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Mittwoch, 29. März 2023

Aron Sayed

Zur charakteristischen Anwendung

Über Rezension. Teil 2 von x

Aron Sayed am 16.09.2008 um 21:58 Uhr


Zunächst  finde ich es toll, dass in diesem Blog der Rezensierenden einer der Rezensenten endlich einmal seine Gedanken über das Rezensieren kund gibt. Daumen hoch dafür! Ich muss zugeben, dass es mir auch schon oft in den Fingern gejuckt hat, aber aus verschiedenen Gründen nie dazu gekommen ist. Dein Text gefällt mir ausgezeichnet, in vielen Punkten habe ich meine eigenen Probleme als Rezensent erkannt. Doch da für jeden Kritiker nach der Kritik vor der Kritik ist, und du, Tobias, es so willst, Schluss mit der Bauchkitzelei. Hier ein paar kritische Anmerkungen zur Kritik über die Kritik:

- Leserbriefe über Konzert-Kritiken in Zeitschriften hab ich noch nie gesehen. Bin aber gerne bereit, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.

- ´Keiner kann aus seiner Haut, schon gar nicht aus seinem Hirn.´ Natürlich. ABER, dass ein Kritiker nicht anders kann, als nur seine private Kritik abzuliefern, halte ich für falsch. Sicher, spätestens ungefähr seit Nietzsche – Vorsicht Binsenweisheit – gibt es in der Ästhetik und eigentlich in allen die Kunst betreffenden Bereichen keine unumstößliche Wahrheit mehr. Auch meiner Ansicht nach fährt man mit einer konstruktivistischen Weltsicht am besten. Und auch die Prägungen des Kritikers sollten, wie du es schreibst, in seiner Kritik erkennbar sein. Noch lange nicht heißt das aber, ´der Kritiker kann nicht anders, als [nur] seine private Kritik abliefern´. Nicht nur in der Musikkritik gibt es gewisse, durchaus allgemeingültige Parameter fürs sachgerechte Urteilen. Ein einfaches Beispiel ist der bei Naxos erschienene Ring-Zyklus aus Stuttgart, in der Inszenierung von Konwitschny mit Zagrosek als Dirigenten. Insgesamt handelt es sich  um schöne Live-Einspielungen, die bei der Kritik überwiegend auf Zustimmung gestoßen sind. Worüber sich aber alle Rezensenten bei klassik.com beschwert haben, das sind die Bühnengeräusche. Es nervt jeden, wirklich jeden, wenn er etwa Siegfrieds Trauermarsch lauscht und es dabei penetrant poltert, zumal man als Zuhörer die Geräuschverursacher natürlich nicht sehen kann. So was muss man wissen, bevor man zugreift. Hätte ich mir die Stuttgarter ´Götterdämmerung´ gekauft, ohne das zu wissen, ich hätte mich ewig darüber geärgert. In dieser Richtung findet man zwar verhältnismäßig wenig, aber das ist immer noch viel zu viel: Fiese Klangfilter (auf einigen CDs des ersten Teils der Sibelius-Edition), ganze Takte, die beim Schneiden rausfallen (die erste Brahms-Sinfonie mit den Münchner Philharmonikern unter Günter Wand 1997), eine stimmlich nicht gut auslancierte Aufnahme (geschieht öfters), bei der man die Continuo-Stimmen kaum oder gar nicht hört (z. B die Cellokonzerte von Leonardo Leo bei Brilliant ;-), oder ein verschwommenes Klangbild. Letzteres ist noch am ehesten der ´Privatheit´ des Kritikers überlassen, oft genug aber ist das Urteil konsensfähig. Es gibt Aufnahmen aus russischen Archiven, die interpretatorisch erstklassig sind, bei denen aber das Material gelitten haben muss, weil einige so klingen (leiern, knacken, extrem lautes Rauschen)  wie aus den 50er Jahren und klanglich schlecht restauriert, stammen tun sie aber aus den 80ern (Temirkanov-Edition bei Brilliant oder Svetlanov-Aufnahmen bei Melodiya). Es gibt eine fantastische Aufnahme des b-Moll Klavierkonzerts von Tschaikowsky mit Gilels und dem Philadelphia Orchestra unter Ormandy, aber im dritten Satz, wenn es schon leicht gegen Ende zugeht, hustet jemand so unglaublich laut in das Gesangsthema hinein, dass man noch 20 Sekunden später irritiert davon ist. Ich kenne Leute, und zähle mich selbst dazu, denen so etwas die Laune verderben kann, gerade weil sie nicht damit gerechnet haben, weil sie zuvor nichts davon gelesen haben. Das muss man aber nicht länger auswalzen. Prinzipiell lautet das Stichwort Information: Ich möchte wissen, ob Ronald Brautigam das gesamte Klavierwerk von Joseph Haydn auf einem modernen Flügel oder auf dem Nachbau eines Hammerklaviers spielt, ob Leif Segerstam schon mal Sibelius dirigiert hat oder ob es seine erste Einspielung mit Sibelius-Sinfonien ist, ob Fartein Valen vielleicht ein atonal komponierender Komponist ist, weil es Leser gibt, die keine Atonalität mögen (ich gehöre nicht dazu), und dann wollen sie die Werke dieses Komponisten auch nicht kennen lernen, ob Norrington mit oder vielleicht ja ohne Vibrato spielen lässt, ob Pregardien den Schubert mit oder ohne Verzierungen singt, ob es sich bei der Aufnahme von Rattles Bartok mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra um eine Wiederveröffentlichung handelt, denn dann kann ich mir den Doppelt-Kauf sparen, oder nicht undsoweiterundsoweiter. Solche Dinge sind wichtig, selbst nur Stichwörter helfen da sehr viel. Kritiker sind Informanten, nicht nur, aber unbedingt. Es geht, wie man vielleicht merkt, hierbei um mehr als nur um ´Eindrücke´.

-Sicher ist es richtig, dass, wie du sagst eine Rezension für ´die´ Meinung steht. Ein Ausweg aus dieser Misere liegt darin, einfach eine zweite Meinung einzuholen. Ich fand es sehr interessant, wie auf klassik.com ein Rezensierender Paavo Järvis Interpretationen der Beethoven-Sinfonien Nr. 3 und 8 geradezu vernichtend kritisierte, und ein anderer Rezensierender den nächsten Teil dieser Interpretationen (4 & 7) in den Himmel bzw. auf ´die Insel´ lobte, mit direktem Bezug auf die erste Rezension übrigens. Ähnlich war es mit Nigels Kennedys jüngster Aufnahme des Beethoven-Violinkonzertes, die bei klassik.com in den Boden gestampft wurde, FonoForum lobte und Crescendo eben so noch abnickte. Wer sich die drei Kritiken ansieht, wird vermutlich die Ansicht teilen, die Rezi auf klassik.com sei die treffendste, und das ohne die CD gehört haben zu müssen. Was ich damit sagen will, ist, dass sich das von dir angesprochene Perspektivismusproblem so bis zu einem gewissen Grad von selbst löst. Nicht ohne Grund gibt es etwa auf Perlentaucher.de eine Rezensionen-Schau, die alle möglichen Meinungen zu Produkt X versammelt.

-Ich persönlich habe von einer Kritik nie erwartet, dass sie ´stellvertretend´ für das besprochene Werk bzw. die Interpretation des Werkes stehen soll – wie soll das auch bitte gehen? – und ich denke, die meisten Leser entsprechen deinem Konstruktivismuswunsch und erwarten es ebenso wenig. Alles andere wäre absurd. Natürlich sperrt sich das Kunstwerk gegenüber der Normalsprache. Im Falle der Musik ist es, da zumindest bei absoluter Musik Semantik und Syntax zusammenfallen, sogar noch schwieriger, da es sich bei Sprache und Musik – Vorsicht Allgemeinplatz – ja um zwei ganz unterschiedliche Zeichensysteme handelt. Sprache kann immer nur so tun, als würde sie die Musik adäquat erfassen. Bei der Lösung dieses Problems einer plumpen Inhaltsästhetik zu huldigen (Musik drückt Gefühle aus – diesem massentauglichen Irrtum sitzt anscheinend dein geschätzter Schlegel auf ;-) – ist tönende Biographie, spiegelt Geschichte wieder usw.), ist zwar schön bequem und passiert leider immer noch oft genug, ergibt meiner Ansicht nach aber kaum Sinn, weil es der Willkür des Betrachters alle Türen öffnet. Viel mehr Sinn ergibt da die Orientierung an einer an der Musik selbst geschulten Formästhetik. Die Herausforderung für den Kritiker liegt in Bezug auf das Werk darin, komplexe musikalische Sachverhalte, und nur musikalische Sachverhalte, einfach darzustellen, damit sie für den ungeschulten Leser nachvollziehbar werden. So etwas geht! Die Biographie oder das allgemeine geschichtliche Umfeld eines Komponisten können natürlich interessant sein, dürfen die Auseinandersetzung mit dem Werk selbst jedoch nie ersetzen. Das Referieren des bloßen musikgeschichtlichem Kontextes sollte nicht unterschätzt werden, denn einem weiteren Allgemeinplatz zufolge liegt die Individualität des Werkes in dem, was es alles, alles, alles eben gerade nicht ist. Bruckners Sinfonik ist so, weil sie nicht die von Mahler, Brahms oder Sibelius etc. ist. Wer das zu besprechende Werk wie ein Detektiv gattungsgeschichtlich einzugrenzen weiß, sei es nur andeutungsweise, der hilft zumindest mir beim Lesen sehr. Eine ´formelsprachliche Feuilletonistik´ nützt da, wie du zurecht monierst, wenig.  

- Dass Kritiker den ´Markt regulieren´, ist allerspätestens seit Geburt des Web 2.0 nicht mehr so oder nur noch in sehr geringem Maße. Jeder, wirklich jeder kann heute seinen qualifizierten oder unqualifizierten Senf nicht auf der Startseite von Magazinen wie klassik.com, aber dafür in Foren, virtuellen Fanzines oder wo auch immer loswerden. Die Zeiten in denen, berühmtes Beispiel, ein Eduard Hanslick Tschaikowskys Violinkonzert als ´stinkend´ bezeichnen durfte und damit auch noch massiven Einfluss auf das Musikleben ausübte, sind, für die Kritiker muss man sagen leider, definitiv vorbei. Die ´marktregulierenden Mechanismen´ liegen, wie man an den sogenannten Klassik-Charts sieht, noch am ehesten bei der Major-Label-Werbung und/oder vielleicht den PR-Agenturen. Das ist schade, aber kaum zu ändern. Man kann Lang-Lang oder wen auch immer noch so sehr verreißen, etwas nützen wird es kaum. Hinzu kommt: ´Weichen zu Verkaufserfolg´ werden von Rezensionen in Zeiten, in denen der Anteil der ´Klassik´ am Musikmarkt bei ungefähr 7-9 Prozent liegt, im Grunde nicht gestellt, und wenn dann in so geringem Maße, dass es kaum auffällt. Das klingt zwar pessimistisch, ist aber kein Grund, das Kritisieren sein zu lassen. Immerhin gibt es ab und zu Signale, wie zum Beispiel Leserbriefe, die zeigen: Die Kritik ist angekommen und hat irgendwie gewirkt. Wenn es sich dabei, wie du beklagst, ausschließlich um negative Rückmeldungen handelt, liegt das an zwei Dingen. Ersten versteht sich das Gute von selbst. Ein, sagen wir, Fan von Andreas Scholl, wird beim Lesen einer positiven Rezension sowohl dem Rezensenten als auch sich selbst anerkennend zunicken, aber in den seltensten Fällen einen Brief oder eine Mail schreiben, um den Rezensenten zu loben. Negatives aber stößt nun mal auf, besonders wenn es Künstler, Produzenten oder PR-Menschen lesen, die sich – es soll ja vorkommen – manchmal als ´einfache´ Leser tarnen, um ihrem Unmut ganz unbefangen Ausdruck zu verleihen (ist nur eine Vermutung). Es soll aber auch Fälle von geglückter Kommunikation geben, wenn man als Rezensent gelobt wird. Das kommt vor, nicht oft, aber es passiert. (Ich warte ja immer noch).

Genug kritisiert. Insgesamt hat mir dein Text; wie gesagt, sehr gut gefallen. Allen deinen anderen Punkten auf die ich nicht eingegangen bin, stimme ich dann wohl schweigend zu. Auch diesem: „Dieser Beitrag versteht sich nicht als irgendwie (end)gültig, sondern eher als Anregung, vielleicht gar rotes Tuch für mehr. Lustvolle [?], streitbare und kontroverse Antworten in Form von neuen Blogs...“.


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