
Ein klingender Spaziergang durch Russlands kulturelle Hauptstadt
Sankt Petersburg
Aron Sayed am 15.10.2010 um 22:26 Uhr
Musikalische Bilanz meines einmonatigen Aufenthaltes in Sankt Petersburg: Dreimal Philharmonie, zweimal Mikhailovsky-Theater, einmal Mariinsky-Concert Hall. Was unter anderem verpasst wurde: ein Besuch im eigentlichen Mariinsky-Theater, ohne den man St. Petersburg als Klassikmensch eigentlich nicht verlassen sollte. Mir sind aber die Karten zu teuer, denn für ausländische Touristen verlangt man hier extra hohe Eintrittspreise, vielleicht beim nächsten Mal.
In der erst 2006 eröffneten, von Xavier Fabre entworfenen Konzerthalle des Mariinsky-Theaters nur eine Straße weiter verhält es sich anders, wahrscheinlich auch, weil bei konzertant aufgeführten Opern die Produktionskosten geringer sind. Für 1500 Rubel, umgerechnet 35 Euro, bekommt man hier eine Karte in der ersten Reihe. Gespielt wird an diesem Abend Bellinis 'La Sonnambula', eine Belcanto-Oper also, bei der sich die fehlende Inszenierung ohnehin leicht verschmerzen lässt. Orchester, Chor und Ensemble des Mariinsky-Theaters werden ihrem Weltruf gerecht. Schon nach der Koloratur-Eröffnungsarie der Amina hebt der Darsteller des Rodolfo auf seinem Stuhl sitzend den Daumen, den Jubel des international gestreuten Publikums gerade so noch vorwegnehmend. Die perfekte Akustik und futuristisch angenehme Holzverkleidung der Konzerthalle tragen ihr übriges bei. Die relativ geringe Größe des Konzertsaals sorgt daneben für eine intime Atmosphäre.
Älter, doch genauso schön und vor allem ehrwürdiger (zudem sehr preiswert) ist die nach Dmitri Schostakowitsch benannte Philharmonie am Platz der Künste, das Stammhaus der St. Petersburger Philharmoniker. Das Mikhailovsky-Theater und das Russische Museum sind gleich nebenan, der Newsky-Prospekt, die Haupt(einkaufs)straße der Stadt, liegt um die Ecke. Zahlreiche Werke von Schostakowitsch und Prokofjew wurden im Saal der Philharmonie mit seiner herausragenden Akustik uraufgeführt, die Musikgeschichte ist hier fast mit Händen greifbar. Eines der intensivsten, Tränen treibenden Erlebnisse ist dann auch ein Konzert der Philharmoniker unter Nicolai Alexeev mit der Elften Sinfonie von Schostakowitsch und den vom Komponisten selbst orchestrierten Liedern 'Aus jüdischer Volkspoesie'. (Eigentlich sollte Schostakowitschs Sohn Maxim dirigieren, aus irgendeinem Grund trat er jedoch nicht auf.) Mir persönlich scheint aus naheliegenden Gründen, dass die St. Petersburger Philharmoniker die authentischste Sicht auf Schostakowitschs Werk haben. Wie wohl kein anderes Orchester besitzen sie das Gespür für die mahlerhafte Doppelbödigkeit dieser historisch aufgeladenen Musik, ihren politischen Gehalt, ihre außermusikalische Aussage, kurz gesagt: die Anklage gegen den Terror des Stalin-Regimes, die in der elften Sinfonie nur vordergründig als Darstellung des Jahres 1905, in dem sich der sogenannte Petersburger Blutsonntag ereignete, verschleiert wird. Dirigent und Orchester wirken am Ende tief betroffen, auch im Publikum sieht man viele schockierte Gesichter. Gleichwohl jubelte man am Ende, besser wird man Schostakowitsch zumindest live sicher nirgends hören, auch wenn das keine angenehme Erfahrung sein wird.
Einschränkend muss gesagt werden, dass zwei Wochen später Schuberts "Große C-Dur-Sinfonie" nicht annähernd so gut gelang. Den ersten und zweiten Satz verschlief das Orchester, erneut unter Alexeev. Erst im Scherzo und Finale wachte man auf, doch mehr als ordentlich klang das Schlussgewittern in Dur nicht (im Scherzo freilich waren die tiefen Streicher markant). Wer sich daran aufhängt, sollte allerdings nicht vergessen, dass das Orchestre national de Lille zur Saisoneröffnung einige Zeit zuvor eine ungleich fadere Darbietung bot.
Bleibt noch das traditionsreiche Mikhailovsky-Theater, auch "kleine Oper" genannt (im Gegensatz zur großen Oper des Mariinsky-Theaters). Eine Premiere von Dvoraks 'Rusalka' geriet hier erstaunlich erfreulich. In der farbenfrohen, nie kitschigen Inszenierung wurde viel mit Video gearbeitet. Orchester und Sänger musizierten über internationalem Durchschnitt und die Akustik ist im vierten Rang noch gut. Eine Ballettvorstellung von Prokofjews 'Romeo und Julia' einige Wochen darauf bot hingegen ein seltsam anachronistisches Erlebnis: prunkvolle Kostüme in einer bunten Mischung aus "Jugendstil" und Rokoko irritierten beziehungsweise verwöhnten das Auge. Man glaubte sich irgendwo tief im 19. Jahrhundert, die Choreographie jedenfalls erweckte diesen Eindruck und wollte zur teils von krassen Dissonanzen geprägten Musik nicht immer so recht passen. Schön war das allemal, zumal wenn man modernes Ballett unter einer modernen Regie gewohnt ist, erweckt die russische Version den Eindruck einer Zeitreise. Wers mag, wird glücklich. Alle anderen erfahren auf diese Weise, wovon sich das moderne Tanz- und Musiktheater eigentlich abhebt, was für das sogenannte 'Regietheater' die grundsätzliche Negativfolie bildet.
An den Konzert- und Theaterkassen allerdings sollte sich jeder, der kein Russisch kann, auf eine Lost-in-Translation-Situation gefasst machen. Englisch ist, zumindest bei den Babuschkas auf die man an der Kasse trifft, noch keine Weltsprache (die jüngere Generation ist freilich dabei, das zu ändern). Doch mit Sprachführer beziehungsweise Stift und Zettel lässt sich auch dieses Problem lösen. Prinzipiell fangen die Vorstellungen übrigens immer bereits um 19:00 an, und dann mit zehn bis fünfzehn Minuten Verspätung. Dass man diese Praxis hier zu pflegen scheint, merkte man kurz vor Beginn eines Konzerts der Philharmoniker, als Alexeev bereits auf dem Podium stand, von hinten aber immer noch weiter Leute in den Saal drängten. Daraufhin wartete er freundlich und in aller Gelassenheit ab, bis Ruhe eingekehrt war. Auch beim Applaus gibt es im Vergleich zu Deutschland Abweichungen zu beobachten: Wer mehr als dreimal hervoraplaudiert wird, darf sich hier schon etwas einbilden. In der Mariinsky Concert Hall etwa war nach zwei Verbeugungen schon Schluss. Ähnlich verhielt es sich in den anderen Veranstaltungen. Etwas anderes nebenbei bemerkt: befindet sich der durchschnittliche Konzertbesucher in Deutschland in einem Alter zwischen etwa 40 und 70 Jahren, sieht man in St. Petersburg auffällig viele junge Russen und Russinnen in den Sälen. Anders als in Deutschland also scheint es das Problem der zunehmenden Überalterung des Konzertpublikums hier nicht zu geben.
Das oben Beschriebene stellt, soviel noch hinzugefügt, längst nicht alles an Musik in St. Petersburg dar: Kammeroper, Rimsky-Korsakow-Konservatorium und das Eremitage-Theater fehlen. Daneben gibt es eine lebendige Jazz-Szene. Obendrein liegen - nicht mehr ganz so lebendig - auf dem kleinen Tichwin-Friedhof Glinka, Borodin, Tschaikowski, Arensky und Rimsky-Korsakow begraben - in unmittelbarer Nachbarschaft zu Dostojewski.
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