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Dienstag, 28. März 2023

Aron Sayed

Die kleine Geschichte eines Ohrwurmes...

Das Andante aus der Ersten von Sibelius

Aron Sayed am 14.06.2007 um 16:10 Uhr


Das Andante aus der Ersten von Sibelius

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Als Walter Labo spät nachts von einem Besuch bei Freunden die Tür seiner Wohnung aufschloss, hörte er eine Melodie, wie aus einem Traum. Er hatte sie bereits seit einer Weile unterschwellig wahrgenommen, aber nun erst trat sie ihm wirklich ins Bewusstsein. Die Melodie war von Streichern und Holzbläsern getragen, lange Haltetöne in den Hörnern bildeten ihren Grund, langsam floss sie dahin. Sie brachte in Labo eine Schwermut zum Blühen, so dass er im Flur stehend verharrte, den Kopf zur Seite neigte und sogar vergaß, sich die Schuhe auszuziehen. Nach einigen Sekunden fasziniert-befremdeten Lauschens setzte er sich wieder in Gang und überprüfte, ob er etwa beim Verlassen der Wohnung vergessen haben könnte, die Stereoanlage auszuschalten, die er gelegentlich, wenn ihm; ein Stück besonders gefiel, im Repeat-Modus laufen ließ. Doch der Hifi-Turm im Wohnzimmer ruhte auf standby. Außerdem lag im CD-Player nicht die Aufnahme eines Orchesterwerkes, sondern eine Einspielung barocker Cembalosuiten. Auch sein Mobiltelefon, ein neueres Modell mit Mp3-Wiedergabe gab keinen Laut von sich, auch dann nicht, als er es extra hervorzog und skeptisch beäugte. Vom Verlangen getrieben den Ursprung der Melodie zu finden, trat Labo an eine seiner Ansicht nach viel zu dünne Wand heran, die das Wohnzimmer von der Wohnung seines Nachbars abtrennte. Möglicherweise hörte dieser laut Musik und es klang dumpf hindurch. Aber weder Musik noch ein Geräusch vernahm er von dort, selbst als er sein Ohr an die orangefarbene Tapete hielt und horchte. Ungeduldig, immer irritierter, überprüfte der Mann Mitte 30 nun die Fenster seiner Wohnung. Gewöhnlich hielt er sie, wenn er die Wohnung verließ, immer verschlossen, und wie erwartet waren sämtliche Fenster zugesperrt. Nur geringfügiger Lärm tönte von der zu dieser Uhrzeit kaum befahrenen Straße vor dem Haus herauf. Aber die Geräusche von draußen stellten nur die normale Akustik der;Großstadtkulisse dar, unwahrscheinlich, dass die Melodie von dort her stammte.

Labo versuchte jetzt die Schwermut abzuschütteln, indem er an einen Witz dachte, den ihm ein Bekannter am Abend erzählt hatte, und über den er laut gelacht hatte. Doch die Freude an einer gelungen Pointe hatte sich inzwischen verflüchtigt. Als das nichts half, er hatte die Schuhe inzwischen doch ausgezogen und sich aufs Bett gesetzt, nahm er, nur um beschäftigt zu sein, einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche, die für den Nachtdurst immer bereitstand, aber die bereits einige Tage alte Flüssigkeit schmeckte schal und verbraucht, und leichter Ekel mischte sich in Labos Erfrischung. Im Halbdunkel des Schlafzimmers verstärkte die Schwermut nun ihr lastendes Gewicht, wann war er das letzte Mal so traurig gewesen, so schwermütig ? Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, vermutlich irgendwann in seiner Jugendzeit, die Projekte hielten ihn vom Luxus einer tieferen Selbstbeobachtung ab, die er ohnehin viel eher Psychiatern als sich selbst zugetraut hätte. Trotzdem kam er nun endlich auf die Idee, einmal in sich hinein zu horchen, wo er die Melodie tatsächlich vor sich hin klingend fand, als sei mit diesem Schritt ein dämpfender Vorhang zur Seite gezogen worden. Darauf hätte er auch gleich kommen können!

Um sich von dem lästigen Ohrwurm zu befreien, dachte Labo angestrengt an seine Frau, die sich momentan auf Geschäftsreisen befand, ob sie wohl noch im Flieger saß oder bereits im Hotel angekommen war, wie spät würde es dort um diese Uhrzeit sein?;

Er wunderte sich über diese hartnäckige Merkwürdigkeit, denn kein Straßenmusikant hatte auf dem Nachhauseweg in der Fußgängerzone gestanden, niemand hatte davor in der U-Bahn einen Ghettoblaster oder ähnliches zu laut aufgedreht, und der belanglose Wischiwaschirock, den man bei seinen Bekannten gespielt hatte, war, ohne hängen zu bleiben, vorbeigerauscht. Also musste die wehmütige Melodie irgendwo anders ihren Ursprung haben. Aber ihr Herkunftsort blieb im Schatten, im Verborgenen, wie bei einem Brief, der ohne Absender zugestellt wird.

Sehr selten, aber das war vor einigen Jahren gewesen, war er manchmal aus Träumen in starker Erschütterung emporgeschreckt, früh morgens, weil ihm im Traum etwas zugestoßen war. Manchmal hing ihm sein Traumleben lange nach, bedeutende Ereignisse, deren Verrücktheiten mit einem seltsamen Sinn angefüllt waren. Meistens jedoch verschwanden sie während des Aufwachens oder verflüchtigten sich danach so rasch, dass er sich an nichts mehr erinnerte. Einmal aber im Spätsommer, er wusste es noch, da hatte er die ersten Minuten der siebten Symphonie Bruckners gesehen, diesen aus dem Nichts entspringenden, tremolieumflirrten, aufgehend untergehenden Gesang von Farben, der zwischen Dur und Moll schwebend weit ausholte, aus dem sich wie von selbst urwüchsige Landschaften formten, schillernde Gebirge, die bis in den Himmel reichten. Anders hatte es da geklungen als in der Realität, intensiver. In diesem Traum hatte Labo zwar gewusst, dass er im Begriff war, dieses erste Thema zu erleben, doch klang es verwandelt. Die Musik war eine rätselhafte, wunderschöne Verwandlung des Hauptthemas der siebten Symphonie gewesen. Damals hatte er die lastende Größe der Musik noch; gespürt, während er Heike und sich selbst Kaffe machte, er hatte mit diesem strengen Gefühl die Augen aufgeschlagen und war noch in der Firma davon verwirrt.

So ähnlich wie zu diesem Zeitpunkt vor mehreren Jahren ging es Labo jetzt, nur dass er seit 20 Stunden keinen Schlaf mehr gehabt hatte, weil er momentan Sonderschichten einlegte, damit die Systemumstellung am Freitag reibungslos vollzogen werden konnte.

Außerdem, achtete er genauer darauf, hörte sich die Melodie eher nach Rachmaninow an, nicht nach Bruckner. Als sei sie seinem letzten Werk entnommen, den sinfonischen Tänzen. Ja, am ehesten, so meinte Labo, ließ sich da eine Verwandtschaft zu jener Saxophonmelodie erkennen, welche die Violinen in hoher Lage aufgriffen, um sie in einer Ausschweifung russischen Weltschmerzes fortzusingen.;

Aber weiter hin und her rätselnd kam er zu dem Schluss, dass auch das nicht stimmte. Wahrscheinlich konnte sein Bewusstsein die kleine melancholische Melodie gar nicht richtig erfassen, da sie zu verschwommen klang, in seinem vom Wein benebelten Kopf. Labo vertrug nicht viel, besonders mit Wein machte es ihm schnell zu schaffen. Wie vor verschlossenen Türen ausgesperrt, zum Konzertbeginn zu spät gekommen, lauschte er müde vor sich hin, ohne dass ein benennbares Ergebnis zustande gebracht wurde. Seltsam schien es schon: Je hartnäckiger er versuchte, der fremden Musik ihren Namen zu geben, damit er erleichtert einschlafen konnte, desto mehr widersetzte sie sich ihrer Zuordnung, störrisch verharrte sie in ihrer Unbestimmtheit. Seine Frau konnte er auch nicht fragen, sie war bis zum Ende der Woche in Dubai.

Labo besaß, was er nicht wusste, sondern nur dunkel ahnte, ein überdurchschnittliches musikalisches Gedächtnis und Zuordnungsvermögen. Tatsächlich standen in seiner Erinnerung namentlich hunderte kompletter Werke abrufbereit, ohne von ihm stärker wahrgenommen zu werden, als es ein Gegenstand am Rande des Gesichtsfeldes wird. Tatsächlich bemerkte er an manchen freien Tagen erst Stunden später, was für ein breites Band an verschiedensten Klängen und Musiken in ihm abgelaufen war. Für gewöhnlich wunderte er sich dann kurz und vergaß es wieder, denn er hatte besseres zu tun und war selten einmal nicht in Eile. Er ordnete das jeweilige Stück schnell seinem Namen und seinem Komponisten zu, wodurch die Sache erledigt schien. Bloß diese hartnäckige kleine Melodie entzog sich immer noch, wo er doch sonst auf Anhieb alles wusste!

Verärgert erhob er sich vom Bett und legte seine Kleidung ab. Um sich den sauren Weingeschmack aus dem Mundraum zu putzen begab er sich ins Bad. Dann tauchte er das Gesicht unter den laufenden Strahl kalten Wassers. Wenn doch nur irgendwo ein kleiner Hinweis in den Ecken seines Geistes aufgetaucht wäre, zumindest der Name des Komponisten sollte ihm doch zufliegen! Labo dachte nicht daran aufzugeben, er war es gewohnt, das zu bekommen wonach ihn verlangte, auch, oder gerade gegen den Willen anderer, und wenn er sich selbst dabei fast zugrunde richtete. Manchmal, wenn sich die Gelegenheit ergab, nannte er sich vor den Kollegen spaßhaft eine Herrschernatur und grinste dabei böse. Anders hätte er den gutbezahlten Job in einem so großen Unternehmen nicht bekommen, und anders hätte er auch nicht eine so intelligente und schöne Frau geheiratet, die er regelmäßig mit einer noch schöneren betrog, aber heute Abend hatte sie leider aus unerfindlichen Gründen keine Zeit mehr für ihn gehabt. Suchend schickte er seinen Blick; durch den dunklen Raum, erfasste die teuren Einrichtungsgegenstände, maß die komfortable Zimmergröße, blieb an den Reproduktionen hängen, als warte dort ein versteckter Hinweis nur darauf, den Namen der Komposition preiszugeben. Er war inzwischen Fünfunddreißig und lebte davon, Tag für Tag Hochleistungen zu erbringen, damit ihn niemand von seiner Führungsposition verdrängte! Wie also zum Teufel lautete der verdammte Name jener Melodie, die sich an ihm festgesetzt hatte, wie eine lästige Zecke!? Labo überlegte angespannt, überlegte fast verzweifelt, es wurde noch einmal hektisch in seinem Geist: Brahms? Nein, für den schien sie nicht komplex genug. Schumann? Da war kein Klavier sondern etwas anderes, außerdem klang sie nördlicher, Berlioz kam nicht ihn Frage. Mendelssohn? Schon eher, aber trotzdem falsch. Schubert? War es genauso wenig wie Beethoven, warum, das wusste er auch nicht. Dvorak tat er sofort ab, Bruckner hatte er bereits gehabt, Wagner stimmte nicht. Grieg? Tschaikowsky? Mahler? Bald würde er alle wichtigen Romantiker durch haben und es fielen ihm nur die falschen Namen mit den falschen Themen ein! Eigentlich, dachte Labo resignierend, war es gar nicht sicher, dass er die Melodie von irgendwoher kennen musste… vielleicht entzog sie sich ihrer Zuordnung, weil sie gar nicht zuzuordnen war. Vielleicht spielte ihm der Wein zusammen mit dem permanenten Stress bloß einen raffinierten Streich und legte mehrere Melodien übereinander, weichte sie auf und wirbelte sie durcheinander… wenn das zutraf, konnte er den Namen der melancholischen Melodie niemals erraten, weil sie keinen besaß.

Über dieser Vermutung schlief Labo erleichtert ein. Vielleicht, so einer seiner letzten Gedanken, würde ihm die Antwort im Schlaf kommen.

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Als Labo am nächsten Morgen aufstand, draußen schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel, merkte er, dass er von etwas völlig anderem geträumt hatte, konfusem Zeug, wie jedes Mal, wenn er getrunken hatte. Leicht verkatert begab er sich ins Bad und entleerte seine Blase, wobei er sich mit dem Zeigefinger der linken Hand am Hinterkopf kratzte.

Das Verlangen nach dem Namen der Melodie von gestern Nacht pochte, so wie die Schwermut, kaum noch in seinem Bewusstsein. Lieber wollte er schnell duschen und danach seinen Morgenkaffee trinken, denn für die Abschlusspräsentation in wenigen Stunden mussten noch einige restliche Vorbereitungen getroffen werden.

Als er auf dem weiten Parkplatz ausstieg, verflog auch der letzte Rest an die Erinnerung der unfassbaren Musik. Nur die Erwartungen an Kommendes füllten ihn aus.

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Anmerkung:

Labo hatte die Melodie vor 25 Jahren gehört, im Autoradio seiner Eltern, kurz nach der Beerdigung seines Bruders.

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