tun hat als mit Schönberg. Mahlers Musik handelt vom alltäglichen Leben, nicht nur von Mathematik. Man erkennt sich bei selbst.
Sie haben eine Vorliebe für interessante Programme. Nicht nur im Konzertsaal auch auf CD.
Das stimmt. Die Musikliteratur ist so unglaublich reich, und ich möchte mich ungern spezialisieren. Ich habe beispielsweise die siebte Sinfonie von Beethoven auf CD bewusst mit drei weiteren Werken kombiniert, die im selben Jahr geschrieben wurden. Da gibt es eine Ouvertüre von Rossini, einen Satz aus einem Klarinettenkonzert von Weber und einen weiteren Satz aus einer Sinfonie von Wilhelm Wilms. Die Idee dahinter ist es, Beethoven einmal im Rahmen dessen zu hören, was für das damalige Publikum normal war. Was hat man sonst so im Jahre 1812 gehört? Erst dann sieht man, was Beethoven eigentlich für eine Revolution war.
Bleiben wir bei Rossini. eine Ihrer aktuellen Platte ist ganz dem berühmten Opernkomponisten gewidmet.
Das stimmt. Ich wollte aber keine gewöhnliche Rossini-CD vorlegen. Wir haben stattdessen ein Programm aus Instrumentalmusik zusammengestellt, das nicht nur aus Ouvertüren besteht. Stattdessen haben wir weniger bekannte Musik jenseits der Rossini-Opern beleuchtet. Da steht z.B. ein Quartet für vier Bläser neben einer Serenade für sieben Instrumentalisten. Und einem Stück für vier Hörner und Orchester haben wir ein paar Ouvertüren gegenübergestellt. Darunter sind einige Werke, die man fast nie hört. Genau das interessiert mich. Ich liebe es, Sachen auszugraben. Es gibt immer etwas zu finden. Erst kürzlich habe ich mir das Flötenkonzert von Carl Reinecke angesehen. Das kennen normalerweise nur Flötisten. Wenn man die Partitur aufschlägt, steht über den Noten „Opus 247“. Da fällt mir nur ein: „Wer in aller Welt kennt schon die ersten 246 Werke von Reinecke?“ (lacht)
Ist man heute eher auf der Suche nach vergessenen Werken der Musikgeschichte, weil es so wenig funktionierende Neue Musik für das Publikum gibt?
Ganz sicher. Wir leben in einer Zeit, in der man die Konzertsäle nicht mit moderner Musik füllen könnte. Würde man Alte Musik verbieten, dürfte man nur Werke des 21. Jahrhunderts aufführen, dann hätten wir echte Schwierigkeiten. Die Leute hören gerne Schubert, Brahms und Mahler! Das ist eine Tatsache.
Und die neue Musik?
Es gibt ja so etwas wie eine moralische Pflicht, Neue Musik aufzuführen. Aber die fühle ich persönlich überhaupt nicht! (lehnt sich zurück und lacht herzlich) Vor allem stimmt der Begriff „Musik des 20. Jahrhunderts“ in dem Zusammenhang nicht mehr. Vielleicht konnte man vor zehn Jahren noch sagen, dass man sich gegenüber der Musik des 20. Jahrhunderts als zeitgenössischer Musik verpflichtet fühlte. Jetzt haben wir das 21. Jahrhundert und sollten uns ehrliche Fragen stellen. Und wenn wir das tun, dann werden wir sehen, dass da einfach ein Loch ist. Man spielt die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis etwa 1950. Da gibt es ja auch immens viel: Bartók, Ravel, Strauss, Rachmaninow und Puccini und noch viel mehr. Und was ist mit der zweiten Hälfte? Ja, wenn man da keine moralische Pflicht fühlt, dann wird das Repertoire sehr dünn.
Wie ist dieses „Loch“ Ihrer Meinung nach entstanden?
Ich glaube, das ganze 20. Jahrhundert ist ein Problem. Schon geschichtlich ist es eine Sackgasse mit seinen beiden Weltkriegen und den verschiedenen Ideologien, die nicht funktioniert haben - angefangen bei den Nazis und bis hin zu den anderen Diktaturen, die es gab. Das ganze Jahrhundert ist irgendwie nicht in Ordnung. In der ersten Hälfte sind diese großen Katastrophen geschehen. Und in der zweiten Hälfte wurden die Geschehnisse verarbeitet und haben eine künstlerische Wüste hinterlassen und all diese Kunstrichtungen, die die Leute eigentlich hassen. (lacht) Aber wir sind auch noch zu nah dran, und ich bin kein Philosoph. Ich kann nur meinen persönlichen Eindruck beschreiben.
Was wird von der Neuen Musik überleben?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich glaube schon, dass Messiaen überleben wird. Dutilleux sicher auch. Einzelne Kompositionen von Kurtág - das könnte ich mir auch vorstellen. Bei Boulez bin ich mir nicht sicher. Bei Ligeti auch nicht. Es ist wie in der Architektur. Natürlich sind auch schöne Gebäude in der zweiten Hälfte des letztens Jahrhunderts gebaut worden. Aber als Ganzes kann man nicht sagen, dass die 50er, 60er Jahre ein Höhepunkt der Architektur gewesen sind. Es gibt ein paar schöne Ausnahmen…
Bemühen Sie sich um diese Ausnahmen in der Musik?
Ja, wir spielen und probieren und suchen. Aber wir tun es nicht aus Pflichtgefühl. Es ist einfach so, dass die Leute lieber Alte Musik hören und diese unter der Dusche pfeifen, als das, was wir ihnen als Moderne anbieten. Wenn man es als moralische Pflicht sieht, irrt man meiner Meinung nach. Wir haben keine Verpflichtung gegenüber dem einsamen Komponisten, der in seiner Klause unmögliche Werke schreibt. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber dem Publikum, das ein vitales Kunstbedürfnis hat.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(02/2009)
Dieser Beitrag hat Ihnen gefallen? Empfehlen Sie ihn weiter!