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Dienstag, 30. Mai 2023

Kevin  Clarke

Der 103-jährige Johannes Heesters besucht die Niederlande: Späte Chance auf eine Versöhnung und Würdigung seines Lebenswerks?

"Ich bitte dringend um ein Happy End"

Kevin Clarke am 29.11.2007 um 14:25 Uhr


Vielleicht ist es ja ein Vorteil, als Ausländer und noch dazu aus Deutschland kommend in den Niederlanden zu leben, um die Groteske zu bemerken, der sich dieser Tage hier (wieder einmal) abspielt. Es geht um Johannes Heesters. In Amersfoort geboren, in Amsterdam in den frühen 1930er Jahren als Operettensänger und Filmschauspieler bekannt geworden, danach nach Deutschland gegangen (als sich auch die niederländische Regierung um gute Beziehungen zum böse-mächtigen Nachbarn bemühte), um dort Karriere zu machen: Heesters war jahrzehntelang der Operettenheld, für viele junge Bewunderer in Deutschland ist er das noch immer. Derweil in den Niederlanden kaum jemand unter fünfzig weiß, wer Heesters überhaupt ist, denn er wird systematisch totgeschwiegen.

Dabei erntete Heesters in den Niederlanden für seine Ausnahmekarriere anfangs Bewunderung, schließlich waren Niederländer schon immer stolz auf Landsleute, die international berühmt waren. Als Heesters 1939 bei der jüdischen Fritz-Hirsch-Operettengesellschaft auftrat, ausgerechnet in der jüdischen ‚Gräfin Mariza’ von Emmerich Kálmán, schrieb die Zeitung ‚Het Volk’: ‚Ein Star kehrt in seine Heimat zurück!’ Goebbels tobte in Berlin und drohte Heesters mit Berufsverbot, die Fritz-Hirsch-Gesellschaft ‚entsorgten’ die Holländer 1940 selbst. Nach dem Krieg wollte man dann in den Niederlanden ungern über die eigene Vergangenheit sprechen: es galt der Schlachtruf ‚Jeder war im Widerstand’. Nur keine Fragen stellen! Was nicht ins Schema passte, wurde ignoriert (und das war eine Menge, wie man inzwischen weiß; schließlich war die Zahl der Nazimitläufer in den Niederlanden hoch, was kürzlich im Film ‚Schwarzbuch’ von Paul Verhoeven eindrucksvoll thematisiert wurde.) Als Heesters 1960 bei De Nederlandse Opera im ‚Bettelstudent’ auftrat, bekam er Riesenbeifall, war er doch inzwischen der berühmteste Holländer in Deutschland und kehrte triumphal heim (‚bevor er eine einzige Note sang, bekam er schon Ovationen’, schrieb das ‚Algemeen Handelsblad’). Als Heesters 1964 abermals kam, um in ‚The Sound of Music’ ausgerechnet den Nazigegner Kapitän von Trapp zu spielen, kippten die Gefühle jedoch. ‚Vaterlandsverräter’ wurde er beschimpft und von der Bühne gepfiffen. Er kehrte nach Deutschland zurück, wo man von dem Debakel keine Notiz nahm. Er spielte dort weiter Theater, drehte Filme, gibt Konzerte – bis heute. Nur seinen Herzenswunsch hat er sich seit dem ‚Sound of Music’-Fiasko nicht erfüllen können: vor seinem Tod noch einmal in den Niederlanden aufzutreten und mit den Niederländern Frieden zu schließen.

Diesen Wunsch äußerte Heesters kürzlich in einem Zeitungsinterview, das Gerard van Vliet, Ratsmitgleid der sechsköpfigen Bürgerpartei von Amersfoort las und daraufhin mit Pieter Erkelens, dem Direktor des Theaters De Flint, für den 16. Februar 2008 einen Auftritt des Künstlers in dessen Geburtsstadt organisierte. Als das diese Woche bekannt wurde, liefen Heesters’ Gegner neuerlich Sturm – statt die Chance zu nutzen, das imposante Lebenswerk des Künstlers endlich zu würdigen und einzuordnen, ging es wieder nur um die Frage: Hat Heesters 1941 bei einem von der SS organisierten (Zwangs)Ausflug, dem er sich aus beruflichen Gründen schlecht entziehen konnte, in Dachau gesungen oder nicht? Als ob von der Antwort abhängt, welchen Status Heesters in der Geschichte des Films und der Operette hat. Das ist so, als würde man Furtwänglers Bedeutung als Musiker abstreiten, nur weil er zu Hitlers Geburtstag Beethoven dirigierte. Simon Rattle sagt zur dabei entstandenen Aufnahme: ‚[Sie ist] ein absolutes Wunder, ein Mysterium. Aber Furtwängler hatte eben auch dieses Faustische. Der Mitschnitt der Beethoven-Neunten vom April 1942 aus der alten Philharmonie in der Bernburger Straße, das berühmte Konzert, an dessen Ende Goebbels ihm die Hand reicht: Eine solche Aufnahme können Sie nur in homöopathischen Dosen genießen. Das ist, als hätten Sie ein Bild von Francis Bacon über Ihrem Bett hängen.’ Es ist trotz der politisch prekären Dimension eine Aufnahme, die in Amsterdam kommentarlos überall erhältlich ist und die von Kennern hoch geschätzt wird. Derweil von Heesters’ Oeuvre jede Spur fehlt: während man seine berühmten Ufa-Filme in Deutschland als Klassikeredition auf DVD kaufen kann, seine Musikaufnahmen allgemein erhältlich und drei Biografien im Umlauf sind (die neueste von Simone Rethel-Heesters von 2006) gibt es in den Niederlanden: nichts.

Schizophrenerweise weigert sich die niederländische Presse und Intelligenzija gleichzeitig, das Genre Operette, dessen bedeutender Interpret Heesters war, historisch zu betrachten. Derweil in Deutschland die Kunstform seit langem im Kontext mit Politik untersucht wird (etwa im neuen Buch ‚Operette unterm Hakenkreuz’ mit einem Heesters/Lehár-Kapitel), schenkt man der ehemals jüdischen Gattung mit dem tieftragischen Hintergrund hier keinerlei seriöse Aufmerksamkeit. Dass in Westerbork deutsche Operettenstars inhaftiert waren und im Angesicht des Todes Operette spielten (u.a. das ‚Weiße Rössl’ mit der Uraufführungssängerin Camilla Spira), wird ignoriert. Auch dass Überlebende wie Spira nach 1945 nach Holland zurückkehrten, um als Versöhnungsangebot wieder Operette mit alten Kollegen zu spielen, wird nicht zur Kenntnis genommen. Eine bahnbrechende Publikation zum Thema, Katja B. Zaichs ‚Ich bitte dringend um ein Happy End. Deutsche Bühnenkünstler im niederländischen Exil’ liegt zwar ins Niederländische übersetzt im Theaterinstitut, wird aber nicht herausgegeben. Aus Angst vor den ungemütlichen Wahrheiten darin?

So kam es in den Niederlanden nie zu einer ernstzunehmenden Diskussion über Operette, auch nicht zu Heesters. Operette ist in Holland (ironischerweise streng nach Nazi-Ideologie) weiterhin plüschiger Nonsens, den Amateurgruppen sonntags im Gemeindehaus aufführen, und Heesters (der sich politisch anders als viele seiner Kollegen immer neutral verhielt) wird ‚zum Sündenbock erkoren, auf dem man alle eigene Schuld abladen kann und über dessen angebliche Schande man sich mit Schadenfreude ereifern kann’, meint Dick Top, Kenner der Operettenszene in Holland und Freund der Familie Heesters. (Er riet Heesters vom Auftritt in Amersfoort ab.)

Man kann De Flint und Heesters nur beglückwünschen, dass sie sich von soviel unangebrachter Selbstgerechtigkeit der Niederländer nicht abhalten ließen, einen neuen Versuch der Versöhnung zu unternehmen. Genau einen Monat vor dem Konzert wird Heesters auch Thema sein beim ersten Operettensymposium in Holland, das das Genre historisch untersucht. Die Nationale Reisopera bereitet zusammen mit dem Operetta Research Center Amsterdam eine zweitägige Konferenz in Enschede vor mit dem (von Katja Zaich entlehnten) Titel ‚Ich bitte dringend um ein Happy End... Operette in Nederland 1930-45’. Dick Top wird dort über Heesters sprechen; daneben werden aber auch viele andere Themen behandelt, die bislang unterbelichtet blieben. Vielleicht entdecken dadurch doch noch einige Menschen in Holland, wie spannend Operette als historisches Phänomen sein kann, und wie interessant es ist, Heesters’ Rolle darin zu untersuchen. Kritisch, sachlich, fair.

Nationale Reisopera/Operetta Research Center Amsterdam, „Ich bitte dringend um ein Happy End...“ Operette in Nederland 1930-1945, Twentse Schouwburg Enschede, 19./20. Jan. 2008 (Infos unter www.operetta-research-center.org)


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